Ist es nicht etwas affig, immer noch Atomstrom zu produzieren?

Als ich Robert Habeck gehört und gesehen habe, wie er begründete, warum die letzten drei am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke an Silvester 2022 abgeschaltet werden, zwei davon jedoch für den unwahrscheinlichen Fall einer Strommangelsituation wieder hochgefahren werden sollen, sind mir Herr Grupp und sein Schimpanse eingefallen.

Wie entsteht eine Strommangel-Situation?

Es gibt zwei typische Szenarien. Das erste  wird durch einen massiven Fehler im Netz ausgelöst. Dazu sollte man sich zunächst einmal darüber klar werden, dass sämtliche Kraftwerke, einschließlich aller Windmühlen, Solarzellen und Biogasanlagen, die von Portugal bis Polen, von Kopenhagen bis Athen und Ankara Strom produzieren diesen in ein einziges Netz – das europäische Verbundnetz – einspeisen, an dem wiederum sämtliche Stromverbraucher hängen und dort ihren Strom abzapfen.

Weil das Netz kein Speicher ist, kommt es in jeder Sekunde darauf an, dass die eingespeiste Strommenge der abgenommenen Strommenge entspricht. Wird mehr Strom angefordert als eingespeist wird, drehen die Generatoren langsamer und die Netzfrequenz, die stabil bei 50 Hertz liegen sollte, sinkt. Man kann das vergleichen mit einem Automobil, das bei höherer Last, also zum Beispiel an einer Steigung, langsamer wird. Beim Auto kann man das durch Gasgeben in einem gewissen Umfang kompensieren, beim Stromnetz hat man ein ähnliches Prinzip: Sobald die Frequenz unter 49,990 Hertz sinkt, wird so genannte „Regelenergie“ angefordert, die zum Beispiel aus großen Batteriespeichern kommt und verzögerungsfrei in dem Maße eingespeist wird, das erforderlich ist, um die Frequenz wieder zu stabilisieren, vor allem aber um ein weiteres Absinken der Frequenz unter 49,800 Hertz zu verhindern. Dafür stehen bis zu 3 Gigawatt verzögerungsfrei zur Verfügung.

Gelingt dies nicht, setzt ein abgestuftes, automatisches Notfall-Management zur Rettung des Netzbetriebs ein. Bei 49,2 Hertz werden alle Speicherpumpen abgeschaltet, bei 49,0 Hertz wird ein Achtel aller Verbraucher abgeschaltet (Lastabwurf Stufe 1), weitere Lastabwürfe erfolgen bei 48,8 Hz, 48,6 Hz und 48,4 Hz. Dann sind 50 Prozent der Verbraucher ohne Strom. Bei 47,5 Hz werden die Kraftwerke vom Netz getrennt. Es herrscht „Blackout“.

Diese Kette kann bei einer massiven Störung im Netz innerhalb sehr kurzer Zeit durchlaufen werden, wobei die großen Schwungmassen der Turbinen und Generatoren der konventionellen Kraftwerke und der Kernkraftwerke das Absinken der Netzfrequenz verzögern. Der Abbau solcher Kraftwerkskapazitäten zu Gunsten der so genannten „Erneuerbaren“ hat diese in der Schwungmasse verfügbare Energiereserve bereits reduziert, was wiederum die Reaktionszeiten verkürzt.

Der bevorstehende Winter ist von zwei Besonderheiten geprägt.

  1. In Frankreich, wo ganz überwiegend mit Strom geheizt wird, steht die Hälfte der Kernkraftwerke still. Schon jetzt reicht die französische Kraftwerkskapazität nicht aus, um den eigenen Bedarf zu befriedigen. Frankreich zieht daher mehr Strom aus dem Verbundnezt als es einspeist. Dies wird sich mit abnehmenden Temperaturen noch verstärken.
  2. Zur Kompensation von absehbar eintretendem Strommangel sollten schnell hochfahrbare Gaskraftwerke zur Verfügung stehen. Da momentan -und wohl auf absehbare Zeit – kein russisches Erdgas zur Verfügung steht, wird es schwierig sein, dafür ausreichend Brennstoff zur Verfügung zu stellen. Die Gasspeicher geben das nicht her. Die Gasspeicher enthalten bei 100% Füllung nur etwa 15% des Gasbedarfes und sollen nur den im Winter entstehenden Mehrbedarf abdecken, sind aber bei Weitem nicht dafür ausgelegt, den Gesamtbedarf zu decken.

Es sind diese Besonderheiten, die dazu führen, dass die Stromversorgung Deutschlands schon jetzt „auf Kante genäht“ ist und die Netzfrequenz von 50 Hz kaum noch gehalten werden kann. Während ich dies schreibe, gegen 10.05 Uhr MEZ, pendelt die Frequenz um 49,950 Hz, siehe auch diesen aktuellen Screenshot von https://www.netzfrequenzmessung.de

Der Ausfall eines größeren Kraftwerks, die Beschädigung einer Hochvolttrasse, der Brand eines Transformators in einem großen Umspannwerk sind in dieser Situation bedrohliche Ereignisse, die zu Lastabwürfen führen können.

Ein in Reserve befindliches Atomkraftwerk kann hier nicht helfend einspringen, denn das Hochfahren eines Atomkraftwerkes ist keine Sache von Sekunden oder Minuten, das kann mehrere Tage dauern, und dann ist alles zu spät. Es ist absolut nicht nachvollziehbar, warum diese Leistung in Erwartung eines problematischen Winters nicht einfach am Netz gehalten wird, sondern ganz bewusst das Risiko des Eintretens  einer Notlage durch die Abschaltung noch erhöht wird.

Das zweite Szenario ist vermeintlich einfacher zu beherrschen, weil es sich aus den vorhersehbaren nachgefragten und erzeugbaren Strommengen entwickelt. Hier kann schlicht und einfach die Summe der möglichen Stromproduktion der Summe der erwarteten Stromnachfrage gegenübergestellt werden. Die Stromproduktion hängt dabei nicht mehr nur von den einsatzbereiten Kraftwerken ab, sondern ist in hohem Maße bereits vom Wetter abhängig. Die Disponenten der Netzbetreiber müssen sich also vor allem an den Vorhersagen der Meteorologen orientieren, um die aus Windkraft- und Solaranlagen zu erwartende Strommenge für einen oder zwei Tage im Voraus abschätzen zu können. Gleiches gilt im Winter für den Strombedarf, der mit sinkenden Temperaturen zunimmt. Hier können Kohlekraftwerke vorsorglich aus der Reserve geholt und für kurzfristig auftretenden Spitzenbedarf die Gaskraftwerke aktiviert werden. Jedenfalls dann, wenn genug Erdgas in Deutschland ankommt. Dies ist allerdings in diesem Winter nicht mehr zu erwarten.

Da ist sie wieder, die „Trigema-Frage“ des Schimpansen:

Ist es nicht etwas affig, immer noch Atomstrom zu produzieren?“

und statt Herrn Grupp gebe ich die Antwort:

Nein, ganz und gar nicht.

Die Atomkraftwerke sind einsatzbereit, und die Menschen, die dort arbeiten,
leisten einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der  Stromversorgung für uns alle.
Für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke
müssen nicht die Gasspeicher geplündert werden,
was dazu führen würde, dass die Hälfte der deutschen Wohnungen im Winter kalt bleiben,
und es muss nicht teures LNG-Gas
um die halbe Welt geschippert werden.

Was habe ich gerade gesagt?

Darauf antwortet dann der lernfähige Schimpanse:

Hundert Prozent korrekt,
hundert Prozent richtig gedacht.

Nachtrag vom 7. September 2022

Dass man ein abgeschaltetes Kernkraftwerk nicht bei Bedarf schnell hochfahren kann, sondern dass dafür Tage eingeplant werden müssen, wusste ich.

Nun gibt es eine Information, die den offensichtlich mit der Energiewirtschaft überhaupt nicht abgestimmten Plan, zwei AKWs in die Reserve zu schicken, als totale Luftnummer entlarvt.

Der Chef von Preussen Elektra und Betreiber des AKW Isar 2, Guido Knott, hat dem Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Patrick Graichen, schriftlich mitgeteilt, dass der Vorschlag des Ministeriums, zwei der drei laufenden Anlagen zum Jahreswechsel in die Kaltreserve zu schicken, um sie bei Bedarf hochzufahren, technisch nicht machbar sei und daher ungeeignet, um den Versorgungsbeitrag der Anlagen abzusichern.“

Das ist mehr als nur eine Ohrfeige, das ist ein Blattschuss, der Habeck in einen lebenden Leichnam verwandelt.