Weizen, Neon, Iris T und mehr

PaD 22 /2022 – Hier auch als PDF verfügbar: PaD 22 2022 Weizen, Neon, Iris T und mehr

 

Wo die Wahrheit im Krieg stirbt, und zwar zuerst, muss man manches Mal ein paar Tage zurückblättern, um die vorher noch lebende Wahrheit aufzufinden.

Dass die Ukraine die Kornkammer Russlands ist, das habe ich relativ früh als Schüler erfahren, denn die Lehrer, die mir das vermittelten, hatten es ihrerseits aus dem Lautsprecher des Volksempfängers erfahren, wenn begründet wurde, warum die Wehrmacht in der Ukraine stand.

Später hat sich dieses Wissen auf die Spezialisten-Ebene zurückgezogen und es wurde praktisch nicht mehr darüber geredet. Bis jetzt.

Jetzt droht eine weltweite Hungersnot, weil eine Getreidemenge, die nach unterschiedlichen   Quellen zwischen 14 und 25 Millionen Tonnen umfasst, in der Ukraine liegt, nicht exportiert werden kann, und folglich die Lagerhäuser verstopft, die für die in wenigen Wochen fällige neue Ernte benötigt werden.

Nun muss man aber unterscheiden, zwischen Weizenanbau und Weizenexport. Die Differenz ist das, was für die Selbstversorgung der Exporteure (und der Importeure!) benötigt wird.

2020, also als die Wahrheit noch lebte, hat die Ukraine nur 3 Prozent des weltweit erzeugten Weizens (762 Millionen Tonnen) angebaut. Nicht alles davon ging in den Export. Wenn also heute Getreide-Exporte aus der Ukraine nicht möglich sein sollten, dann fehlen deswegen weltweit weniger als 3 Prozent der Ernte.

Robert Habeck hat kürzlich erklärt: „10 Prozent kann man immer einsparen.“ Das bezog sich zwar auf Kohle, Öl, Gas und Strom, sollte sich aber auf Getreide ebenso – und mit vergleichbaren Kollateralschäden bei den Armen und Ärmsten – übertragen lassen.

Der Markt ist dadurch zwar gestört, aber keineswegs zerstört. Es gibt andere Ursachen.

Indien, das bisher knapp 2 Prozent der weltweiten Getreide-Exporte beisteuerte, hat wegen der erwarteten schlechten Ernte ein Exportverbot erlassen.

China klagt ebenfalls über eine miserable neue Weizenernte und hat obendrein 2021 seine Lagerbestände stark reduziert, weil seinerzeit Weizen billiger war als Mais und daher Millionen Tonnen Weizen in die chinesische Futtermittel-Industrie geflossen sind. China kauft daher momentan große Mengen Weizen auf und importiert dabei auch wieder aus Russland. Ausführlicher wird das bei Agrarheute.com geschildert. Doch das ist nicht das erste Mal, dass China den Markt leerkauft. Schon Ende 2020 wurde bei Agrarheute.com in diesem Artikel darüber berichtet.

Zurück zur Ukraine: Mit 18,1 Millionen Tonnen hat die Ukraine im Jahre 2020 gut 10  Prozent zum weltweiten Weizenexport beigetragen.

Dass dies auch in diesem Jahr wieder so sein könnte, erklärte der Pressesprecher des Kremls am 1. Juni so:

Russland unternimmt nichts, um die Ausfuhr von Getreide aus ukrainischen Häfen zu behindern. Gründe, dass Getreide nicht ausgeführt werden kann, sind die Sanktionen, die gegen Russland verhängt worden sind, und die Verminung der Ausfahrten der Schwarzmeerhäfen durch die ukrainische Armee. Wenn die Ukraine die Minengefahr beseitigt und die sichere Schiffsnavigation gewährleistet, wird Russland ebenfalls seinen Beitrag leisten, um die Beladung der Schiffe mit Getreide zu unterstützen.

Stattdessen, so gestern Abend in der ARD, versucht die Ukraine ihren Weizen per Bahn nach Westeuropa zu schaffen. Das wird durch die unterschiedlichen Spurweiten von Lokomotiven und Waggons erschwert, da an den Grenzbahnhöfen umständlich umgeladen werden muss, aber auch dadurch, dass längst nicht so viele Waggons und Lokomotiven vorhanden sind, um die angelieferten Mengen aufnehmen zu können. 37.000 ukrainische Güterwaggons sollen derzeit vor den Grenzen der westeuropäischen Nachbarländer stehen und fast drei Wochen lang auf Umladung und Weitertransport warten. ARD Tagesschau ab 6:15

Ich war nicht dabei, als die ukrainischen Häfen vermint wurden, kann also nicht sagen, ob es wirklich die Ukraine war, für die es allerdings leichter gewesen wäre, praktisch vor der eigenen Haustür Minen zu legen, oder ob doch die Russen, die sich da in größter Gefahr entdeckt, beschossen und versenkt zu werden, vorwagten, um die Ukraine von Waffenlieferungen per Schiff abzuschneiden.

Wenn jetzt aber eine Hungerkatastrophe in Nordafrika droht und humanitäre Hilfe in Form von Weizenlieferungen dringend erforderlich ist, dann sollte man doch den Kreml-Sprecher ernst nehmen, die Minen räumen und die Getreide-Schiffe in Richtung Türkei und Ägypten in See stechen lassen, statt darauf zu hoffen, dass sich das Problem mit Waffenlieferungen an die Ukraine irgendwann auf andere Weise lösen lässt. Es sind ja – heißt es – immerhin noch 10 Wochen Zeit, bis die Welt-Weizen-Reserven verbraucht sind.

 

Aber Russland ist nicht bei allen Gütern, die auf dem Weltmarkt benötigt werden, so großzügig. Eine ganze Reihen von „unfreundlichen“ Staaten, die russische Exporte in Rubel bezahlen sollen, um beliefert zu werden, wollen die Schande, mit etwas anderem als US-Dollar, eventuell auch noch mit Euro bezahlen zu müssen, nicht auf sich nehmen und schließen sich lieber dem gemeinsamen „Frieren für den Frieden“ an. Nach Polen und Bulgarien, Dänemark und den Niederlanden, hat sich nun auch der NATO-Beitrittskandidat Finnland zu diesem Schritt entschlossen. Ersatz für das russische Gas, das etwa 8 Prozent des finnischen Energiebedarfs abdeckt, soll über eine Pipeline aus Estland kommen. Es kann sich hier nur um die „Balticonnector“ handeln, deren Bau 2016 von der EU vorangetrieben wurde.

Betrachtet man den Kartenausschnitt etwas genauer, entdeckt man sogar die Herkunft des Gases, das demnächst von Estland nach Finnland geliefert werden soll.

Langfristig setzen übrigens auch die Finnen auf Flüssiggas-Importe aus den USA. Es bleibt zu hoffen, dass es für die vielen neuen Flüssiggas-Importeure auch genug LNG-Gas geben wird.

Bei german-foreign-policy.com hat man den riskanten Erdgaspoker der EU unter die Lupe genommen. Speziell auch den Hickhack um die großen Erdgasspeicher, die ja wegen Sanktionen und Gegensanktionen Russlands von Gazprom Germania nicht mehr befüllt werden können. Da wird auch der Habeck-Befehl zum Füllen der Speicher keine Wirkung mehr zeigen können, denn Gas, das nicht geliefert wird, lässt sich auch schwer speichern.

Über den jeweils aktuellen Füllstand der Speicher können Sie sich übrigens hier informieren.

 

Die jüngste bösartige Attacke Russlands hat auch mit Gas  zu tun, aber mit Gas anderer Qualität, und zielt direkt auf das Herz des westlichen Fortschritts. Die Meldung klingt für den Laien zunächst nicht besonders bedrohlich: Vorläufig bis zum Ende des Jahres 2022, wurde gegenüber den unfreundlichen Staaten ein Exportverbot für Technische Gase verhängt.

Argon, Krypton, Neon, usw. Edelgase, von denen Russland 30 Prozent des Weltmarkts beliefert, werden also erst einmal teuer und dann knapp. Sehr knapp. Nun ist es nicht so, dass man nicht auch noch die letzten Neonröhren schnell durch LED-Lichtquellen ersetzen könnte. Doch darum geht es Russland auch nicht. Diese Gase sind unverzichtbare Hilfsmittel für die Halbleiter-Industrie. Keine Chip-Fabrik kann ohne diese Gase betrieben werden – und weil auch in LED-Leuchten (kleine) Chips verbaut werden müssen, werden die letzten Neon-Röhren wohl noch ein bisschen länger flackern müssen.

Es wird einen Wettstreit um die Kapazitäten der noch betreibbaren Chipfabriken ausbrechen, und diesen Wettstreit wird zweifellos die Rüstungsindustrie gewinnen, weil der Preis da, wo es um Leben und Tod geht, keine Rolle spielen darf.

Wer das bekommt, was dann noch übrig ist, wird ebenfalls der Markt bestimmen. Ob es die Automobilindustrie sein wird, die zähneknirschend zahlt, um überhaupt weiter produzieren zu können, oder die Smartphone-Hersteller, wird die Zeit zeigen. Einfache Produkte mit eher niedriger Verdienstspanne, werden  entweder wieder durch ihre analogen Vorgänger ersetzt, oder ganz aus dem Markt verschwinden. Möglicherweise wird in Deutschland sogar eine Behörde, analog zur Bundesnetzagentur gegründet, die den Mangel zentralistisch verwaltet und zuteilt.

Zu den überlebenswichtigen Chipfressern einer hochgerüsteten Industrienation gehört übrigens auch die Wunderwaffe, die Olaf Scholz nun der Ukraine versprochen hat, zu liefern:

Iris T

Iris T ist ein vom deutschen Rüstungskonzern Diehl entwickelter Luft-Luft-Lenkflugkörper mit höchst bemerkenswerten Eigenschaften. Hier ein kurzes Zitat aus dem Wikipedia-Artikel über das Zusammenwirken von Flugzeug, Pilot und Iris T:

Die Raketenwarner sind Teil des EuroDASS Praetorian und arbeiten mit aktivem Millimeterwellen-Radar. Zwei davon befinden sich in den vorderen Flügelwurzeln, ein weiterer am Heck der Maschine. Objekte innerhalb einer Sphäre um den Eurofighter, mit Ausnahme direkt darüber und darunter, können so lokalisiert und verfolgt werden. Der Pilot muss dadurch sein Flugzeug nicht mehr in Abschussposition manövrieren oder den Kopf bewegen, die Ziele werden per Spracheingabe ausgewählt und der Abzug gedrückt. Der Eurofighter kann somit stets dem optimalen Kurs folgen, um gegnerischen Lenkwaffen auszuweichen. Aufgrund des neuartigen Suchkopfes können mit der IRIS-T auch Luft-Luft- und Boden-Luft-Raketen bekämpft werden, um den Eurofighter als Hardkill-System zu verteidigen.

Bekanntlich ist die ukrainische Luftwaffe bereits in den ersten Kriegstagen weitgehend ausgeschaltet worden. Was soll also ein Luft-Luft-Waffensystem da noch helfen? Nun, auch dazu gibt die Wikipedia Auskunft:

Die bodengestützte Variante IRIS-T SL (Surface Launched) soll (…) im taktischen Luftverteidigungssystem Medium Extended Air Defense System (MEADS) gegen Flugzeuge, Hubschrauber oder gegnerische Lenkflugkörper eingesetzt werden. (…) Diehl Defence entwickelte auf der Basis dieses Flugkörpers mittlerweile das Luftverteidigungssystem IRIS-T SLM. Der erste Käufer dieses Systems ist Schweden.

Und genau dieses für Schweden im Zusammenbau befindliche System, das im Herbst fertig montiert sein wird, hat Bundeskanzler Olaf Scholz nun der Ukraine versprochen, was zweifellos, sollte es dort noch zum Einsatz kommen,  vor allem schöne Verkaufsargumente für die deutsche Rüstungsindustrie generieren wird, zumal Scholz dazu gesagt hat, damit könne man eine ganze Stadt verteidigen.

Selbstverständlich kann davon ausgegangen werden, dass das russische Militär nicht nur die öffentlich zugänglichen Informationen über dieses Luftabwehrsystem kennt, dass sich weder durch IR-Täuschkörper noch durch Laserblendung davon ablenken lässt, einem einmal erkannten Ziel beharrlich zu folgen, sondern auch schon über neue Möglichkeiten, die Iris T unschädlich zu machen, nachgedacht hat. Diese Rakete wäre sicherlich ein lohnendes Ziel für fortgeschrittene elektronische Stör-, bzw. Manipulationsmittel, über die Russland ja verfügen soll, sie aber im Ukraine-Krieg, soweit ich das einschätzen kann, noch nicht zum Einsatz gebracht hat.

 

Unserer Außenministerin ist es im Zusammenhang mit immer mehr Lieferungen – auch schwerer Waffen – an die Ukraine gelungen, dem Begriff „Deeskalation“ eine neue, fortschrittliche und wegweisende Bedeutung zu verleihen.

Die Nachrichtenpostille t-online.de berichtet, dass Annalena Baerbock dem SPIEGEL gegenüber in Bezug auf die Gefahr eines drohenden Atomkrieges zum Ausdruck gebracht hat, sie verstünde, dass man in einem Land, dem so lange vergönnt war, in Frieden zu leben, Sorgen hat.

Und jetzt kommt’s: Weil das Ziel der westlichen Politik die Deeskalation sei, „müssen wir Putin deutlich machen, dass wir unser Bündnisgebiet mit allem, was wir haben, verteidigen.“

Das kann man nur so verstehen, dass die fortschreitende Eskalation des Einsatzes von Waffen aus aller westlichen Herren Länder gegen die russischen Streitkräfte in der Ukraine nur eine besondere Art der Demonstration militärischer Fähigkeiten im Rahmen eines Stellvertreter-Präventivkrieges sei, mit dem Ziel, Russland vor einem Angriff auf ein Mitglied des NATO-Bündnisses abzuschrecken.

Ob man Putin auf diese Weise auch deutlich machen kann, dass „unser“ Bündnisgebiet längst unabhängig von russischem Gas ist, und wir überhaupt Erdgas aus Russland überhaupt nur noch importieren, um unseren guten Willen zur Versöhnung zu zeigen, darf bezweifelt werden.

Würden heute die Ventile der russischen Pipelines geschlossen, hätte das auf die Verteidigungsfähigkeit und Überlebensfähigkeit der EU-Staaten eine weitaus stärkere Auswirkung, als der Abwurf von 10 Atombomben.

Es kapiert nur niemand, dass ohne Strom nichts mehr geht, und dass das europäische Stromverbundnetz ohne russisches Gas binnen weniger Tage zusammenbrechen würde.

Die nachstehende Grafik von agora-energiewende.de zeigt den Verlauf des Stromverbrauchs der letzten dreieinhalb Tage (dünne rote Linie) und den Verlauf der Stromerzeugung aus unterschiedlichen Quellen. Deutlich zu erkennen ist, dass regelmäßig mit dem nachlassenden Sonnenschein bei nur mäßiger Windausbeute der Energiebedarf aus inländischer Erzeugung nicht gedeckt werden konnte. Ohne konventionelle Kraftwerke sowieso nicht.

Die hellblaue Fläche über den gelben Solarzacken entspricht der Stromerzeugung aus Gaskraftwerken. Fällt die weg, ist nicht einfach nur weniger Strom da. Die Netzfrequenz von 50 Hertz ist dann ohne großflächige Stromabschaltungen nicht zu halten und die Wahrscheinlichkeit für einen europaweiten, mehrere Tage anhaltenden Blackout liegt dann sehr nahe bei 100 Prozent.

Während ich dies schreibe, habe ich den aktuellen Verlauf der Netzfrequenz über fünf Minuten verfolgt. Siehe nachstehende Grafik. Diese Daten können ständig unter dieser URL https://www.netzfrequenzmessung.de/verlauf.htm abgerufen werden.

Schon am Mittag, bei viel Sonne, ist die Frequenz nur durch Zuschaltung von erheblichen Mengen so genannter Primär-Regelleistung in der Nähe von 50 Hz zu halten.

 

Es ist sonderbar.

Da wird Putin auf der einen Seite absolut verteufelt, und andererseits vertraut man fest darauf, dass er den Gashahn schon nicht zudrehen wird. Da frage ich mich schon, bei wem da eher ein schizoides Verhalten diagnostiziert werden muss.