Glücklich sein mit Klaus Schwaf (2)

So, es geht mir wieder etwas besser, und bevor die Traumbilder doch  noch verblassen, will ich weiter erzählen, was mir in der vorletzten Nacht widerfahren ist.

Da war also diese Fahrt im offenen Güterwaggon an einem Zug ohne Lokomotive, gezogen von fünfzig angeschirrten Männern, die auf einem schmalen, ausgetrampelten Pfad neben den Waggons hergelaufen sind. Ich fühlte mich in diesem Augenblick tatsächlich glücklich, nicht zu jenen zu gehören, die den Zug ziehen mussten, und begann im Traum mit verworrenen Gedanken leise vor mich hin zu summen: „Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König. Froh zu sein, froh zu sein …“. Dabei sind mir die Augen zugefallen, und ich begann – im Traum – einen neuen Traum zu träumen. Ich lag, wie ich meinte tot, rücklings auf dem Boden, die gebrochenen Augen in die Schwärze des nächtlichen Himmels gerichtet, als ich die Stimme hörte: „Seht nach, ob er nur simuliert oder ob er wirklich tot ist.“

Ich dachte mir, wenn ich noch Stimmen hören kann, dann kann ich nicht tot sein – und dann sah ich die beiden, die sich über mich beugten, und hielt den Atem an.

Aber sie sahen mich gar nicht an. Sie blickten nach oben, zu ihrem Herrn und Meister. Und ihr Blick sah gar nicht glücklich aus.

Der Schlag mit der Reitgerte ins Gesicht riss mich aus meinem Traum. „Auf! Raus! Aussteigen! Du bist hier nicht zum Träumen“, schrie er mich an, und ich machte schnell, dass ich über die niedrige Bordwand des Waggons nach draußen sprang.

Der Zug hatte vor einer etwa sieben Meter hohen Mauer gestoppt. Auf der Mauer stand mit weißer Farbe in großen Lettern geschrieben:

Seuchengebiet

Zutritt nur mit tagesaktueller Impfung.

Tatsächlich standen alle, die mit dem Zug gekommen waren, schon in einer langen, langen Schlange, die sich schrittweise auf ein Zelt zu bewegte. Neben dem Weg waren Schilder angebracht, wie früher in manchen Geschäften vor der Kasse.

„Noch dreißig Minuten bis zur Impfung“
„Noch fünfundzwanzig Minuten bis zur Impfung“
„Noch zwanzig Minuten bis zur Impfung“

„Impf-Aufklärung:
Die Impfung ist sicher und wirksam.
Wer dennoch nachfragt, verliert
10 Sozialpunkte.“

„Noch zehn Minuten bis zur Impfung“
„Noch fünf Minuten bis zur Impfung“

Mir war, am letzten Schild angekommen, verdammt flau im Magen. Mir fiel auch wieder auf, dass ich immer noch vollkommen nackt war, vor allem aber, dass ich seit dem Erwachen noch keinen Schluck Kaffee und keinen Bissen Essen zu mir genommen hatte. Das war der Augenblick, an dem ich wieder einen eigenen Gedanken fassen wollte, nämlich: „Wie bin ich bloß hierher geraten und wie komme ich wieder raus?“

Aber noch bevor die Frage zu Ende gedacht war, öffnete sich wieder dieses Animationstheater im Kopf und verdrängte jeden eigenen Gedanken. Der dickliche Mann erschien wieder. Diesmal saß er an einem mit Brot und Brötchen, Wurst und Schinken, Marmelade, Kaffee, Tee,  Orangensaft, Müslimischungen, Milch und Joghurt überladenen Frühstückstisch und während er mit abgespreiztem kleinem Finger die Bissen in sich hineinstopfte, sprach er zu mir:

„How did you …“ – mampf „… get here?“
„Don’t you …“ – mampf – „…have any sense of guilt?“ – mampf –
„You are at …“ – mampf – „… zero. Zero…“ – mampf – „…points.“

Er nahm einen tiefen Schluck Orangensaft, füllte sein Glas aus der funkelnden Karaffe nach, nahm noch einen Schluck, und sprach dann weiter:

„That’s what happens to everybody, thinking to have to criticize everything and everyone. But why do you want to leave here? Aren’t you happy?“

Mir fiel ein, dass es in dieser sonderbaren Welt nicht angeraten war, nicht glücklich zu sein. Mit großer Anstrengung verzog ich mein Gesicht zu einem glücklichen Grinsen. Der Vorhang schloss sich –  und im gleichen Augenblick rammte mir der Weißkittel vor dem Zelt die Spritze in den Oberarm.

„Weiter, weiter!“, drängelte der Uniformierte mit der Reitgerte. „Ihr seid jetzt geschützt. Jetzt geht es an die Arbeit.“

Als letzter der Kolonne trabte ich durch ein kleines Tor in der Mauer. Dahinter – bis zum Horizont – eine Siedlung. Einfamilienhäuser, Reihenhäuser, Doppelhäuser, Vorgärten, Garagen … alles da, nur kein Mensch. Kein Schornstein rauchte, keine spielenen Kinder auf der Straße – nichts.

„Nummer 10a bis 10e, das sind deine“, sagte der Uniformierte, „bis zum Dienstschluss hast du die flachgemacht.“

„Und wann ist Dienstschluss?“, fragte ich. Der Uniformierte lachte amüsiert: „Dienstschluss ist, wenn du fertig bist.“

„Und womit? Werkzeug? Bagger? Doch nicht mit den bloßen Händen, oder?“

„Such dir zusammen, was du brauchst. Die Türen sind offen. Die hatten alles, was man sich vorstellen kann. Kein Wunder, dass sie unglücklich waren. Die waren so unglücklich, dass sie den Great Reset verhindern wollten. Mit einer angemeldeten und genehmigten Demo!“ Der Uniformierte lachte ein dreckiges, überhebliches Lachen. „Kaum hatten sie einen Schritt auf die Straße gesetzt, war ihr Punktekonto auf fünfzig. Mit fünfzig hast du kein Anrecht mehr auf Haus und Garten und Auto. Alles, was sie mitnehmen durften, waren ihre Fahrräder und die Kleidung auf dem Leib.“

„Und wo sind sie jetzt?“, fragte ich.

„Keine Ahnung. Wird jedenfalls ein Ort sein, an dem sie lernen, glücklich zu sein, ohne etwas zu besitzen. Und jetzt mach los. Die Siedlung muss weg. Hier soll ein Wildpark entstehen, für die große Treibjagd im Oktober.“ Damit drehte er sich um und ging weiter zu den Häusern 11a bis 11e.

Ich rief ihm noch nach: „Und was sollte die Spritze, wenn hier doch keiner mehr ist, der mich anstecken könnte?“, aber er antwortete mir nicht mehr.

Ich öffnetet die Haustüre von 10a, fand die Küche, den Kühlschrank, die Kaffeemaschine – alles, als seien die Bewohner gerade erst aus dem Haus gegangen – und machte erst einmal ein ausgedehntes Frühstück. Richtig glücklich war ich dabei. „Nichts zu besitzen, und so toll zu frühstücken“, ging es mir durch den Kopf, „das macht wirklich glücklich.“ Im Kleiderschrank fand ich Unterwäsche und brauchbare Arbeitsklamotten, auch nach passenden Schuhen brauchte ich nicht lange zu suchen.

Als ich das Garagentor geöffnet hatte, überkam mich eine ganze Woge des Glücks. Ein Jeep. Ein echter Jeep. Allradantrieb, Anhängerkupplung, und für meine Zwecke genug PS unter der Haube. Ich fand auch ein ordentliches Stahlseil. Vielleicht ein bisschen kurz, aber es müsste reichen.

Ich also erst mit dem Jeep aus der Garage und mitten in den Vorgarten, dann mit dem Stahlseil hoch, in den Speicher. Das Stahlseil um den unteren Längsbinder geschlungen, ein paar Ziegel aus dem Dach geschlagen, das freie Ende des Stahlseils durch die Öffnung nach draußen geworfen. Dann wieder runter und die Öse über die Anhängerkupplung gestreift.

Der Jeep grub sich zunächst in der weichen Gartenerde ein, bekam dann aber plötzlich doch Griff unter den Rädern und schoss plötzlich mit einem Ruck vorwärts und durchbrach den Gartenzaun, bevor ich ihn wieder zum Stehen brachte.

Hinter mir ein Prasseln von herabstürzenden Dachziegeln, ein Donnern und Grummeln als der Dachstuhl in einem Stück über die Mauerkante rumpelte, und in die Ruhe hinein, die daraufhin eingebrochen war, stürzte die eine Giebelmauer des Reiheneckhauses mit größem Getöse nach innen, durchschlug die Zwischendecke und kam in einer riesigen Staubwolke in Bad und Küche zur Ruhe.

Die Zerstörung, die ich angerichtet hatte, brachte  mich für einen Augenblick erst zur Vernunft und dann aus der Fassung. „Junge, was machst du da eigentlich?“, fragte ich mich. „Seit wann macht es mir Spaß, mutwillige fremde Häuser zu zerstören?“

Aber das war schnell wieder vorbei. Ich verspürte jenes Glücksgefühl, dass auch Klaus Schwaf verspüren musste, denn wir waren  jetzt vereint in der Herkulesaufgabe, Glück unter der Menschheit zu verbreiten, indem wir allen Besitz zerstören, der nur unglücklich macht.

Die Einstichstelle an meinem rechten Oberarm begann stark zu jucken. Ich wollte den Jeep wieder zurücksetzen, um am nächsten Dach anzusetzen, aber mein Arm, der den Schaltknüppel bedienen sollte, gehorchte nicht mehr. Als mir schwummrig vor den Augen wurde, gab ich noch Gas …

Und nun veränderte sich der Traum. Ich sah nun, von irgenwo links oben auf mich hinunter, sah, wie der Jeep einen wahren Sprung nach vorne machte, auf der gegenüberliegenden Seite den Gartenzaun durchbrach, sich in die Hauswand bohrte und sich in dampfende Kühlwasserwolken einhüllte.

Damit fing der eigentliche Albraum aber erst so richtig an. Ich erzähle am Freitag weiter.