Surrealer Dialog mit dem besten Automaten der Welt

Es ist eine etwas verrückte Geschichte. Nicht alltagstauglich, nicht realitätsfest, aber Sie werden feststellen, dass Sie, könnten Sie mit einem Geldautomaten wirklich ein ernsthaftes Gespräch führen, womöglich selbst realitätsferner sind als es ein sich mit Ihnen unterhaltender Geldautomat jemals sein könnte.

Trauen Sie sich. Fragen Sie den Geldautomaten im Foyer Ihrer Bankfiliale: „Hallo Automat. Sag mir, wieviel Geld ich habe.“
Es gibt darauf nur eine einzige Antwort, nämlich: „Weiß ich nicht. Woher auch?“

Es fällt Ihnen ein, dass dieser Automat nur den Kontostand Ihres bei dieser Bank unterhaltenen Girokontos kennen kann. Sie präzisieren Ihre Frage also:

„Hallo Automat. Sag mir, wie hoch das Guthaben auf meinem Konto ist.“

„Exakt 2.103, 97 Euro“

„Hallo, Automat. Zahl mir bitte 2.000 Euro aus und sage mir danach noch einmal, wieviel Geld ich habe.“

Die Scheine surren ins Ausgabefach, Sie entnehmen Ihre Karte, die Klappe öffnet sich, und der Automat sagt: Sie haben immer noch exakt soviel Geld, wie vorhin. Allerdings  weiß ich weiterhin nicht, wieviel das ist.“

Sie stecken das Geld ein, wenden sich schon zum Gehen, doch dann fällt Ihnen noch etwas ein.

„Hallo Automat. Ich brauche doch noch ein bisschen mehr Geld. Zahle mir bitte weitere 1.000 Euro aus.

Der Automat sagt leise, und nur zu sich selbst: „Oh! Oh, oh!“ Dann surren die Scheine ins Ausgabfach, Sie entnehmen erneut Ihre Karte, die Klappe öffnet sich, und während Sie die Scheine einstecken, unternehmen Sie noch einen Versuch.

„Hallo Automat. Wieviel Geld habe ich jetzt?“

„Kann ich weiterhin nicht sagen. Sicher ist nur, Sie haben immer noch genausoviel Geld, wie in dem Augenblick, als Sie dieses Foyer betreten haben.“

„Ich denke, ich habe jetzt exakt 896,03 Euro mehr als vorher“, entgegnen Sie. „Schließlich haben Sie mir exakt diesen Betrag mehr gegeben, als ich nach Ihrer eigenen Auskunft vorher hatte.“

„Sie können ja richtig gut Kopfrechnen“, meint der Automat, „eine solche Differenz lässt sich rechnerisch ermitteln, aber diese Differenz ist für ihr Geldvermögen ohne jeder Relevanz. Noch haben Sie genausoviel Geld wie vorher, keinen Knopf mehr, wenn Sie mir diese burschikose Ausdrucksweise verzeihen.“

„Das will mir nicht einleuchten“, erwidern Sie. „Ich hatte vorher kein Bargeld, ich unterhalte auch kein anderes Girokonto. Mein ganzes Geld lag auf diesem Konto, das waren 2,.103,97 Euro. Nun gut, dieses Konto ist jetzt leer – aber ich habe 3.000 Euro in bar in der Tasche. 896,03 Euro mehr als vorher.  Geld das ich sofort ausgeben kann. Ich habe diese Summe mehr, und Sie, Schlaumeier, Ihnen fehlt die jetzt ja wohl. Vielen Dank! Bis zum nächsten Mal.“

„Man kann nicht mehr ausgeben als man hat!“, ruft Ihnen der Automat warnend hinterher, doch das geht Ihnen links rein und rechts wieder raus. .

Dann schwebt ein dreiflügeliger Engel von der Decke des Foyers und singt mit glockenheller Stimme: „Ach, du lieber Augustin – alles ist hin.“
Sie wollen durch die vierflügelige Drehtür endlich hinaus, auf die Straße, doch als Sie halb durch sind, blockiert die Türe und aus dem Banklautsprecher ertönt die Ansage: „Sie hören nun die Sonate für Waldhorn und fünf Flügel aus dem unveröffentlichten Nachlass unseres viel zu früh von uns gegangenen Hauptaktionärs Otto Pinkepinkpinkerer.“

Während Sie sich immer kräftiger gegen die Drehtür stemmen, während in Ihren Ohren fünf Flügel verzweifelt versuchen mit rasenden diatonischen Glissandi das Waldhorn zu übertönen, fallen Sie aus dem Bett, stoßen sich den Kopf am Nachtkasten, und stellen ein paar verstörte Sekunden später fest: „Gottseidank. Nur ein Traum. Aber was für einer. Junge, Junge!“

Die Geschichte könnte nun hier enden, tut sie aber nicht.

Sie stellen fest: „In meinem Gehirn rotiert eine schwarze Wolke.“ Grelle Blitzen zucken. Ein Gedanke, von dem Sie genau wissen, dass Sie ihn schon fast gefasst hatten, löst sich im Donnergrollen wieder auf. Sie wissen, genau darauf kommt es an. Aber er entgleitet Ihnen.

„Wieso soll man nicht mehr ausgeben können, als man hat?  Geht doch, oder?“

Mitten im Gedanken schlafen Sie wieder ein. Wieder stehen Sie vor dem Geldautomaten. „Hallo Automat. Ich habe noch eine Frage“, sagen Sie. „Warum? Sag mir, warum.“

Der Automat rattert ein bisschen. Es klingt wie ein Papierstau. Dann fragt er zurück: „Welches Warum? Warum Sie nicht mehr Geld haben, oder warum Sie nicht mehr ausgeben können als Sie haben?“

„Beides“, antworten Sie, „ich meine beides.“

Der dreiflügelige Engel erscheint wieder und trägt ein Plakat vor der Brust, auf dem in kyrillischen Buchstaben geschrieben steht: „Erster Akt!“

Es wirbelt Sie durch die wegfliegende Decke des Foyers ins Freie, immer höher. Sie landen weich auf einer Wolke. Neben Ihnen sitzt Gott und spricht Sie an: „Schau hinunter, Menschenkind.“

Sie sehen einen großen Ofen und zehn Männer, die zehn frisch gebackene Brote aus dem Ofen ziehen. In jedem Brot steckt ein Preisschild, auf dem in römischen Zahlen geschrieben steht: X Euro. Der Spielautomat neben dem Ofen blinkt, klingelt und rappelt. In seinem Fenster steht  drei Mal die 7.  Dann fallen die Münzen heraus. 10 mal 7 Euro. Der Bäckermeister tönt aus dem Hintergrund: „Euer Lohn, Leute. 70 Euro. Teilt es euch gut ein.“

„Das geht doch gar nicht“, sagen Sie zu Gott, der neben Ihnen auf der Wolke sitzt. „Doch das geht“, meint Gott und ruft: „Engel!“
Der Engel huscht wieder vorbei. „Zweiter Akt“

„Schau runter, Menschenkind, es geht weiter“, raunzt Gott in seiner unnachahmlichen Art.

Sie sehen einen großen Ofen, schon etwas älter und schmutzig, und zehn alte klapprige Männer, die zehn frisch gebackene Brote aus dem Ofen ziehen. In jedem Brot steckt ein Preisschild, auf dem in römischen Zahlen geschrieben steht: VII Euro. Der Spielautomat neben dem Ofen blinkt, klingelt und rappelt. In seinem Fenster steht  drei Mal die 4.  Dann fallen die Münzen heraus. 10 mal 4 Euro. Der Bäckermeister tönt aus dem Hintergrund: „Euer Lohn, Leute. 40 Euro. Teilt es euch gut ein.“

Sie schauen fragend Gott an, doch der raunzt nur: „Nicht wegschauen. Es geht ja noch weiter.“

Tatsächlich sehen Sie nun, wie die zehn wohlgenährten kräftigen Männer, jeder mit 7 Euro in der Tasche in die andere Bäckerei stürmen und sich jeder für sein Geld eines der Brote kauft, die dort angeboten werden. „Leistung lohnt sich!“, sagen sie als sie ihre Brote nach Hause tragen. „Wir werden auch heute wieder satt.“

„Engel!“, schreit der liebe Gott, „wo bleibtst du denn?“

„Ich kann es nicht mehr mit ansehen, Kyrie Eleison“, singt der Engel und schwenkt das Schild „Dritter Akt“.

Sie wissen inzwischen, dass Sie einfach weiter hinunterschauen müssen, in den Abgrund unter der Wolke.

Sie sehen einen rußgeschwärzten Raum mit einem großen kaputten Ofen, uralt, aus Lehm gebrannt, die Hitze ist unerträglich. Zehn Kinder,  fast nackt und schweißnass, verbrennen sich die Finger, während sie zehn frisch gebackene Brote aus dem Ofen ziehen. In jedem Brot steckt ein Preisschild, auf dem in römischen Zahlen geschrieben steht: IV Euro. Der Spielautomat neben dem Ofen blinkt, klingelt und rappelt. In seinem Fenster steht  drei Mal die 1.  Dann fallen die Münzen heraus. 10 mal 1 Euro. Der Bäckermeister tönt aus dem Hintergrund: „Euer Lohn, Leute. 10 Euro. Teilt es euch gut ein.“

Sie ahnen schon was kommt. Die klapprigen alten Männer vom zweiten Ofen stehen in der Bäckerei mit dem dritten Ofen an. Jeder legt 4 Euro auf den Tresen, und dann ziehen sie mit 10 Broten nachhause. „Leistung lohnt sich“, sagen sie zu ihren alten Frauen, „und solange ich noch kann, werde ich arbeiten, damit wir uns ein Brot kaufen können.“

Wieder schauen Sie fragend zu Gott auf, der nach wie vor neben Ihnen auf der Wolke sitzt.

„Wo bleibt der Engel, wo bleibt der vierte Akt?“, fragen Sie den Schöpfer des Himmels und der Erden.

„Der vierte Akt ist unvollendet“, raunzt Gott. „Es wäre wirtschaftliche Unvernunft, Brot für einen Euro das Stück zu verkaufen. Ja, wenn man die Arbeiter dazu bringen könnte, dass sie dafür zahlen würden, dass sie arbeiten dürfen, zwei Euro jeder, jeden Tag, dann schon. Aber woher sollen sie die zwei Euro nehmen? Niemand kann mehr ausgeben als er hat.“

„Darf ich den Unvollendeten dennoch sehen?“

„Engel“, gähnt Gott gelangweilt, „das Menschenkind will alles wissen.

„Oh nein! Nein!“, kreischt der Engel. Kann diesmal nicht der Beelzebub das Nummerngirl spielen?“

Aber Gott lässt auch diesmal nicht mit sich reden.

So fliegt der Engel traurig, und nur zwei seiner drei Flügel bewegend, mit dem Schild „Vierter Akt“ durch Zeit und Raum.

„Hinschauen!“, blafft Gott, und Sie schauen hin und sehen die zehn Kinder, die ihren Euro nachhause tragen, sich todmüde und ausgezehrt auf den Lehmboden legen und sterben, während zugleich zehn neue Kinder, schon fix und fertig arbeitsfähig aus den Schößen der immergleichen, unsterblichen Mütter kriechen und flugs jenem rußgeschwärzten Raum mit dem großen, uralten, kaputten Ofen zustreben und in unerträglicher Hitze damit beginnen, einen neuen Teig für das neue Brot am neuen Tag anzurühren.“

Danach fallen Sie durch die Wolke, die vom festen in den gasförmigen Zustand übergegangen ist, zurück in Richtung Erde, wobei das Gelächter Gottes gottseidank mit zunehmender Entfernung immer leiser wird.

„Hallo Automat, schön dich wiederzusehen“, sagen Sie. Der Automat aber bleibt stumm, weil der die Frage nicht erkennen kann.

Nach einer kurzen Weile des Nachdenkens sagt der Automat dann: „Ich denke, ich klappe jetzt mal das Dach hoch, es ist gleich soweit.“

Eine Woge eisiger Kälte fällt durch das offene Dach ins Foyer der Bankfiliale. Von Ferne ertönt ein Jagdhorn. Auf einmal wird es stockfinster. Sie schauen nach oben und sehen durchs offene Dach eine ganze Wolke von schwarzen Raben, jeder mit einem Euro im Schnabel. Und dann fällt Geld vom Himmel. Nur im Foyer kommt nichts an. Sie können nicht sehen, wo es hinfällt.

Der Automat summt leise mit, als im Hintergrund der Chor der Bankdirektoren sein Lied anstimmt: „Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke.  Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke. Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.“

„Hallo Automat! Was war denn das“, fragen Sie, nachdem der Spuk vorüber ist und das Dach wieder da ist, wo es hingehört.

„Das ist der Urzins, das ist der Urzins, laa lalalalala laaa“, singt der Automat auf die Melodie von La Cucaracha.

„Hallo Automat“, fangen Sie wieder an zu fragen, „das waren doch mindestens zehntausend Raben, mindestens zehntausend Euro, aber bei den zehn Ärmsten sind doch nur zehn Euro angekommen. Wie kommt das?“

„Das ist relativ einfach zu beantworten, wenn Sie wissen, was eine Allegorie ist. Gott hat Ihnen ein allegorisches Bild gezeigt. Das ist die Wahrheit, aber eben zusammengekürzt auf den kleinsten gemeinsamen Zähler. Sie müssen das multiplizieren. Nehmen Sie als Faktor rund zwei Drittel der Menschheit, so mache ich das auch. Dann nähern Sie sich der richtigen Größenordnung. Im übrigen gehe ich jetzt schlafen. Sie sollten jetzt allerdings endlich aufwachen. Die Arbeit ruft. Alle Menschen werden Brüder – oder werden sie Bäcker? Bäcker fangen nachts um drei an. Raus aus den Federn!“

Sie öffnen schlaftrunken die Augen. Kurz darauf machen Sie sich auf den Weg. Im Schaufenster der Bäckerei, in der Sie arbeiten, liegen viele Brote. Das Stück für 13 Euro.

„Leistung lohnt sich halt“, sagen Sie sich. Dann stürzen Sie sich  in die Arbeit. Wer bekommt schon noch 10 Euro Lohn pro gebackenem Brot? Da kannste lange ’nach suchen.

 

Ihr Sohn, der fünf Stunden später in der Schule über einem Aufsatz brütet, mit dem Thema: „Anfang und Ende der Nahrungskette“, beginnt mit einem Abschnitt, der mit „Einleitung“ überschrieben werden muss, und schreibt darin, dass die Nahrungskette so ist, wie sie ist, weil es nicht anders sein kann, weshalb alles gut und richtig ist, und deswegen niemand schuld sein kann,  außer Gott vielleicht. In dem Abschnitt, der mit „Hauptteil“ überschrieben werden muss, arbeitet er sich von den Mikroorganismen im Boden, über Gras und andere Futterpflanzen hoch, bis zu Schwein und Rind und endet schließlich unweigerlich bei den Primaten. „Es ist alles Instinkt“, beginnt er den Absatz, über den er pflichtgemäß „Schluss“ geschrieben hat, und führt dann aus: „Nur der Mensch, das vernunftbegabte Wesen, steht außerhalb der Nahrungskette, er steht in einer „Lieferkette“ denn er kann sich alles, was er braucht, selber machen. Er kann sogar sein Brot selber backen – das weiß ich, weil mein Vater Bäcker ist.“