Muss Julian Assange, von der US-Justiz verfolgt, im Gefängnis sitzen, um eine gutmenschliche Begründung für das Hinweisgeberschutzgesetz und die in seinem Schatten aufblühenden Meldestellen abliefern zu können?
Ist Julian Assange auf der Staatsgeheimnis-Seite quasi der Ersatz für die Kinderpornografie, in der die immer weiter ausufernden Überwachungs- und Schnüffelaktivitäten der Behörden auf der Privatgeheimnis-Seite ihre Rechtfertigung finden sollen?
Die Provokation liegt nicht in den Fragen.
Es ist das Offenkundige, das provoziert.
Das deutsche Hinweisgeberschutzgesetz ist die Umsetzung so genannen „Europäischen Rechts“ in deutsches Recht. Es handelt sich dabei um die Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019. Die EU setzt sich damit dafür ein, dass Hinweisgeber geschützt werden, die Verstöße gegen EU-Recht melden.
Selbstverständlich muss die EU in dieser Richtlinie ein Rechtsgut sehen, das nur als weltweit vorbildlich gelten kann, denn sonst hätte die EU sich ein Vorbild an noch vorbildlicheren Regeln und Gesetzen zum Umgang mit Whistleblowern nehmen müssen, wollte sie nicht den Vorwurf in Kauf nehmen, sie hätte nur ein halbherziges, Hintertürchen offen lassendes Regelwerk geschaffen, um ggfs. notwendige Willkürakte dennoch im Schutz geeigneter Paragraphen vollziehen zu können.
Nein. Die EU ist von edler Gesinnung, will nur das Beste für die Hinweisgeber, und würde niemals zulassen, …
Demzufolge hätte es in der Kommission, die über dem Ausbrüten immer neuer Regelwerke nur selten dazu kommt, die Entwicklungen außerhalb der Brüsseler Amtsstuben zu verfolgen, eigentlich einen Jubelschrei geben müssen, als ihr aus der Mitte des EU-Parlaments die folgenden Hinweise gegeben wurden:
A. dass es in Europa derzeit zahlreiche Verstöße gegen die Pressefreiheit gibt;
B. dass die Vereinigten Staaten Julian Assange wegen seiner Rolle als Whistleblower verfolgen,
C. dass der britische Innenminister der Auslieferung von Julian Assange an die Vereinigten Staaten jederzeit zustimmen kann;
D. dass die Europäische Union auf dem Gebiet der Verteidigung der Informationsfreiheit durch das „Messen mit zweierlei Maß“ an Glaubwürdigkeit einbüßt;
E. dass Drittländer mit Bestürzung auf die Haltung Europas im Fall Julian Assange blicken, zumal die Europäische Union stets darauf bedacht ist, sich als „Weltgewissen für den Schutz der Menschenrechte“ in Szene zu setzen;
F. dass die von Julian Assange und Wikileaks offengelegten Informationen von entscheidender Bedeutung sind, um das Verhalten der US-Armee im Irak und in Afghanistan zu begreifen;
G. dass die Vereinigten Staaten Druck ausüben, wenn es darum geht, einen Whistleblower auszuliefern.
Natürlich hat die EU sich dem Schutz dieser Hinweisgeber verpflichtet gefühlt, aber eben nicht deren leicht umsetzbarer Forderung, Julian Assange in den Mitgliedsländern der EU politisches Asyl zu gewähren.
Den Entschließungsantrag vom 31. Mai 2022, gezeichnet von Thierry Mariani, Nicolas Bay, Aurélia Beigneux, Annika Bruna, Gilbert Collard, Clare Daly, France Jamet, Herve Juvin, Virginie Joron, Maximilian Krah, Jean‑Lin Lacapelle, Joëlle Mélin, Sabrina Pignedoli, Maxette Pirbakas, Jérôme Rivière, Milan Uhrík, Tom Vandendriessche und Mick Wallace habe ich hier verlinkt.
Davon, dass Julian Assange in der EU daraufhin Asyl gewährt worden wäre, habe ich nichts bemerkt – und Assange selbst wohl auch nicht. Am Mitunterzeichner Maximilian Krah (Deutschland, AfD) mag das hoffentlich nicht gelegen haben.
Bei Peter Haisenko findet sich auf der Startseite von Anderwelt Online seit ein paar Wochen dieses – inzwischen schon wieder vier Jahre alte – Statement des Whistleblowers:
So sieht’s aus.
Und das sieht nicht gut aus.
Natürlich kann man sich auf den Standpunkt zurückziehen, Assange habe keinen Hinweis auf etwas gegeben, was gegen EU-Recht verstößt. Wenn dem so gewesen wäre, hätte er selbstverständlich jeden erdenklichen Schutz genossen. Assange habe stattdessen – nicht etwa, wie er vielleicht selbst meint, Hinweise gegeben, sondern – sich des Verrats von Staatsgeheimnissen schuldig gemacht. Sowohl die Staatsgeheimnisse als auch der Verräter unterstünden daher vollumfänglich der Justiz der Vereinigten Staaten von Amerika, wo man selbstverständlich das Recht hat, den Sachverhalt anders zu sehen und einzuordnen als der Täter, der sich der Justiz durch Flucht – was einem Schuldeingeständnis gleichkommt – entzogen hat und immer noch entzieht.
Da öffentlich nicht bekannt ist, ob – und falls ja, mit welchen Sanktionen die USA für den Fall gedroht haben (ich unterstelle dass es solche Drohungen gegeben hat) dass Assange in einem der Mitgliedsstaaten Asyl gewährt wird, kann es durchaus sein, dass nach dem Motto: „Opfere einen, rette Millionen!“, gehandelt wurde, um Schaden von den Völkern der EU abzuwenden.
Doch genau damit ist das hehre Prinzip des Schutzes von Hinweisgebern, das sich die EU auf die Fahnen geschrieben hat, im Grunde bereits rettungslos zerstört.
Übrig geblieben ist lediglich die Schattenseite der Regelung, nämlich die mit diesem Gesetz ebenfalls (es geht gar nicht anders, wer solche Gesetze macht, nimmt auch die Schattenseite mit ins Boot) geförderte, straffreie Denunziation.
Wer sich die großen Lehrer der Staats- und Regierungskunst zu Gemüte zieht, angefangen beim messerscharf argumentierenden Machiavelli, weiß allerdings, dass „Schutzgesetze“ stets durchlöchert und gebrochen werden, wenn die Staatsräson das erfordert, und hätte wissen müssen, dass auch die EU Richtlinie 2019/1937 und das daraus abgeleitete deutsche HinSchG eher früher als später von diesem Schicksal ereilt werden wird. Die Ableitung, dass damit die Dominanz der Schattenseite bewusst in Kauf genommen wurde, gewinnt damit durchaus ihre Berechtigung.
Bestätigt wird dieses Inkaufnehmen auch dadurch, dass neben den im HinSchG vorgesehenen Meldewegen und Meldestellen, die sich ja durchaus noch auf dem Boden von Recht und Gesetz bewegen sollen, immer mehr „Meldestellen“ geschaffen werden, die sich vom festen Grund der Rechtsstaatlichkeit über fragile Hängeleitern und wackelige Hintertreppen immer weiter entfernen, um über den Weg nicht nur straffrei bleibender, sondern sogar öffentlich geförderter Denunziation im Graubereich der Meinungsfreiheit nach Verdächtigen zu fahnden, deren „Auffälligkeiten“ zwar keineswegs von strafrechtlicher Relevanz sein müssen, die „auszuheben“ aber dennoch von großem Interesse zu sein scheint. Einerseits, um die Denunzierten, ob nun mit erfundenen oder belegbaren Anschuldigungen ins Licht der staatlichen Gesinnungsschnüffelei gerückt, vorsorglicher Beobachtung zuteil werden zu lassen, andererseits aber auch, um den Ängstlicheren unter den Kritischeren Grund und Anlass zur Sorge zu geben, sollten sie ihre selbst gebildetet Meinung jemals mündlich oder schriftlich oder mittels künstlerischem Wirken aus dem eigenen Gehirn entlassen.
Über das jüngste Beispiel ist aus dem von Herrn Wegner („Das Ziel muss sein, dass Berlin Tag für Tag ein bisschen besser funktioniert“), CDU, regierten Bundeshauptstadtland Berlin zu berichten.
Im Detail können Sie das bei Apollo News nachlesen. Ich zitiere hier nur die wichtigsten Aussagen daraus.
Die Grünen-Fraktion im Berliner Senat fordert die Einrichtung einer „Berliner Meldestelle für digitale Gewalt“.
Damit soll es ermöglicht werden, „Hasskommentare mit rassistischen, sexistischen, extremistischen Inhalten oder persönlichen Drohungen, Beleidigungen oder anderen Formen der Belästigung“ niedrigschwellig und optional auch anonym zu melden. Ziel soll neben der Verfolgung von Straftaten die Abschreckung der Täter sein.
Die Auswertung der Meldungen soll der Senatsverwaltung obliegen, es werden also Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, nicht jedoch der Berliner Justiz, tätig werden, um die Löschung angezeigter Beiträge (Denunziation wird hier offenbar mit „Anzeige“ gleichgesetzt) zu veranlassen und Möglichkeiten der Beweissicherung bei den Plattformbetreibern wahrzunehmen, „sodass unabhängig von einer etwaigen strafrechtlichen Relevanz das Verbreiten von Hate Speech im digitalen Raum unterbunden wird.“
Ob tatsächlich Anzeige erstattet und ein Gericht darüber zu entscheiden haben wird, ob im Einzelfall Strafbarkeit vorliegt oder nicht, liegt im Ermessen der (juristisch nicht wirklich kundigen) Mitarbeiter der Senatsverwaltung und selbstverständlich deren nicht zwingend vor Neutralität strotzenden Vorgesetzten.
Dieses Instrument, sollte es tatsächlich geschaffen werden, ist das perfekte, jedem Missbrauch offen stehende Mittel, um unerwünschte Kritik schnellstmöglich mundtot zu machen.
Fall 1
Sollte die gewünschte Denunziation nicht zufällig in den Mail-Accont der Meldestelle gelangen: Was hindert ein Mitglied einer beliebigen Partei daran, selbst anonym eine Meldung abzugeben, mit der – im Zweifelsfall – ein echter Whistleblower, der es gewagt hat, eine unangenehme Wahrheit im Internet zu offenbaren, mittels der weisungsgebundenen Mitarbeiter der Meldestelle pfeilschnell „abgeschossen“ werden kann? Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gibt diese Möglichkeit her, denn wer einem Löschbegehren nicht innerhalb kürzester Frist nachkommt, riskiert horrende Strafen, während diejenigen, die die Löschung beantragt haben, in der Regel nichts zu befürchten haben.
Gegen solchen Missbrauch ist, soweit ich das heute beurteilen kann, nicht die geringste Sicherheit eingebaut. Außer der vielleicht, dass der Betroffene sich selbst auf den kostspieligen und langwierigen Rechtsweg begeben muss, um nach Monaten oder Jahren, wenn die Causa, um die es ihm ging, längst auf irgendeine Weise aus der Welt geschafft wurde, vielleicht Recht zu bekommen und seinen veralteten und damit irrelevant gewordenen Post wieder veröffentlichen zu dürfen. Die Frage, ob es sich bei der Eröffnung einer solchen Möglichkeit um Inkompetenz oder Absicht handelt, muss offen bleiben.
Fall 2
Die Behandlung von Meldungen durch „untaugliches“ Personal erleichtert es, Meldungen die sich gegen die Vertreter eigener Interessen wenden, die mit Falschmeldungen, Hass und Hetze die offiziellen Narrative stützen, ganz grundsätzlich nicht weiter zu verfolgen, selbst dann nicht, wenn die strafrechtliche Relevanz unübersehbar ist, denn die zuständigen Stellen der Justiz bekommen diese Meldungen nie zu Gesicht, wenn es die Meldestelle der Senatsverwaltung nicht will.
Ich schließe diese Betrachtung mit einer Frage, die viel blöder klingt als sie ist:
Wie würde Erich Mielke diese Maßnahme zur Demokratieförderung beurteilen, und welche offizielle Bezeichnung würde er dafür vorschlagen?
Berliner HirnSchssG?
Nein, so hätte Mielke das sicher nicht nennen wollen. Eine solche Benamsung hätte ich eher Gerhart Baum, während seiner Zeit als Bundesinnenminister oder Hildegard Hamm-Brücher (beide übrigens FDP) zugetraut.