Vollständig falsch und frei erfunden

PaD 5 /2023  – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 5 2023 Völlig falsch und frei erfunden

Gestern Nachmittag, um 17.18 Uhr, sandte mir ein Leser diesen Link zur Veröffentlichung von Seymour Hersh über die Urheber, die Planung und die Durchführung der Sabotage an den North Stream Pipelines:

https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream

Ich habe das Dokument durch DeepL gejagt und es dann mit großem Interesse in der deutschen Übersetzung gelesen.

Weil mir klar war, dass diese neuen Enthüllungen binnen weniger Stunden zumindest von allen alternativen Medien aufgegriffen und verbreitet werden würden, habe ich das Thema erst einmal liegenlassen.

Heute allerdings beschäftigt es mich noch einmal verstärkt, denn es hat eine sehr schnelle Reaktion aus dem Weißen Haus gegeben, die zu kommentieren sich lohnt. Zerohedge.com veröffentlicht diese Stellungnahme am Ende dieses Artikels mit diesen Worten:

The White House said on Wednesday that a blog post by a U.S. investigative journalist alleging the United States was behind explosions of the Nord Stream pipelines „is utterly false and complete fiction.“

Da ist zunächst einmal die Einstufung als „blog post“, mit der Hershs Enthüllungen in die Masse dessen eingebettet werden sollen, was Blogger permanent an Belanglosigkeiten in die Welt hinausposten.

Dann folgt die Nicht-Nennung des Autors durch die Umschreibung als „investigativ journalist“, die noch einmal geeignet ist, das Interesse an der Meldung klein zu halten. Hätte das Weiße Haus Seymour Hersh erwähnt, dessen Reputation als Investigativer Journalist kaum zu überbieten ist, die Meldung hätte weit mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Noch eine Abschwächung findet sich in der Satzkonstruktion:

„that a blog post (by a U.S. investigative journalist) alleging the United States was behind explosions …“

die so beschaffen ist, dass der investigative Journalist nochmals ganz  subtil in den Hintergrund gedrängt wird, während stattdessen das Posting als die Quelle der Behauptung dargestellt und in den Vordergrund geschoben wird.

Wollte man das göttliche Gebot: „Du sollst nicht töten!“, ebenso behandeln, käme heraus: „In der Unzahl der je geschriebenen Bücher behauptet ein unbekannter Autor in seinem einzigen veröffentlichten Werk, er habe tatsächlich das Töten ganz grundsätzlich verboten.“

Ist man in der Bewertung des Postings erst einmal so weit gekommen, dass es als die unbedeutende Aussage eines womöglich verwirrten und Verschwörungstheorien anhängenden Bloggers eingeordnet ist, erübrigt sich jedes weitere Eingehen auf die darin geschilderte Geschichte  des Anschlags auf eine der wirtschaftlichen Hauptschlagadern Europas. Der Artikel wird vom Tisch gewischt, nicht ohne mit der Behauptung, es sei alles falsch und frei erfunden, noch einmal kräftig nachzutreten, so dass auch dem letzten Neugierigen die Neugier vergehen möge.

Zu meinen Prinzipien bei der Beurteilung von Sachverhalten, zu denen nur unvollständige Informationen vorliegen, gehört es, intensiv darüber nachzudenken, welche weitergehenden Informationen in den bekannten, aber unvollständigen Informationen gegebenenfalls noch aufgefunden werden könnten.

Da findet sich zunächst einmal die Erkenntnis, dass man im Weißen Haus großen Respekt, wenn nicht gar Furcht vor der Person Seymour Hersh empfindet. So groß, dass man nicht wagt, ihn als Person zu demontieren, ihn öffentlich als einen Lügner, einen Spinner, einen Verschwörungstheoretiker hinzustellen und der Lächerlichkeit preiszugeben, was darin zum Ausdruck kommt, dass  – trotz des ungeheuerlichen Vorwurfs gegen Joe Biden und alle weiteren Beteiligten im nationalen und internationalen Umfeld – sein Name als Urheber der Anschuldigungen nicht genannt wird.

Dies wiederum deutet darauf hin, dass die Sorge besteht, ein derart in die Ecke gedrängter Journalist könnte eventuell doch bisher noch zurückgehaltene Informationen und Beweismittel aus dem Ärmel schütteln, eventuell auch bislang geschützte Quellen – mit deren Einverständnis – preisgeben und damit den bereits eingetretenen Schaden nochmals vergrößern.

Die nächste versteckte Information findet sich in dem kleinen Widerspruch, der sich aus der Aussage, die Behauptung sei völlig/vollständig falsch und frei erfunden, ergibt.

„Frei erfunden“ ist in aller Regel eine Schutzbehauptung, die von Autoren, bzw. ihren Verlegern verwendet wird, um sich vor Klagen wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten Dritter zu schützen, wenn zwischen Romanfiguren und ihren Gedanken und Handlungen und real existierenden Personen so große Ähnlichkeiten bestehen, dass der Roman eben nicht als freie Erfindung sondern als „Schlüsselroman“ verstanden werden könnte.

Als Verteidigung gegen öffentlich aufgestellte Tatsachenbehauptungen ist „frei erfunden“ hingegen nicht geeignet. Die einzig richtige, sinnvolle und zielführende Reaktion dessen, der sich von unberechtigten Vorwürfen reinwaschen will, wäre es, Beweise zu fordern, in diesem Fall eventuell sogar im Zuge eines Gerichtsverfahrens, in dem der Angeklagte der Üblen Nachrede, Verleumdung, etc. beschuldigt wird.

Davon ist allerdings nicht die Rede. Es entsteht erneut der Eindruck, dass die Sache so klein wie möglich gehalten werden soll, damit bald wieder Gras darüber wachsen kann.

Aber das ist noch nicht der Widerspruch, auf den ich eingehen will.

„Völlig falsch“ und „frei erfunden“ sind zwei Urteile, die zueinander inkompatibel sind. „Frei erfunden“ ist eben frei erfunden und kann daher überhaupt nicht falsch sein. „Frei erfunden“ kann durchaus boshaft sein, kann ehrabschneiderisch sein und es können damit alle möglichen Absichten verfolgt werden, aber „frei erfunden“ schwebt unangreifbar über Wertungen wie richtig oder falsch, und von „völlig falsch“ kann schon gar nicht die Rede sein.

„Völlig falsch“ setzt nämlich voraus, die richtige Version vollständig und in allen Einzelheiten zu kennen und an jeder Stelle den Unterschied aufzeigen zu können.

Völlig falsch heißt, die Behauptungen Stück für Stück beweiskräftig widerlegen zu können. Es gibt jedoch – zumindest bislang – nicht das geringste Anzeichen dafür, dass ein solcher Beweis geführt werden würde oder noch geführt werden solle.

Da „völlig falsch“ zuerst angeführt wird, womit die Kenntnis des wahren Sachverhalts implizit eingestanden wird, kommt der zweiten Einordnung als „frei erfunden“ nun unglücklicherweise für die Verteidiger exakt jene Bedeutung zu, die ihr möglicherweise die real existierenden Protagonisten von Schlüsselromanen beimessen, wenn sie dem Verdacht, vom Autor gemeint gewesen zu sein, so lange widersprechen, bis der Autor zugibt, dass er es tatsächlich so gemeint hat.

Das quantitativ und qualitativ erbärmliche Dementi aus dem Weißen Haus liegt im Spannungsfeld zwischen Geständnis  und Unschuldsbeweis deutlich näher am Geständnis, zumal es – ohne die intime Kenntnis der Abläufe und der Beteiligten – so nicht hätte formuliert werden können.

1 : 0 für Seymour Hersh

Wenn aber schon in Deutschland verfügt werden konnte, dass die so genannten NSU-Akten für 120 Jahre*) unter Verschluss gehalten werden müssen, wie lange wird man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wohl die Wahrheit über North Stream 1 und 2 unter Verschluss halten? John F. Kennedy ist auch schon 60 Jahre tot.

*) inzwischen auf 30 Jahre gesenkt


Ein kleine Fingerübung zum Auffinden versteckter Informationen ist dieses – lösbare – Rätsel:

Aus 12 äußerlich vollkommen gleichen Kugeln, von  denen eine jedoch ein abweichendes Gewicht hat (sie kann leichter oder schwerer sein als die 11 anderen) soll über maximal drei Wiegungen mit einer Balkenwaage die mit dem abweichenden Gewicht sicher bestimmt werden.