Es ist schon ein paar Grünenparteitage her, dass der Verdacht aufkam, das Rad sei eine der Wurzeln jenes Übels, dass es auszurotten gelte. Doch immer wieder gab es vorher noch anderes zu tun, um die Welt zu retten.
Da tat sich hier ein Ozonloch auf und dort fiel zu viel saurer Regen, dann wieder musste der Völkermord auf dem Balkan ausgebombt werden, so dass die Idee vom Grünen Rad immer wieder zurückstehen musste. Dann kamen die Stickoxide, die schmelzenden Gletscher, die Energiewende – und endlich der Krieg in der Ukraine. Noch bevor der letzte Schuss gefallen und die letzte Sanktion verhängt worden war, noch bevor Annalena und Anton im Team die letzte grüne Schleife um die letzte schwere Waffe gewunden hatten, war klar geworden, dass die Sorge um CO2-Emissionen die Sorge eines Gestern war, das so nie wiederkommen würde.
Jürgen Trittin meldete sich vom Altenteil zurück mit einer Neuauflage des Dosenpfand-Slogans: „EinWeg mit Pfand“, und erklärte den verklärten Grün*_Innen: „Kein Weg fürs Rad!“
Würden nur alle Straßen und Autobahnen wegen Öl, Gas und Strommangel zurückgebaut zu unbefestigten Wegen und alle unbefestigten Wege renaturiert, werde auch das unnatürliche Rad, diese menschengemachte Manifestation des Kreises, sich ganz von alleine als untauglich erweisen. Es sei daher nun an der Zeit, eine umweltfreundliche, naturverträgliche, nachhaltige, feministische und kompostierbare Nachfolgetechnologie zu entwickeln und in der Breite nachhaltig zum Einsatz zu bringen, zur Not eben auch mit knallharten Radverboten und für kurze Zeit mit Zuschüssen aus Steuermitteln.
Claudia Roth, ausgerechnet Claudia Roth hatte das Prinzip allerdings nicht verstanden. „Was machen wir denn dann mit unseren Lastenrädern?“, fragte sie in die Runde. „Damit machen wir das Gleiche wie mit der Bahn“, kam prompt die Antwort. Doch bei Claudia war der Groschen immer noch nicht gefallen. „Wie? Wie bei der Bahn? Was ist denn mit der Bahn?“
„Die Bahn wird stillgelegt.“
„Aber die Bahn, die wollten wir doch immer. Also jedenfalls die elektrische Bahn. Das war doch wegen dem CO2, oder?“
„Ach, Claudia“, begann Robert Habeck mit der milden Strenge des väterlichen Erklärbären, „die Sache mit dem CO2, das war gestern. Mit der Energiewende, die kurz vor der Vollendung zur Zero-Energy steht, ist jetzt die Energie überhaupt unser strategisches Feindbild. Alles, was Energie braucht, wird stillgelegt. Wenn wir das nicht schaffen, merken die Leute doch, dass Sonne und Wind nicht genug liefern.“
„Ich verstehe“, seufzte Claudia, und fragte sich klammheimlich hinter ihrer säuerlich-verschmitzt lächelnden Fassade, wie sie das drehen sollte, um im Urlaub wieder in ihre geliebte Türkei zu kommen. Flugzeuge, dachte sie sich, brauchen ja wahrscheinlich auch Energie. Oder womit fliegen die eigentlich?
Derweil hatte Jürgen Trittin sich an die Tafel begeben, mit der Kreide in der Hand, und knurrte: „Jetzt aber Vorschläge, Leute. Wie sieht das Grüne Rad aus? Und soll es überhaupt noch Rad heißen? Da brauchen wir heute noch die Basisideen für den Workshop, nächste Woche.“
„Ich bin für die Kufe!“, rief es von ganz weit hinten. Trittin schrieb „Kufe“ an die Tafel und forderte: „Weiter. Mehr. Da muss es noch mehr geben.“
„Was wäre denn, wenn wir Kanäle anlegen. Landesweit Venedig, mit Anschluss an den Spreewald. Dann könnte man Kähne verwenden.“ Trittin schrieb „Kahn“ an die Tafel und ermunterte die Anwesenden erneut zum Weitermachen.
„Ich bin für Ballons. Gasgefüllt. Helium am besten. Kein Wasserstoff! Denke an Lakehurst. Ballon geht ganz ohne Rad.“ Trittin schrieb „Ballon“ an die Tafel und schaute fragend in die Runde.
„Ihr denkt immerzu nur an so was, wie Mobilität. Das geht zwar einen Schritt in die richtige Richtung, aber doch längst nicht weit genug. Seht her“, rief der Hinterbänkler und reckte sein linkes Handgelenk in die Luft an dem eine Dornblüth & Sohn, Kaliber 99.2 prangte. „Was meint ihr, wie viele Räder da drin sind? Die kann man doch weder durch Kufen, noch durch Kähne und schon gar nicht durch Ballons ersetzen!“
„Und, was schlägst du vor?“
„Ja, zuerst dachte ich ja an einen Stab“. Jürgen Trittin schrieb „Stab“ an die Tafel, aber der Uhrenbesitzer war noch nicht fertig. „Einen Stab, weil ich die Räder durch die Sonne und den Stab ersetzen wollte, also Prinzip Sonnenuhr. Aber dafür ist ja nirgends mehr Platz, vor lauter Fotovoltaik. Aber dann ist es mir eingefallen. Wir nehmen Sand, feinen Sand, und ein kleines Loch. Kleine Löcher gibt es überall umsonst, und den Sand kann man sich vom Badestrand mitnehmen. Die Sanduhr braucht keine Räder.“
Trittin schrieb „Sand“ an die Tafel und „kleines Loch“.
„Immer du, mit deiner Automatik-Uhr. Da drin sind keine Räder, sondern Zahnräder!“, zog Katrin Göring-Eckardt unvermittelt vom Leder. „Da kannst du ja jetzt gerne Sand einfüllen. Nur zu! Aber wenn ich im Supermarkt den Einkaufswagen ohne Räder schieben soll, dann brauche ich da schon einen anderen Ersatz als Sand. Du kleines Loch, du!“
Der nachfolgende Tumult endete nach sieben Minuten 19 Sekunden mit einem Machtwort von Trittin. Die wenigen Schwerverletzten dieser Auseinandersetzung, unter ihnen auch der Mann mit der echten Dornblüth, wurden danach weniger vermisst als Leroy Sane nach der Auswechslung in der fünfzehnten Minute.
Ricarda Lang erinnerte Jürgen Trittin höflich daran, dass er nicht mehr Vorsitzender der Grünen sei und daher schon weit mehr Einfluss auf die Diskussion genommen habe, als ihm noch zustünde.
„Ich übernehme die Moderation“, erklärte sie, nahm Trittin die Kreide aus der Hand und drängte ihn mühelos von der Tafel weg.
„Leute“, setzte sie wieder an, „das ist doch leider alles Quatsch. Wir müssen mit den Windrädern anfangen! Die sind doch unsere Erfindung! – Und, fällt euch da etwas auf? Sind das wirklich Räder?“
„Stimmt!“
„Du hast recht, tatsächlich!“
„Ist ja eher ein Stern am Stiel …“
„Das ist es, was ich euch sagen wollte. Wenn das Rad weg muss – und es muss weg, dann werden wir zuerst von Windsternen und -sterninnen reden. Damit verdrängen wir das Rad schon ein gutes Stück weit aus dem Bewusstsein der Leute. Und, sind wir doch mal ehrlich: Sternin, das klingt doch schon viel besser als Rad, oder?“
„Ein Glück, dass wir dich haben, Ricarda!“
„Bravo! Bravo!“
„Ihr habt ja den Clou dabei überhaupt noch nicht begriffen“, strahlte Ricarda, die Vielgelobte übers ganze Gesicht.
„Dann spann uns nicht länger auf die Folter! Lass hören!“, beeilte sich Omid Nouripour auch noch etwas beizutragen, um nicht schon wieder von Ricarda überstrahlt zu werden.
„Langsam, langsam, mein Lieber. Der Stern, egal mit wie vielen Zacken oder Spitzen, wenn man nur ein bisschen Hirnschmalz investiert, ersetzt nicht nur mühelos alle Räder dieser Welt. Er hat das Zeug zum ersten wahren Perpetuum mobile!“
„Das gibt’s doch gar nicht!“
„Ricarda! An dir ist ein Leonardo di Caprio verloren gegangen!“
„Da Vinci, mein Lieber, da Vinci!“
„Ist doch egal. Lass Ricarda weitersprechen!“
„Ist eben nicht egal, du Banause …“
„Ruhe!“, donnerte Omid Nouripour, froh, auch wieder einmal gebraucht zu werden. „Ricarda, sprich!“
„Ich weiß nicht, ob ihr mir folgen könnt. Wer eher vom Kühemelken kommt, könnte damit ebenso Probleme haben, wie jemand, der eher vom Völkerrecht kommt. Aber ich kanns ja mal probieren. Also:
Unser Stern ist eine Schwerkraftmaschine. Dazu muss er natürlich zuerst der Schwerkraft nachgeben. Das kennt ihr von euren Betten, genau wie ich, wenn man sich da reinlegt, dann gibt die Matratze doch nach. Warum tut sie das? Weil im Inneren der Matratze Federn sind. Die lassen sich zusammendrücken. Aber die dehnen sich auch wieder aus, wenn ich aufstehe, um ins Parlament zu fahren.
Was passiert jetzt, wenn man die Zacken von einem Stern in zwei Teilen anfertigt, wie ein Teleskop, und eine Feder reinmacht, die sich zusammendrücken lässt, wenn sie belastet wird und sich wieder ausdehnt, wenn sie entlastet wird?“
„Was soll da schon passieren? Dasselbe wie mit deiner Matratze. Es macht quietsch.
„Dummkopf! Denkt nach! Der Stern mit den Teleskopzacken wird zum Selbstläufer! Der untere Zacken wird vom Eigengewicht des Sterns zuerst zusammengedrückt. Jetzt braucht das Ganze nur einen ganz kleinen Schubs, dann kippt der Stern nach vorne weg, die zusammengedrückte Feder entspannt sich und dreht den Stern mit ihrer Kraft auf den nächsten Zacken. Jetzt hat das ganze aber schon Schwung! Der nächste Zacken wird zusammengedrückt und weil der Stern sich weiterbewegt, kann der sich gleich wieder ausdehnen und dem Stern wieder einen Schubs geben, und so weiter, und so weiter …“
„Dann ist das ja doch wieder ein Rad?“
„Das ist genial. Das ist regenerative Energie ohne Ende!“
„Halt! Hiergeblieben! Wo willst du denn hin, Anton? Wir müssen doch erst noch abstimmen.“
„Keine Zeit. Ich muss zur Bank und meine Nordex-Aktien verkaufen, bevor die Presse Wind bekommt. Mit Ricardas Zackenkraft sind die doch morgen nichts mehr wert.“
Als hätte Hofreiter die Posaune des Jüngsten Gerichts geblasen, leerte sich der Saal in Windeseile.
So ist das eben. Das Bessere ist der Feind das Guten. War schon bei Kohle und Kernkraft so. Jetzt ist halt die Windkraft dran.
Hat sowieso erstaunlich lange durchgehalten …