PaD 20 /2020 Hier auch als PDF verfügbar: PaD 20 2020 Was, und wohin, treibt die Menschheit
„Aber:
Der Lockdown ist für die Menschen sehr, sehr sinnvoll, einfach um einmal wirklich Sand ins Getriebe des Treibens der Menschheit zu streuen und einen klareren Blick zu entwickeln.“
Das schrieb mir eine gebildete, hochintelligente Frau in bester Absicht als Randbemerkung in einer Mail, welche im Übrigen das glatte Gegenteil besagte.
Am Schlechten immer noch etwas Gutes zu finden, im Risiko die Chance zu sehen, auf das Rettende in der Gefahr zu hoffen, das sind Prinzipien, die seit allen Zeiten zum Repertoire der Gurus aller Zielrichtungen gehören. Es verhält sich damit wie mit den Gebetserhörungen. Die positiven Fälle dienen zur Glaubensstärkung, die negativen werden ignoriert.
Weil ich die Schreibende schätze, und weil ich weiß, dass der Gedanke, die Welt müsste einfach einmal angehalten, die Zeit zurückgedreht werden, um die verlorene Balance zwischen allem und allem wiederherzustellen, gar nicht so selten vorgetragen wird, verweilte ich länger bei diesem Satz.
Der Versuch, den Satz, bzw. seine Elemente wörtlich zu nehmen, führt zunächst zu einem Bild der Zerstörung. Sand im Getriebe zerstört das Getriebe. Entweder werden einzelne Zahnräder nach und nach so abgeschliffen, dass der Antrieb leer durchdreht, oder der Sand blockiert das Getriebe und würgt damit den Motor ab. Es wird wohl die zweite Variante gemeint sein, weil das Treiben, also der Antrieb der Menschheit, durch den Lockdown zumindest teilweise zum Stillstand gebracht wurde.
Es ist auch richtig, dass ein blockiertes Getriebe, in dem sich nichts mehr bewegt, die Funktion des Getriebes besser erkennen lässt. Ein „klarerer“ Blick auf die Rädchen und Wellen wird möglich, das Zusammenwirken deutlicher sichtbar. Soweit alles klar.
Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage nach dem „Mechaniker“, der das Getriebe vom Antrieb trennen, ausbauen und das Gehäuse öffnen kann, um mit klarem Blick das Innere zu begutachten. Es bleibt Hochgrad-Esoterikern vorbehalten, dem Getriebe die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zuzusprechen, oder gar vom treibenden Motor anzunehmen, er sei in der Lage, sich das ihm nachgeschaltete Getriebe und dessen Funktionalität bewussst zu machen. Angenommen, Motor und Getriebe sind in einem Automobil verbaut, wird auch diese übergeordenete, endlich auf einen Zweck ausgerichtete Gesamtheit, nicht in der Lage sein, ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln. Das Zusammenwirken hunderter spezialisierter Konstrukteure war erforderlich, das Automobil in seiner Gesamtfunktionalität zu ersinnen und hunderte von Arbeitern waren erforderlich, um Teil für Teil zu erzeugen und sinnvoll zusammenzufügen.
Nur Mechaniker mit hinreichender Erfahrung und dem notwendigen Werkzeug können einen Getriebschaden erkennen und ggfs. auch heilen. Dass Mechaniker, wie Feuerwehrleute, die einen Brand legen, um endlich löschen zu können, Sand in ein Getriebe streuen würden, um es reparieren zu können, davon habe ich noch nichts gehört, obwohl es natürlich auch nicht ausgeschlossen werden kann.
Relativ sicher ist jedoch, dass der Mechaniker mit seinem klaren Blick auf das stillstehende Räderwerk keine andere Wahl hat, als das Getriebe so zu reparieren, dass es seine alte Funktion wiedergewinnt, oder das zerstörte Getriebe ins Altmetall zu werfen und ein funktionsfähiges Getriebe gleicher Bauart und Funktionalität einzusetzen.
Damit erscheint der Analogieschluss zulässig, dass sich das Treiben der Menschheit, auch nach einem klareren Blick auf das Getriebe, nicht verändern wird, wenn eines Tages der Sand wieder aus dem Getriebe entfernt ist.
Damit schwindet allerdings auch die Schönheit des Bildes vom Sand im Getriebe dahin, das ja von der Prämisse lebt, die Menschheit sei in der Lage, sich selbst zutreffend zu diagnostizieren und ihr Getriebe so verändern, dass …
Ja, was?
Da öffnet sich ein Universum von Vorstellungen, wie die Menschheit denn sein könnte, wenn nur dies und jenes so, statt so, wenn das eine unterlassen, das andere dafür in Angriff genommen würde, und jede einzelne dieser Vorstellungen setzt irgendwo im Kleingedruckten, wenn auch vielfach umschrieben und bemäntelt, die immer gleiche Voraussetzung: „Wir brauchen ja nur den besseren Menschen – und zwar sofort!“
Der „bessere Mensch“ entspricht dann weitgehend dem Selbstbild derer, die ihn fordern, korrigiert um jene schlechten Eigenschaften, die man selbst sofort ablegen könnte, wenn nur alle anderen endlich so wären, wie die Vorstellung, die man von sich selbst hat.
Ein besonnener Blick in die Geschichte könnte genügen, um die Illusion von der mit dem Finger schnippenden Fee, die im Nu alles Kranke heilt, zerplatzen zu lassen. Der gleiche Blick in die Geschichte zeigt aber auch, dass die Menschheit in ihrer Entwicklung nie wirklich stehengeblieben ist. Der älteste Skelettfund, der einem „Menschen“ zugeordnet werden kann, wird auf ein Alter von 4,4 Millionen Jahren taxiert. Das ist ziemlich viel Zeit – und wenn man die Generationenfolge mit einem durchschnittlichen Abstand von 20 Jahren ansetzt, erstehen vor unserem geistigen Auge 220.000 Generationen menschlichen Lebens. Aus deren Erfahrungen, ihren Erfolgen und Misserfolgen, sind die „Regeln“ des Zusammenlebens der momentan aktiven Generationen erwachsen, ob sie uns nun gefallen, oder nicht. Sie sind die Randbedingungen unseres Lebens – und die werden sich auch weiterhin nur ganz allmählich verändern.
Wir sind eine sehr „erwachsene“ Gesellschaft, aus der Sicht unserer Urahnen, aus der Sicht unserer in ferner Zukunft lebenden Kinder und Enkel werden wir vermutlich als eine naiv-törichte Gesellschaft angesehen, die den Grundstein für eine verheerende Bevölkerungsexplosion auf der Erde gelegt und die Ressourcen des Planeten in unvorstellbarem Maße geplündert hat. Genausogut kann es anders kommen. Womöglich sind wir, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts die letzte menschliche Hochkultur für Jahrtausende und die Artefakte unserer Zivilisation werden künftige Archäologen vor unlösbare Fragen stellen, die sie – um überhaupt etwas dazu zu sagen – als religiöse Kultgegenstände ausgeben werden.
Die Titelfrage: „Was, und wohin treibt die Menschheit?“, muss, in Bezug auf das „Wohin“ vollkommen offen bleiben. Auch sämtliche aktuell kursierenden Prognosen für die nähere Zukunft sind nur Extrapolationen, zumeist aus minimalen Ausschnitten von Kurzzeit-Erfahrungswerten, unter Ausschluss der Möglichkeit, es könnten sich, außer den betrachteten Parametern noch andere Veränderungen ergeben.
Que sera sera,
Whatever will be, will be,
The future’s not ours to see.
Que sera sera.
Worüber wir etwas mehr wissen, ist die Frage, was die Menschheit antreibt.
Wir wissen nämlich, dass die Menschheit als ein sich selbst bewusster Meta-Organismus nicht existiert und folglich auch keine Meta-Motivation, kein Menschheits-Antrieb festgestellt werden können. Die Entwicklung der Menschheit ist das Ergebnis der Entwicklung der menschlichen Individuen. Die Menschen, als eigenständige Wesen, bilden und formen die Erscheinung der Menschheit. Nicht umgekehrt. Die Menschheit wird zum Abstraktum, wenn man, über das Zählen, Messen und Wiegen hinaus, versucht ein Menschheitsbewusstsein und einen Menschheitswillen zu ergründen.
Zurückgeworfen auf das einzelne Individuum wird es relativ leicht, dessen Motivation zu erkennen, weil wir die individuellen Bedürfnisse kennen, die auf dem Keim der Existenz des gesunden Exemplars der menschlichen Rasse aufsetzen, nämlich dem genetisch verankerten Willen zum Überleben – und zur Weitergabe des Lebens an eine neue Generation.
Das ist der Kern des Strebens nach Glück, und es ist die Ursache dafür, dass der Hungrige, der einen Apfel findet, dabei mehr Glück empfinden kann als der Reiche, wenn er seine Kontoauszüge betrachtet. Weil andererseits das Glück von Eltern bei der Geburt eines Kindes von äußeren Umständen getrübt sein kann, ist der Sexualtrieb so stark ausgeprägt, dass er alle düsteren Gedanken und Zukunftssorgen zu überwinden vermag. Verhütungspraktiken aller Art verhindern zwar den Fortpflanzungserfolg, sind aber ihrerseits nur ein Tribut an den Sexualtrieb und belegen seine Macht über den Menschen.
Zurück zum Apfel und zu den Kontoauszügen.
Glück ist relativ, das haben wir schon festgestellt, aber es ist auch vergänglich. Das Streben nach Glück setzt also immer wieder neu ein. Der Hungrige wird morgen wieder nach einem Apfel suchen, und, falls er wieder einen findet, erneut ein Glücksgefühl erleben. Sollte er jedoch einen ganzen Korb mit Äpfeln finden und an sich nehmen können, wird sein Glück mit jedem Apfel, den er daraus isst, geringer. Der junge Mann, der stolz und überglücklich die ersten selbstverdienten Tausend Euro in Händen hält, wird diesen Glücksmoment selbst bei der ersten selbstverdienten Million nicht mehr lebendig machen können.
Von da aus gibt es zwei Wege:
- Den Weg der Bescheidenheit und Zufriedenheit, in dem das Streben nach Glück eingeschläfert wird, bis der Obstbauer, zu dem sich der Hungrige entwickelt hat, nach einer Missernte doch noch ein Bäumchen voller schöner Äfpel findet, oder bis der Multimillionär nach einer Fehlspekulation sein Vermögen verloren hat und es ihm gelingt, aus eigener Kraft wieder ein Einkommen zu erwirtschaften, das ihm Sicherheit gibt.
- Den Weg der Gier, der daraus entsteht, dass das Streben nach Glück die Wiederholung eines ursprünglichen Glückserlebnisse erzwingen will, das in der Steigerung der Quantität erhofft wird. Auf diesem Weg wird der Hungrige, erst zum Obstbauern, dann zum Großgrundbesitzer, dann errichtet er die erste Konservenfabrik und bleibt dennoch ruhe- und rastlos, ohne das Glück, das er sucht, auf diesem Wege erreichen zu können.
Diejenigen, die den zweiten Weg weit gegangen sind und dabei in den Augen ihrer Mitmenschen erfolgreich waren, die aber erkannten, dass das Glück, dem sie nachjagen, auf diesem Wege nicht zu finden ist und ihn verlassen haben, nennt man – vom zweiten Weg her und eher geringschätzig – Aussteiger.
Diejenigen, die immer auf dem ersten Weg geblieben sind, nennt man – vom zweiten Weg her geringschätzig – Versager. Ihnen fehle die Motivation, der Antrieb. Die dürften sich nicht wundern, wenn sie nichts zustande bringen.
Wo, in welchem Lager, auf welchem Wege, finden wir nun den besseren Menschen, auf welchem Wege bewegt sich der schlechtere Mensch? Welcher von beiden muss sich ändern, damit die Welt zu einer Herberge der Glückseligkeit werden kann? Was verdankt die Menschheit den Bescheidenen und Zufriedenen, was den Ehrgeizigen, die ruhelos nach Macht und Reichtum streben, weil sie darin ihr Glück zu finden glauben?
Wo stünde die Menschheit, bewegten sich alle ihre Mitglieder im Gleichschritt auf dem gleichen Weg?
Hätte eine Welt voller bescheidener und zufriedener Menschen die Höhlen heute schon verlassen, den Faustkeil aus Muschelkalk wenigstens gegen die eiserne Axt ausgetauscht? Hätte sich aus Sippen und Dorfgemeinschaften jemals der Zusammenhalt und das arbeitsteilige Wirtschaften größerer Völker entwickeln können, wenn alle ihre Mitglieder mit gleicher Gier und gleicher Raffinesse im Ringen um Besitz und Eigentum unablässig gegeneinander gekämpft hätten?
Zugegeben, das ist eine holzschnittartige Betrachtung, die alle sonst möglichen Facetten des Zusammenlebens außer Acht lässt, doch ist es eben ein Spiegelbild des Denkens jener, die sich einen „besseren Menschen“ erwarten, oder ihn gar heranerziehen wollen, um eine bessere Welt errichten zu können.
Das vorübergehende Innehalten der Menschheit wegen der von der Virus-Pandemie ausgehenden Gefahr, war eine Reaktion, die eher dem Abwarten des Automobilisten angesichts einer die Straße querenden Schafherde zu vergleichen ist, als einem Sabotageakt, mit dem das Getriebe zerstört wurde. Große und kleine Zahnräder werden, sobald wieder Gas gegeben wird, in gleicher Weise ineinander greifen, wie vor der Krise, denn die Verhältnisse zwischen jenen, die den ersten Weg gehen und jenen, die den zweiten Weg gehen, wurden durch das Virus nicht verändert.
Es ist dies der Zustand der Menschheit, den wir nach 4,4 Millionen Jahren erreicht haben, und das, obwohl wir immer noch mit einem nicht synchronisierten Getriebe unterwegs sind, das jedesmal laut krachend reagiert, wenn zwischen Ein- und Auskuppeln versäumt wurde, wohldosiert Zwischengas zu geben. Da revoltieren mal die kleinen, mal die großen Zahlräder mehr, je nachdem, ob gerade ein Gang rauf oder runter geschaltet wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass das Synchronisierungsproblem zwischen Weg 1 und Weg 2 im Laufe der Zeit auch noch gelöst werden wird. Dann wird die Welt wieder ein Stück besser geworden, die Menscheit aber noch lange nicht an einem Endpunkt der Entwicklung angekommen sein.
Bis dahin bleibt uns nur übrig, uns in unserem jeweiligen Lebensbereich so einzurichten, dass wir darin – ob nun in Zufriedenheit, oder auf der Jagd nach mehr – alles das relativ sicher vorfinden, was wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse benötigen – und die hören beim Stillen des Hungers schließlich nicht auf. 220.000 Generationen vor uns haben das versucht und sind dabei ganz schön weit vorangekommen.
An uns liegt es, die nächsten Schritte zu tun, die Vision der besseren Welt vor Augen, aber bitte nicht so, dass sie uns vom Weitergehen abhält.
Sand ins Getriebe …
Diejenigen Visionäre, welche die Vergabe dringend benötigter Corona-Wiederaufbauhilfen in einer unbarmherzigen Absolutheit davon abhängig machen wollen, dass alles Geld auch, und wenn möglich vor allem, nur in Projekte fließt, die der CO2-Neutralität, dem Naturschutz und der Feinstaubreduzierung dienen, könnten das Getriebe tatsächlich zum Stillstand bringen. Gut gemeint, sicherlich …