Staat? Was ist das?

PaD No. 26 /2019 – hier auch als PDF verfügbar:PaD 26 2019 Staat – Was ist das

 

 

Wolfgang Schimanks Buch, „Ist Deutschland ein souveräner Staat?“, erschienen im Anderwelt Verlag,
stellt
eine vermeintlich harmlose Frage und gibt verstörende Antworten darauf.

Doch dass Schimank die Betonung auf „souverän“ legt, bringt gleichzeitig jenes Andere, nämlich die Frage nach der tatsächlichen Staatlichkeit jenes ziemlich amorphen Gebildes hervor, das von  manchen noch „Deutschland“ genannt  wird, von der höchsten Repräsentantin der Exekutive, die wie selbstverständlich auch die Legislative  dominiert, aber lieber nur noch als  „hier“ bezeichnet wird.

Es soll uns nicht die Frage beschäftigten, was Angela Merkel veranlasst, sich in solche diffusen Begrifflichkeiten zu flüchten. Sie ist eine Person der Zeitgeschichte und spielt – von einer Meta-Ebene aus betrachet – nur ihre untergeordnete Rolle, in einem Stück, bei dem ein noch sehr junger, unerfahrener und von daher ausgesprochen risikofreudiger „Zeitgeist“ Regie führt, den zu beleuchten vermutlich klarere Erkenntnisse bringt, als die Betrachtung der Motivlage einer einzelnen Person, die im Strom mit- und bisweilen voranschwimmt.

Musil und der „Zögling Törless“ fallen mir unvermittelt ein. Vielleicht weckt das ja auch bei den Lesern dieses Artikels die eine oder andere Assoziation.

Der Zeitgeist, stets hochaktuell auf den jeweils nützlich erscheinenden Punkt gebracht von den Wikipedia-Geistern, ist schon nicht mehr gewillt, überhaupt eine noch irgendwie handhabbare Definition des Begriffs „Staat“ anzubieten. Momentan (23. Juni 2019) ist da Folgendes zu lesen:

Im weitesten Sinn bezeichnet er (der Begriff Staat) eine politische Ordnung,
in der einer bestimmten Gruppe, Organisation oder Institution
eine privilegierte Stellung zukommt.
Nach Ansicht einiger bei der Ausübung von (politischer) Macht;
nach Ansicht anderer hinsichtlich sowohl der Entfaltung des Einzelnen als auch der Gesellschaft.

Staat ist also im Auge des Zeitgeistes nur noch „Ansichtssache“, hat nichts mehr mit Staatsgebiet und Staatsvolk zu tun, und nur noch im weitesten Sinne mit einer politischen Ordnung, bzw. der Staatsmacht.

Das ist für einen alten weißen Mann wie mich, immerhin werde ich heuer noch 70 Jahrer alt, eine intellektuelle Bankrotterklärung höchsten Grades, um nicht gleich zu sagen: geistiger Dünnschiss.

Eine solche „Umschreibung“, es Definition zu nennen, müsste ich mich schämen, reicht von der vollendeten Anarchie mit Faustrecht, in der Rangordnung noch unterhalb des Treibens auf einem Affenfelsen angesiedelt, bis hin zur Gewaltherrschaft eines Despoten in einem KZ-ähnlich ausbruchssicheren Areal. Sie erhebt die Weltherrschaft von Facebook, Google und Amazon ebenso zum Staat, wie die EU, deren Rädelsführer eben diese Staatlichkeit zur Ausübung von politischer Macht längst an sich gerissen haben.

Wenn der Begriff „Staat“ erst einmal von allen kennzeichnenden Merkmalen befreit ist, dann gibt es keinen Staat mehr, sondern nur noch eine inhaltsleere Worthülse, einen semantischen Wechselbalg, wovon die Angehörigen privilegierter Gruppen, Organisationen oder Institutionen bei Bedarf Gebrauch machen, um ihre Privilegien gegenüber den der Logik entsprechend, notwendigerweise existierenden Unterprivilegierten zu sichern und auszubauen.

Staat, das heißt nach dieser Definition nichts anderes mehr,
als ein immerwährendes Recht zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen,

wie es die Kommunisten den Kapitalisten und die Kapitalisten den Kommunisten vorzuwerfen pflegen. Ein „demokratischer Staat“ ist nach dieser Definition faktisch ausgeschlossen, denn per se  privilegierte Gruppen, Organisationen oder Institutionen stehen im unvereinbaren Widerspruch zur Idee der Demokratie.  Hier lebt ein neuer, vermeintlich aristokratischer, tatsächlich aber nur feudalistischer Geist auf, dessen unerschütterlicher Rassismus sich nicht auf Ethnien bezieht, sondern einfach nur zwischen sich, den Eliten, und den Untermenschen differenziert.

Was heißt da: Er lebt auf? Dieser Geist hat sich längst etabliert, sitzt fest im Sattel, hält die Zügel straff in der Hand, und nachdem seine Herrschaft kaum mehr zu Fall zu bringen ist, gibt er sich und seinen Herrschaftsanspruch den Untermenschen zu erkennen. Noch eingehüllt in das löchrige Gewand der Staatlichkeit, welches aber Stück für Stück bereits abgeworfen wird und den Blick freigibt auf den nackten Machtanspruch.

Beschwichtigende Stimmen erkären dies mit dem Wandel des Bewusstseins der Menschheit, mit dem Erklimmen einer höheren Stufe der Erleuchtung, in der alles Trennende aufgehoben wird, in der es weder Kriege noch Gier und Neid mehr geben wird, weil sich das Wissen um den großen Zusammenhang, in den wir alle eingebunden sind, jäh in den Köpfen manifestiert und jegliche Individualität und alles egoistische Streben sich in Demut und bereitwillig-uneigennützigen Dienst für das „Höchste“ umwandelt, bis das Paradies auf Erden geschaffen sein wird.

In diesem Geist gehen Schüler freitags auf die Straße, besetzen Aktivisten den Hambacher Forst, stören den Betrieb des Braunkohletagebaus Garzweiler, fackeln SUVs ab, im tiefen Glauben an die Rechtmäßigkeit ihres Tuns vor dem rechtfertigenden Hintergrund eines übergesetzlichen Notstands, der von den immer noch existierenden, aber im Endkampf zu besiegenden, reaktionären Kräften der Staatlichkeit ausgelöst wird, deren Agieren nur noch als borniertes Nichtstun wahr- und nicht mehr hingenommen wird.

Von diesem Geist ergriffen, erklärt der Grünen-Frontmann Habeck, er wisse bis heute mit „Deutschland“ nichts anzufangen, werden Demonstrationen durchgeführt, mit Transparenten, auf denen zu lesen ist: „Deutschland verrecke“, skandieren Ergriffene in Dresden: „Bomber Harris, do it again“, während  Angela Merkel auf offener Bühne schon mal couragiert ein Deutschland-Fähnchen aus dem Bild nimmt und eine „deutsche Fußball-Nationalmannschaft“ nur noch schlicht  „die Mannschaft“ heißen darf.

Herbert Grönemeyer, einst erfolgreich als „jungfräulicher Kriegsberichtserstatter“  für „Das Boot“ gecastet und seitdem zum ungekrönten König des teutonischen Sprechgesangs aufgestiegen, fragt in einer seiner Balladen: „Wann ist ein Mann ein Mann?“

Lassen Sie uns die Wikipedia-Erklärung für den Begriff „Staat“ verwerfen und lieber in Anlehnung an Grönemeyer fragen: „Wann ist ein Staat ein Staat?“

Ausgehend von der früheren Definition, wonach ein Staat dann bestand, wenn ihm keines der drei  Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk, und Staatsgewalt fehlte, erschließt sich nicht nur, dass weder ein Staatsgebiet noch eine Staatsmacht ohne ein Staatsvolk exisitieren können, sondern auch, dass das Staatsvolk die eigentliche, konstituierende Kraft  eines Staates darstellt, in dem es ein abgegrenztes Staatsgebiet in Anspruch nimmt, es besiedelt, nutzt und verteidigt, und sich innerhalb dieses Gebietes nach seinen eigenen, allgemein akzeptierten, verbindlichen Regeln verhalten will, deren Durchsetzung von der aus dem Volk heraus etablierten Staatsmacht garantiert wird.

Die Regeln können verändert werden, die Staatsmacht kann unterschiedlichste Ausprägungen annehmen, von der Erbmonarchie bis zur repräsentativen Demokratie, ohne dass dabei die Staatlichkeit verloren ginge. Das Staatsgebiet kann verändert werden, es können Teile dazugewonnen oder abgetrennt werden, auch dies, ohne dass die Staatlichkeit verloren bliebe, nur das Staatsvolk, als einzige und sich in seiner Zielsetzung und Werteordnung einige, konstituierende Kraft des Staates, ist unverzichtbar.

Das Staatsvolk als einen „Meta-Organismus“ zu betrachten, der eine eigene Individualität und einen eigenen Willen trägt und entwickelt, ist zwar verpönt, aber dennoch eine hilfreiche Sichtweise, vor allem dann, wenn man die „einheitliche Ethnie“, ja sogar die „einheitliche Kultur“ als eine vernachlässigbare Größe betrachtet und alleine auf die im ganzen Volk vorhandenen, übereinstimmenden Werte und Zielvorstellungen und den gemeinsamen Willen, sie erhalten, bzw. zu realisieren, abstellt (so sie denn noch zu erkennen sind).

Die Demokratie hat grundsätzlich den Vorteil, übereinstimmende Vorstellungen – zumindest von Wahl zu Wahl – sichtbar zu machen, wie sie auch die Differenzen innerhalb des Staatsvolkes sichtbar  zu machen in der Lage ist. Die Demokratie kann jedoch kaum verhindern, dass Wahlentscheidungen durch gezielte Täuschung der Wähler oder durch kollektive Irrtümer der Wahlberechtigten beeinflusst werden und Wahlergebnisse somit nicht selten auch ein trügerisches Bild der Stimmung im Volke zeichnen.

Andererseits ist zu bedenken, dass das Erinnerungsvermögen eines Staatsvolkes begrenzt ist, und dass Erfahrungen, die nicht von einer „gereiften“ Generation an die nächste weitergegeben werden, eine im historischen Maßstab sehr kurze Wirksamkeitsdauer von nicht mehr als 20 bis 30 Jahren haben, was noch dazu dadurch begünstigt wird, dass alle nachwachsenden Generationen vom Ehrgeiz befallen sind, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und die oft als einengend empfundenen Weisheiten der Älteren ablehnen, ja sogar bekämpfen. Das ist der Grund dafür, dass die Erfahrung „Krieg“ in relativ kurzen Abständen immer wieder neu gemacht wird, oft noch bevor die Erfahrung „Frieden“ überhaupt entstehen konnte.

Es ist auch der Grund dafür, dass der Versuch der Staatsmacht, das eigene Staatsvolk zu beherrschen, statt ihm zu dienen, es zu überwachen, zu kontrollieren und zu schikanieren, statt ihm, als dem Souverän, die höchste Freiheit zu garantieren, ebenfalls immer wieder neu unternommen wird, bis die sich so entwickelnde Diktatur gestürzt  wird und sich ein „Nie wieder!“ für 20, 30 Jahre festsetzt, bis die Erfahrung in Vergessenheit geraten ist und etwas Neues versucht werden muss.

Diese Auseinanderentwicklung von Staatsmacht und Staatsvolk, die sich in wachsendem, gegenseitigem Misstrauen artikuliert, hat für sich alleine jedoch keinen Einfluss auf die Existenz des Staates, in dem sie sich vollzieht. Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsmacht sind vorhanden und interagieren, wenn auch nicht immer harmonisch.

Gefährlicher für den Staat ist das Zerbrechen des Staatsvolkes in zwei oder mehr Fraktionen, die – im Staat – keine verbindende Basis mehr finden können. Die Folge sind Unabhängigkeitsbestrebungen, die wiederum leicht in Bürgerkriege umschlagen können.

Wie aber kommt es zu solchen Bruchlinien?

Es gibt zwei Modelle.

Im ersten Modell gibt es – neben der herrschenden, privilegierten Schicht – im Volk, in der Regel in geografisch relativ exakt umschriebenen Gebieten, ein Missverhältnis zwischen erbrachter Leistung innerhalb der Volkswirtschaft und erhaltenem Anteil am Ertrag. Anders ausgedrückt: Leistungsstarke Regionen werden gezwungen, die leistungsschwachen dauerhaft in einer als ungerecht empfundenen Weise zu subventionieren, was die Erbringer der Leistung inspiriert, ihr Heil in der Flucht aus dem Staatsverband zu suchen. Katalonien ist ein schönes Beispiel dafür.

Im zweiten Modell entsteht der Bruch nicht durch die Ausdifferenzierung innerhalb des bestehenden Staatsvolkes, sondern durch fehlgeschlagene Integration von Migranten, die im Zuwanderungsgebiet ihre eigenen Werte und Zielvorstellungen bewahren und sich damit in Konfrontation zur Ursprungsgesellschaft begeben. Die Bruchlinie verläuft allerdings nicht zwingend zwischen den Migranten und der autochthonen Bevölkerung, sondern quer durch das eingesessene Staatsvolk, und zwar zwischen jenen, die in konservativer Weise von den Migranten nicht nur Integration, sondern sogar Assimilation einfordern, und jenen, die in den Zuwanderern, ganz unabhängig von ihrer Anpassungsbereitschaft, eine Bereicherung sehen. Dieses zweite Modell lässt mangels geografischer Grenzlinien eine Sezession nicht zu. In diesem Modell steigt stattdessen die Wahrscheinlichkeit einer gewalttätigen Auseinandersetzung, bis hin zum Staatsstreich, mit der  Zunahme nicht integrierbarer Migranten kontinuierlich an, weil  sich die vorbeschriebene Grenzlinie damit nämlich immer weiter in den Bereich  der anfänglich Bereicherungsgläubigen hinein verschiebt, bis die Stimmung eines Tages unerwartet kippt. Hier schlagen die Gesetze der Chaostheorie ebenso unvorhhersehbar wie unbarmherzig zu.

Die Ursache für eine solche Entwicklung wird dadurch geschaffen, dass zwischen den Begriffen „Staatsvolk“ und „Bevölkerung“ nicht mehr unterschieden wird, was in Deutschland spätestens mit der Aussage: „… die schon länger hier leben“, quasi zur Doktrin erhoben wurde. Dabei sollte einleuchten, dass zwar ein Staatsvolk in einem abgegrenzten Staatsgebiet unter einer einheitlichen Ordnung, ein Staat ist, eine heterogene Bevölkerung in einem offenen Gebiet unter allen Anzeichen zerfallender Ordnung die Kriterien der Staatlichkeit aber nicht mehr erfüllt.

Deutschland ist, um es krass auszudrücken, ein Verwaltungsbezirk der EU mit stark eingeschränktem, eigenem Gestaltungsspielraum. Eine deutsche Grenze existiert als durchgezogene Linie nur auf Landkarten, nicht jedoch in der Natur, wo selbst halbherzige Versuche, Ein- und Ausreisen zu kontrollieren, von der EU untersagt, bestenfalls vorübergehend gestattet  werden. Innerhalb dieses Verwaltungsbezirkes leben und bewegen sich EU-Europäer und in die EU gelangte Migranten so frei, dass Daten über den Stand der Bevölkerung nur noch grob geschätzt werden können. Ebenso bewegen sich ausländische Unternehmen, sowie ausländisches Kapital in diesem Verwaltungsbezirk aufgrund von Verträgen, die die EU für alle ihre Verwaltungsbezirke geschlossen hat, weitgehend frei – auch weitgehend steuerfrei. Die Staatsmacht, getrennt nach Legislative, Exekutive und Judikative betrachtet, beschränkt sich in der Legislative weitgehend darauf, EU-Recht in so genanntes „nationales“ Recht umzusetzen, und beugt sich bei ihren seltenen, so genannten „Alleingängen“, am Ende doch dem Veto der Kommission oder des EUGH. Die Exekutive sieht sich an geltendes Recht immer weniger gebunden und agiert unter dem vermeintlichen Diktat der Alternativlosigkeit entweder nach einer geheimen Agenda, oder willkürlich nach Gutsherrenart, jedenfalls kaum noch berechenbar. Die Justiz, wo sie nicht bereits privatisiert wurde, wie bei so genannten Meinungsverbrechen, wie Hass und Hetze, und soweit sie nicht wegen chronischer  Überlastung ihrer personell unzureichend ausgestatteten Organe faktisch zum Stillstand gekommen ist, erweckt zunehmend den Anschein, mit zweierlei Maß zu messen und trägt damit zur Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft bei.

 

Ist Deutschland also noch ein Staat?

Mir fallen da ausgerechnet jene Stimmen ein, die sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 (BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag) berufen, in dem es heißt:

Das Grundgesetz geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 [277]; 3, 288 [319 f.]; 5, 85 [126]; 6, 309 [336, 363]), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig.

Für die Bundesrepublik Deutschland würde ich das heute so formulieren:

Die 1949 gegründete und seitdem durch den Beitritt des Saarlands und der so genannten neuen Bundesländer erweiterte Bundesrepublik Deutschland ist weder durch ihre Mitgliedschaft in der NATO, noch durch ihren Eintritt in die Europäischen Union, auch nicht durch Artikel 24 und den nachträglich ins Grundgesetz eingefügten Artikel 23 (1992) und die damit legalisierte Übertragung von Hoheitsrechten auf „zwischenstaatliche Einrichtungen“ mit dem Ziel der Verwirkichung eines geeinten Europas, in ihrer Existenz beeinträchtigt. Die Bundesrepublik Deutschland existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Einzelstaat aufgrund freiwillig abgetretener Kompetenzen und eingegangener Verpflichtungen und Selbstbeschränkungen selbst nur noch bedingt handlungsfähig.

 

Das ist der Zeitgeist.

Schreibt man diesen Zeitgeist fort, dann werden jene, die sich in dreißig Jahren noch als „Bundesbürger“ bezeichnen, und darauf pochen, die Bundesrepublik Deutschland sei nicht untergegangen, sondern müsse nur wieder zum Leben erweckt werden, ebenso kritisch beäugt werden, wie heute die Reichsbürger. Das ist der Zeitgeist. Da kann man nichts machen.

Wer in eine bestehende Gesellschaft hineingeboren wird und darin aufwächst, wird ihr So-Sein als normal und vollkommen richtig empfinden. Dass die Umstände auch ganz anders sein könnten, ja dass sie sogar einmal besser gewesen sein sollen, entspringt nicht der eigenen Erfahrung und ist daher nur von geringem Gewicht.

Das ist eine weise Einrichtung des menschlichen Wesens, nur den Verlust empfinden zu können, der einem selbst zugefügt wurde. Die jungen Leute, nehmen wir bewusst die Unter-Dreißigjährigen, die sich in großer Zahl den Grünen verbunden fühlen, die als Nationalhymne am liebsten „Klima, Klima über alles!“ singen würden, die ihren relativen Wohlstand gedankenlos und undankbar genießen, weil sie diesen Wohlstand für gottgegeben halten und keinen Gedanken daran verschwenden, woher er gekommen sein mag, finden auch den Begriff „Staat“ nicht mehr zeitgemäß, weil sie keinen Gedanken daran verschwenden, was „Staatlichkeit“ im innersten Kern bedeutet, wie sie nach 1945 den Alliierten abgerungen werden musste, wie sie, auch auf dem Weg der Aussöhnung mit dem Osten durch Willy Brandts Politik überhaupt erst gefestigt werden konnte, bis am vorläufigen Ende mit dem Beitritt der neuen Bundesländer, wie es im Grundgesetz nun heißt: „… die Einheit Deutschlands vollendet wurde“.

Wenn schon ein nicht mehr ganz so junger Robert Habeck mit „Deutschland“ noch nie etwas anfangen konnte, wie soll man den noch Jüngeren verständlich machen, dass die EU, in die sie hineingewachsen sind, gerade im Hinblick auf die demokratischen Mitbestimmungsrechte der Bürger gegenüber dem, was das Grundgesetz vorgesehen hat, einen argen Rückschritt darstellt. Sie kennen Deutschland doch nur als EU-Mitglied mit ausgehöhlter Souveränität. Sie wissen auch nicht einzuschätzen, welchen Wert Deutschland aufgegeben hat, als es sich von der Deutschen Mark trennte und sich auf die Gemeinschaftswährung „Euro“ eingelassen hat.

 

Das ist der Zeitgeist.

Es macht kaum noch Sinn, dagegen anzuschreiben. Gelesen und verstanden wird es sowieso nur noch von denen, die sich erinnern können – und die werden immer weniger, auch zunehmend leiser.

Es hängt eine Wolke von Resignation über Deutschland. Nicht nur, dass sich sechs Millionen damit eingerichtet haben, ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise von Sozialtransfers zu bestreiten: Menschen, die heute 30 Jahre alt sind, haben als 10-Jährige vielleicht mitbekommen, dass dem Bau des Hauptstadtflughafens nichts mehr im Wege steht, so dass sie als 18-Jährige damit rechnen können, den BER in Betrieb zu erleben, doch die „Erfahrung“ wir schaffen es nicht, einen Großflughafen zu bauen, wird nicht ernstgenommen, sondern nur spöttisch-schmunzelnd zur Kenntnis genommen, weil das ja nicht auf sie selbst, auf die Deutschen, als Armutszeugnis zurückfällt, weil es die ja gar nicht gibt,  sondern dass es nun einmal so ist, wie es ist. Da kann man nichts machen! Nicht mehr als das, was sowieso getan wird.

Die heute Dreißigjährigen haben als 10-Jährige vielleicht mitbekommen, dass sich die Bundeswehr am Krieg in Jugoslawien beteiligt, und leben seither mit einer Vielzahl von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, nacheinander und parallel. Es ist ihre Erfahrung, dass die Bundeswehr im Krieg ist. Dass das Grundgesetz die Bundeswehr zur reinen Verteidigungsarmee bestimmt hat, wissen sie vermutlich gar nicht, denn permanenter Krieg mit deutschen Truppen ist die Normalität, in der sie aufgewachsen sind.

Die heute Dreißigjährigen halten ein umfassendes pornografisches Angebot im Internet für ebenso selbstverständlich, wie die Tatsache, dass Angela Merkel Bundeskanzler ist und es schon war, bevor sie noch zum ersten Mal selbst einen Bundestag wählen durften. Wie wollen sie die Qualität eines Regierungschefs ermessen, wo ihnen doch kein Vergleichsmaßstab zur Verfügung steht? Wie wollen sie normales Sexualverhalten von perversem unterscheiden, wo sie doch von Jugend an mit allen Spielarten der Perversion vertraut gemacht worden sind.

Das soll nicht als Anklage gegen die jüngere Generation verstanden werden, nur als Erklärungsversuch für das nachvollziehbare Verhalten der in die bereits beginnende Dekadenz  Hineingeborenen.

Wenn Thilo Sarrazin sein erstes aufsehenerregendes Buch mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ versehen hat, dann zeigt sich darin nicht der angeprangerte Rechtspopulismus des schon wieder vom Parteiausschlussverfahren bedrohten SPD-Mitglieds Sarrazin, sondern seine Interpretation eines real exisitierenden Generationenkonflikts, der sich solange noch weiter verschärfen wird, wie die heute 60- und 70-Jährigen noch fähig sind, Vergleiche zu ziehen.

Man muss einsehen, dass die ewige Wiederholung der Ansage: „Die Jugend ist unsere Zukunft“, im Umkehrschluss auch als: „Die Alten sind unsere Altlast aus der Vergangenheit“, verstanden werden kann. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied. Jede Generation schafft sich die Umstände, mit denen sie zurechtkommen muss, selbst. Wohl dem, der im Alter nicht auf das Wohlwollen der Jugend angewiesen ist! Wohl denen, denen es gelingt, im Versagen der hochfliegenden Pläne noch eine Bestätigung für ihre eigenen Ansichten zu finden, ohne davon selbst allzu negativ betroffen zu sein.

Die Chancen dafür sind für uns heute besser als die jener Alten, die bis 1933 nicht müde wurden, vor den hochfliegenden Plänen des Nationalsozialismus zu warnen. Denn zwölf Jahre später standen sie, noch älter geworden, zusammen mit den besiegten Jungen in der gleichen Trümmerwüste und mussten sehen, wie sie zurechtkommen.

Der Zeitgeist heute ist nicht auf kriegerische Expansion aus. Er ist eher von selbstzerstörerischer Natur. Ich glaube, dass damit für jene, die das Ende zu erkennen vermögen, besser umzugehen ist als mit englischen und amerikanischen Bombenteppichen. Vor allem könnte es sein, dass der Suizid abgebrochen wird, bevor der Arzt mit dem Totenschein die letzte Kapitulationsurkunde unterzeichnet. 

Hier kommt noch einmal die Doppelrolle der EU ins Spiel. Der Anspruch, die Mitgliedsstaaten durch die Übernahme von Souveränitätsrechten mehr und mehr zu entstaatlichen, auch um damit den Wirtschaftsriesen Deutschland unter Kontrolle zu halten, wird ins Gegenteil verkehrt, wenn Deutschland  sich aus freien Stücken „abschafft“ und damit die EU insgesamt in einem für Brüssel unerträglichen Maße entwertet. Noch lässt man Deutschland die selbst eingebrockte Suppe schadenfroh selbst auslöffeln. Doch der Tag, an dem in Berlin eine Troika auftaucht, um die Zugmaschine der EU wieder flottzumachen, scheint mir nicht mehr fern zu sein.

Derzeit lächeln wir noch über Anmaßung einer Gesine Schwan, gemeinsam mit Kevin Kühnert den Parteivorsitz der SPD übernehmen zu wollen. Aber wissen wir denn, wer die jetzt schon abgewirtschaftete AKK demnächst im Parteivorsitz der CDU ablösen wird? Armin Laschet, das eingewachsene Dauerlächeln der Union, gemeinsam mit der zum Zwecke der Unterwanderung demnächst vielleicht zur CDU konvertierenden Luisa Neubauer?

Es ist nirgends eine Figur von Format zu erkennen, der es gelingen könnte, die inzwischen vielfach zersplitterte Bevölkerung wieder zu versöhnen und daraus ein Staatsvolk zu machen, das in demokratischer Debatte ein Staatsziel formuliert und sich mehrheitlich nicht nur geschlossen dahinter stellt, sondern auch gemeinsam daran arbeitet, alle Herausforderungen zu bewältigen.

Denn – und hier komme ich auf den Grundgedanken vom Anfang zurück:

Ohne Staatsvolk ist kein Staat zu machen.