Interessante rechts:links Hypothese

Ein Leser, mit dem ich seit einiger Zeit einen lockeren Austausch pflege, teilte mir gestern folgenden Gedanken mit:

Übrigens habe ich meinen geistigen Knoten bezüglich der Einordnung der AfD zerschlagen können. 

Ausgehend von der These, dass Links für „kollektivistischen Zwang“ steht  und das Gegenteil “ individuelle Freiheit“ ist, bin ich bisher immer zum Schluss gekommen, dass die AfD eindeutig rechts wäre. Das stimmt aber auch nicht, weil der Nationalsozialismus als rechts klassifiziert wird. Und den Nationalismus als links umzuetikettieren, was bisher mein Ansatz war,  führt zu keinem wirklich befriedigenden Ergebnis.

Die Lösung des Dilemmas ist ganz einfach:

Rechts und links sind Kategorien, die nur auf den Sozialismus angewendet werden können.

Es gibt einen linken Sozialismus und einen rechten Sozialismus. Diese stehen sich als Widersacher gegenüber, was Nation, Rasse, usw. betrifft. Sind aber in ihrer antidemokratischen, antifreiheitlichen, prokollektivistischen Zielrichtung vereint.

Alle freiheitsorientierten Kräfte entziehen sich der Kategorie rechts/links.

Sie stehen faktisch ausserhalb der Fassadendemokratie. 

Was halten Sie von diesem Gedanken? Lohnt es sich für Sie, ihn weiter auszugestalten? Würde mich freuen.

Meine erste Reaktion, die ich in meiner Antwort auf diese Mail geäußert habe, sah so aus:

Ihren Gedanken zu rechts/links finde ich erfrischend. Ob er sich noch vertiefen lässt, ohne dabei Schaden zu nehmen, weiß ich nicht. Sachverhalte, die einmal auf den Punkt gebracht und damit anschaulich geworden sind, verlieren schnell an Prägnanz wenn man sich damit in Niederungen des Details begibt. Was mir noch fehlt, ist die Bezeichnung für „alle anderen“ im System der subjektiven Koordinaten. Vorne, hinten, oben und unten wären noch verfügbar. Wozu tendieren Sie?

Aber damit konnte ich mich letztendlich doch selbst nicht zufrieden geben. Am „eingeübten“ Rechts-Links-Schema zu rütteln, hat schon einen gewissen Reiz, und wenn es dazu einen – zumindest für mich  – neuen Denkansatz gibt, warum den nicht weiterspinnen, bzw. zuerst einmal auf Plausibilität überprüfen?

Hier ist zunächst einmal festzustellen, dass gerade die Kampagnen gegen rechts in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass sehr viele Menschen, die sich von ihren Einstellungen und Absichten her niemals selbst als rechts bezeichnet hätten, plötzlich wie die Kälber mit zwei Köpfen dastanden und von der Herde als krasse, rechte Außenseiter behandelt wurden.

Dies ist zumindest ein Indiz dafür, dass es neben rechts und links noch etwas geben muss, und kaum ist dieser Gedanke gedacht, taucht die Erinnerung daran auf, dass es früher einmal so etwas wie eine Mitte gegeben hat. Eine Mitte, die von den Wahlkämpfern aller Parteien als die Goldgrube angesehen wird, aus der heraus man die Wählerstimmen ins eigene Lager ziehen kann. Es ist ein schrecklicher Gedanke, aber schlüssig: Mit der Entdeckung der Mitte als Wählerstimmen-Pool, ist die Mitte ebenso verschwunden, wie die Moore verschwanden, als man begonnen hat, einerseits Torf zu stechen und sie andererseits trockenzulegen. Etwas, was alle haben und an sich reißen wollen, ist irgendwann nicht mehr aufzufinden – jedenfalls nicht mehr dort, wo es sich einst befunden hat.

Damit rückt die Idee vom „kleineren Übel“ an die Bewusstseinsoberfläche. Die umworbene Mitte, die eigentlich gerne in der Mitte bleiben und mittige Parteien wählen würde, damit wieder mittige Politik gemacht werden kann, findet diese Parteien nicht mehr. Nur noch die Namen, die Fassaden stehen, aber der innewohnende Geist ist abhanden gekommen. Also wählt man, wenn das, was man sich wünscht, im Angebot nicht mehr enthalten ist, eben das, was zwar für falsch gehalten wird, aber eben doch noch weniger falsch, als das andere Angebot auf dem Markt der Stimmenfänger. Da gibt es viele mögliche Konstellationen:

  • lieber  Grün, weil da wenigstens noch etwas für den Umweltschutz getan wird,
  • lieber die LINKE, weil die wenigstens noch gegen Kriege eintreten,
  • lieber die SPD, weil die unter den Linken noch die Gemäßigsten sind,
  • lieber  die Union, weil es da ja immer noch die Werte-Union gibt,
  • lieber  die FDP, weil ja niemand sonst mehr für die Bürgerrechte eintritt,
  • lieber die AfD, weil die wenigstens noch für die Interessen der Deutschen eintreten,
  • lieber wähle ich gar nicht, dann bin ich an dem, was da kommt, wenigstens nicht schuld.

Doch diese kleine Aufzählung zeigt, wie schwer es ist, sich gedanklich vom etablierten Rechts-Links-Schema zu lösen. Der Ansatz ist zwar noch nicht gescheitert, aber noch fehlen die Mittel, um ihn sinnvoll zu Ende zu führen. Vielleicht kommen wir der Auflösung von einem anderen Ausgangspunkt her näher.

Die Gehirnforschung sagt uns, dass unser Denk- und Steuerungsorgan in zwei Hemisphären aufgeteilt ist, die bestenfalls gleichberechtigt zusammenarbeiten, dass es in vielen Fällen aber so ist, dass eine Seite im Laufe des Lebens dominant wird. Stark verkürzt ausgedrückt ist es die linke Gehirnhälfte der das rationale Denken zugeordnet wird, während die rechte Gehirnhälfte für die emotionalen Regungen zuständig ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Ratio, also die Vernunft, die Intelligenz, nur ein Werkzeug ist, mit dem die Erreichung der unterschiedlichsten Ziele unterstützt wird, wie auch der Emotionsapparat von der Mutterliebe bis zur Blutrache ein weites Feld von Einsatzmöglichkeiten kennt. Es kommt also nicht auf die Ziele und das Ergebnis an, ob die linke oder die rechte Gehirnhälfte dominiert. Beide können mit ihren Fähigkeiten die gleichen Erfolge oder Misserfolge einfahren. Der Unterschied liegt nur in den Mitteln und Methoden, die angewandt werden, um ans Ziel zu gelangen.

Daraus kann gefolgert werden, dass der Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht auf dem Unterschied der Dominanz von Gehirnhälften beruht, sondern einzig auf den Zielsetzungen der Individuen, mit der Besonderheit, dass der emotional  dominierte Mensch seine Haltung und seine Entscheidungen in aller Regel auch nur emotional zu argumentieren in der Lage ist, während der rational dominierte Mensch fähig ist, für alles was er denkt, beabsichtigt und tut, logische Argumente anzuführen. Kein Wunder, dass beide sich nicht verständigen können und sich gegenseitig entweder für unfähig oder für gefühlskalt halten. (Letzteres ist meines Erachtens ein Hauptgrund für das Scheitern der meisten Ehen. Vertiefen will ich das an dieser Stelle aber nicht.)

Soweit  diese Einschätzung nicht auf Anhieb plausibel erscheint, sollte es genügen, einen kurzen Blick auf die wichtigsten Führer des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart zu werfen. Waren diese Gefühls- oder Verstandesmenschen? Wie sieht das aus bei Lenin, bei Stalin, bei Chruschtschow, bei Castro und Guevara, bei der Kim-Family in Nordkorea, bei Mao? Da gibt es durchaus Abstufungen in den Urteilen. Wie sieht das  aus bei den wichtigsten Führern der nichtsozialistischen Staaten? Churchill? Bush senior und junior? De Gaulle? Trump? Macron? Merkel? Gibt es da nicht vergleichbare Abstufungen in der Beurteilung, zumindest wenn man versucht, den Nebel der Propaganda zu durchdringen?

Dennoch sind diese Beurteilungsunterschiede das Ergebnis eines Fehlschlusses, der auf der Annahme beruht, Emotionen seien stets positiv, gingen einher mit Symphathie und Empathie, mit Menschenfreundlichkeit, Güte, Hilfsbereitschaft, und so weiter. Von Stalin zu behaupten, er sei emotionslos gewesen, ist der größte Trugschluss der einem unterlaufen kann. Dieser Mann war voller Emotionen, voller Angst, aus der sich sein Hass auf seine Gegner speiste, voller Geltungssucht, die ebenfalls in Hass und Wut mündete, er war herrschsüchtig und auf seine Weise egoistisch, arrogant – und zugleich war er ein kühler, rationaler Stratege. Sein Erfolg bestand  darin, dass seine beiden Gehirnhälften perfekt zusammenarbeiteten – und  vor  allem darin, dass seine Emotionen überaus  stark waren.

Es sind die Emotionen, die uns antreiben. Steht den Emotionen jedoch kein gleichwertiger Verstand zur Seite, sind alle Anstrengungen über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt. Gleiches gilt für einen exzellenten Verstand, der nicht von Emotionen befeuert wird. Er wird – im Elfenbeinturm eingesperrt – vergeudet. Es sei denn, jemand mit stärkerem Antrieb erkennt diese Perlen und macht sie sich dienstbar.

So, nun ist die Konfusion perfekt.

Der Versuch, links und rechts als Strömungen des Sozialismus zu entlarven, dessen bedeutsamstes Kennzeichen der Kollektivismus ist, während der Individualismus weder links noch rechts eine Chance hat, ist in den bisherigen Überlegungen schon vollständig untergegangen. Eine treffende Bezeichnung für den „Nicht-Sozialismus“ ist dabei nicht zutage gefördert worden.

Stattdessen wird die Erkenntnis manifest, dass es die Kraft der Emotionen ist, die Menschen zu Anführern werden lässt, wenn ihr Verstand den großen Emotionen ebenbürtig ist. Wer aber nun, angetrieben von starken Emotionen seinen Verstand einsetzt, um den optimalen Weg zur Zielerreichung zu finden, der wird nicht  versuchen, gegen die vorgefundenen Umstände anzukämpfen, wie Don Quichote gegen die Windmühlen. Er wird versuchen, sich die Umstände zu Nutze zu machen und sich endlich als Herrscher über diese Umstände zu erheben.

Dies führt dazu, dass in sozialistisch geprägten Umständen der Sozialismus der Königsweg der  Selbstverwirklichung ist,während in kapitalistischen Umständen der Kapitalismus das Sprungbrett für den persönlichen Erfolg darstellt. Dies wiederum erklärt, warum eine Systemveränderung in beiden Systemen nicht durch geniale Konzepte und unermüdliche Überzeugungsarbeit herbeigeführt werden kann. Es erklärt, warum „Revolutionen“ nur ganz, ganz selten wirklich eine Veränderung zum erwünschten Besseren bewirken können. Es ist die Trägheit der Systeme, die sie bis unmittelbar vor dem Zusammenbruch stabilisiert. Diese Trägheit ist Folge der Tatsache, dass sich letztlich alle immer irgendwie in dem herrschenden System einrichten müssen, um, wenn schon keinen Nutzen zu erfahren, so doch wenigstens keinen Schaden zu erleiden. Diese Geborgenheit im System, selbst im Unrechtssystem, aufzugeben, sich auf unbekanntes Neues einzulassen, ist die Wurzel der Stabilität und lässt nur systemkonforme Geister nach oben kommen.

Besteht also keine Hoffnung auf Veränderung?

Oh doch!

Systeme ermüden. Sie ermüden spätestens dann, wenn ihre Ziele erreicht scheinen. Die emotionale Energie nimmt ab, weil ihr der Anlass verloren gegangen ist, die Vernunft wird ziellos, das Regelwerk erodiert, das System geht in den Zustand der Dekadenz über. Menschen, die sprichwörtlich das Gras wachsen hören, erkennen ihre Chancen und mit dieser Erkenntnis wächst ihre emotionale Spannung, befähigt sie, über das System hinaus zu wachsen und es sich unterzuordnen und umzugestalten. So begann der Zerfall Jugoslawiens, der sich im Zerfall der UdSSR fortsetzte und das Ende der DDR besiegelte.

Von denen, die damals das Gras wachsen hörten, hat sich Angela Merkel als die Erfolgreichste erwiesen. Es ist ihr gelungen, die CDU und das neue, wiedervereinigte Deutschland zu übernehmen und beide nach ihren Vorstellungen neu zu gestalten. Es ist ihr gelungen, die sie antreibenden Emotionen und ihren kühl kalkulierenden Verstand weitgehend vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Alleine das war und ist eine titanische Kraftanstrengung sondersgleichen!

Der Zustand der Republik und Merkels Agieren seit dem letzten großen Coup 2015 lassen jedoch darauf schließen, dass ihre emotionale Batterie ausgebrannt ist. Um sie herum, in der Christlich demokratisch-sozialen Union ist niemand zu erkennen, dem die Energie zuzutrauen ist, mehr als ein plagiatorisches „Weiter so!“ bewerkstelligen zu können. Die große grüne Konkurrenz zeichnet sich zwar durch enorme emotionale Kraft aus, doch ist der zugehörige Verstand dieser Energie nicht ebenbürtig, so dass ihre hoch aufgeladene Emotionalität an den harten Kanten der Realität in funkensprühenden Kurzschlüssen verpuffen wird, sollte sie tatsächlich die Macht übernehmen.

Das System „Deutschland“ ist in den Zustand der Ermüdung übergegangen. Es ist noch nicht am Ende, aber die Spuren der Erosion zeigen sich überall bereits deutlich. Mit dem Niedergang des Systems „Deutschland“ verliert auch das System „EU“ seine Lebenskraft. In Frankreich läuft eine Petition, die darauf abzielt, ein Referendum über den Verbleib in der EU zuzulassen. Nach den Briten fingert man also auch in der zweiten, ehemaligen europäischen Großmacht an der Reißleine. 

Deutschland wird sich als Nation noch einmal neu erfinden müssen. Zum sechsten Mal seit 1871 übrigens. Das hielt erst 47 Jahre, dann 15 Jahre, dann 12+4 Jahre, danach 40 Jahre, und seither sind schon wieder 16+16 Jahre vergangen. Lange wird es wohl nicht mehr dauern. Vielleicht finden wir wieder zurück zu einer starken Mitte, in der auch drin ist, was drauf steht.

Und worum ging es nun eigentlich? Um rechten und linken Sozialismus und Kollektivismus?

Interessanter Aufsatz. Thema verfehlt. Setzen. Sechs.