Der 17. Juni steht vor der Tür

Lange Jahre war in den alten Bundesländern die Freude darüber groß, dass die Brüder und Schwestern im Osten am 17. Juni 1953 einen Aufstand auf die Straße gebracht hatten. Denn so, wie die Brüder und Schwestern im Osten dafür bestraft wurden, wurden deren Brüder und Schwestern im gelobten Westdeutsch-Land dafür belohnt, und zwar mit einem arbeitsfreien Feiertag mitten in der Warmphase des Spätfrühlings, der noch dazu nur selten auf einen Sonntag fiel. An den Samstagen, bzw. Sonnabenden musste damals im Westen ja auch noch außerhalb von Bahn, Post, Polizei, Kranken- und Wirtshäusern malocht werden.

Da der Aufstand niedergeschlagen wurde und damit im Grunde für die Westbrüder und Westschwestern alles beim Alten geblieben war, trat der Grund für die Bescherung eines zum Festtag mutierten Gedenktages allerdings schnell in den Hintergrund der von nachgeholten Mai-Ausflügen – oft feucht-fröhlich – ausgefüllten, geschenkten Stunden. Kein Wunder, dass in den ersten Jahrzehnten nach dem 17. Juni 1953 der Februar – trotz seiner nur 28 Tage – zu einem der geburtenstärksten Monate (West) wurde.

Bis zum nächsten Aufstand der Brüder und Schwestern in der DDR vergingen immerhin 36 Jahre, und dann war es auch kein richtiger Aufstand, sondern mehr eine Verschwörung zur Ausreise über die kommunistischen Bruderstaaten, bevorzugt über Ungarn, weshalb die Sache mit dem Niederschlagen nicht mehr so einfach war, zumal in Moskau Peristroika und Glasnost angesagt  waren, und die Ausreisenden alle den Spruch in den Ohren hatten: „Wer zu spät geht, den bestraft das Leben.“

Eigentlich hätte nun der 9. November 1989 zum zweiten Feiertag der Deutschen Einheit gemacht werden müssen. Schließlich war das der Tag als in Berlin die Mauer fiel und sich bald darauf überall die lange verschlossenen Grenzübergänge zwischen BRD und DDR öffneten und neugierige Trabbifahrer in endlosen Kolonnen in die BRD einfielen, wo sie von neugierigen VW-, Opel- und Fordfahrern bestaunt wurden, wie eine Invasion vom Mars.

„Wahnsinn!“, war die meistgenutzte Vokabel dieser Tage, und so, wie Anfang 2021 überall die Impfzentren wie die Pilze aus dem Boden schossen, wurde die BRD in Windeseile von Begrüßungsgeldauszahlungsstellen überzogen, dass es nur so gekracht hat.

In der hohen Politik sah  man jedoch mit Bedenken auf diesen zweiten, und auch noch gelungenen Aufstand. Was, wenn solche Unbotmäßigkeit Schule machen sollte? Zumal man ja die Brüder und Schwestern samt ihrem Bockigkeitspotential nun selbst an der Backe hatte und diesen Sack Flöhe irgendwie würde hüten müssen.

Das Gedenken an den 17. Juni 1953 konnte dabei nur kontraproduktiv sein, denn das würde die Ossis ja geradezu aufstacheln, in nostalgischem Gedenken an den Kampfeswillen der Eltern und Großeltern den nächsten Aufstand loszutreten. Der 17. Juni musste also unbedingt weg und raus aus dem Feiertagskalender. Klar war allerdings auch, dass es sich für einen Staat, der auf sich hält, ein Ding der Unmöglichkeit wäre, seinen Nationalfeiertag einfach sang- und klanglos zu streichen. So etwas hätten ja nicht einmal die Schildbürger zu denken gewagt.

Die gleichen Gründe, die es geraten erschienen ließen, den 17. Juni aus der Erinnerung zu tilgen, bestanden aber auch in Bezug auf den 9. November. Es war wieder ein Aufstand gewesen, noch dazu ein relativ niedrigschwellig vorgetragener, und, was das Bedenklichste war, es war ein erfolgreicher Aufstand. Eine solche Tradition zu etablieren würde doch den Regierungen auf Jahrzehnte, wenn nicht auf Jahrhunderte hinaus die Hände binden. Sicher damals hat man noch nicht konkret an so Sachen wie den Kampf gegen den Terror oder den Kampf gegen das Klima oder den Kampf gegen Covid-19 oder den Kampf gegen rechts gedacht, aber abstrakt konnte man sich gut vorstellen, dass es Situationen geben würde, in denen Maßnahmen ergriffen werden müssten, die vom Volke nur mit Murren ertragen werden würden. In eine solche Stimmung hinein die Erinnerung an einen glorreichen Sieg von „Wir sind das Volk!“ aufleben zu lassen und dieses Gedenken durch einen jährlichen Feiertag auch noch wach zu halten, erschien als eine viel zu gefährliche Idee, als sie ernsthaft weiterverfolgen zu können.

Seitdem folgt auf den 2. Oktober nun der Helmut-Kohl-Gedächtnistag, weil sein Bemühen, den Beitritt der Brüder und Schwestern im Osten zu den Brüdern und Schwestern in den seitdem „alten“ Bundesländern zu ermöglichen, am 3. Oktober 1990 von Erfolg gekrönt war. Dieser neue Tag der Deutschen Einheit, der – gefühlt – praktisch jedes Jahr auf das Wochenende fällt und – gefühlt – mit ungemütlichem Wetter nicht gerade zum Heldenzeugen einlädt, wird mit provinziellem Eifer alle Jahre irgendwo im Lande veranstaltet. Wer nicht, qua Amt und Würde gezwungen ist, hinzugehen, geht nicht hin. Bei Phönix werden die Feierlichkeiten live übertragen, was ungefähr die Hälfte der Phönix Zielgruppe vom Fernseher wegscheucht, während die andere Hälfte mit Tränen der Rührung in den Augen den Worten lauscht, die dem jeweils amtierenden Bundespräsidenten von seinen Redenschreibern aufgeschrieben wurden.

Die Deutsche Einheit sei vollendet, tönt es.

Das Deutsche Volk habe sich in freier Selbstbestimmung dieses Grundgesetz gegeben.

Wie lange noch
soll wohl der Artikel 146 Grundgesetz
unerfüllt bleiben?