Sozialwahl 2023 – Das zu wählende Nichts

Alle 6 Jahre trifft es die gesetzlich Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Post bringt Wahlunterlagen für eine Institution, die niemand kennt: die Selbstverwaltung der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, in dem ich auch nur das Geringste vom Wirken dieser Institution gehört, gelesen oder gesehen hätte. Stattdessen erinnere ich mich daran, dass es die jeweilige Regierung(-skoalition) ist, die einzig in der Lage ist, mit so genannten Rentenreformen Beitragssätze zu verändern und die Rentenhöhe festzulegen, die der Rentenversicherung zudem nach Gutsherrenart versicherungsfremde Leistungen aufbürdet und im Eigenlob fast ertrinkt, wenn sie über den Bundeszuschuss wenigstens einen Teil davon wieder den Einnahmen der Rentenversicherung zukommen lässt.

Was tut also diese „Selbst-“ Verwaltung?

Antworten aus dem Wahl-Flyer der Deutschen Rentenversicherung BUND:

  • sie sorgen dafür, dass die Rentenversicherung einen guten Service bietet, etwa mit mehreren Tausend ehrenamtlichen Versichertenberaterinnen in der Nachbarschaft, die zu allen Fragen rund um die Rentenversicherung beraten
  • Widersprüche gegen Entscheidungen der Rentenversicherungen werden „noch einmal“ überprüft,
  • sie stellen sicher, dass die Beiträge ordnungsgemäß verwendet werden,
  • und sie setzen sich dafür ein, dass die Versicherten sich auch künftig auf ihre Rente verlassen können.

Sapperlot!

  • Dass es Tausende ehrenamtliche Berater gibt, das hat die Selbstverwaltung auf den Weg gebracht. Also gefordert, damals, irgendwann – und dann hat sie es bekommen. Vielleicht wird jetzt noch einmal jährlich durchgezählt, grandios. Hätte eine SPD-geführte Bundesregierung nicht schöner beschließen können. Geschenkt.
  • Vermutlich sind es nicht die Widersprüche, die geprüft werden, sondern die auf die Widersprüche folgenden Bescheide, bevor sie verschickt werden. Da keine Informationen über eine Erfolgsquote solcher Nachprüfungen an die Öffentlichkeit dringen, muss der Konsens hoch sein. Geschenkt. Am Ende brütet doch der Rechtsanwalt des Versicherten über dem fehlerhaften Bescheid.
  • Wie sie das machen wollen, sicherstellen, dass die Beiträge ordnungsgemäß verwendet werden, dazu fehlt es mir an Fantasie. Da gibt es ein großes Rechenzentrum das aus den Daten der Versicherten nach den gerade geltenden Rechenregeln Beitragsbescheide erzeugt und die monatlichen Auszahlungen auslöst. Stichprobenweise nachrechnen? Nee – glaub‘ ich nicht. Vorstandsgehälter der Rentenversicherungsanstalt „ordnungsgemäß“ festlegen? Vielleicht. Wobei die Frage, was da ordnungsgemäß ist, schon wieder auf eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten stößt. Oder geht es darum festzulegen, wie viele Euros pro Mitarbeiter für die betriebliche Weihnachtsfeier der Rentenversicherung ausgegeben werden dürfen, wenn das noch im Rahmen der ordnungsgemäßen Ordnung bleiben soll?Für so etwas hat jedes Unternehmen das etwas auf sich hält eine Controlling-Abteilung mit integrierter innerbetrieblicher Revision, aber keine gewählte Selbstverwaltung.
  • Und die Sache damit, dass sie sich dafür einsetzen, dass sich die Versicherten sich auch künftig auf ihre Rente verlassen können, das ist ja wohl eher erheiternd als ernst gemeint. Das konnte der Blüm besser, als er versicherte, die Renten sind sicher. Geschwätz ohne Substanz.

 

Und wer wird da eigentlich gewählt?

Listen. Es werden Listen gewählt.

Ver.di hat eine Liste aufgestellt, die Techniker Krankenkasse hat eine Liste aufgestellt, die BARMER steuert zwei Listenbei, von der IG-Metall kommt auch eine Liste, von der DAK kommen gleich zwei Listen, die Kaufmännische Krankenkasse Halle hat ihre Liste in den Ring geworfen, ebenso der Deutsche Beamtenbund, der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands, die Gewerkschaft der Sozialversicherung und die BfA DRV Gemeinschaft stellen ihre Listen ebenfalls zur Wahl.

Zu keiner Liste habe ich bisher so etwas wie einen programmatischen Ansatz gehört, und bin sicher, dass dies auch bis zum Briefwahl-Einsendeschluss so bleiben wird.

Womit wollen sie auch werben?

„Wir werden die Anwerbung ehrenamtlicher Rentenberater forcieren, damit auch Sie in Ihrer Nachbarschaft einen finden?“

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„Wir werden die Widerspruchsprüfung nach dem Vier-Augen-Prinzip modernisieren“

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„Wir sorgen dafür, dass auch weiterhin alle Beiträge ordnungsgemäß verwendet werden“

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„Wir setzen uns für zukünftige Sicherheit Ihrer Rente ein!“

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Alles Kokolores.

Nichts, was einen zwangsversicherten Beitragszahler oder einen Versicherten im Rentenbezug wirklich interessiert. Die Wahl bleibt die Wahl einer Liste. Mehr nicht. Was drinsteckt, in den einzelnen Listen, ist nicht zu ergründen und wird sich auch im Laufe der sechsjährigen Amtszeit der Briefgewählten nicht herausfinden lassen. Eine Tonne toter Fische in der Elbe bekommt an einem Tag mehr mediale Aufmerksamkeit als das Wirken dieser Selbstverwalter der letzten 70 Jahre.

Kokolores. Und  außerdem eine Halbwahrheit, die so, wie sie mir heute in den Briefkasten geflattert ist, die Grenze zur Volllüge längst überschritten hat.

Ich zitiere aus dem Anschreiben:

„Seit 70 Jahren bestimmen Versicherte, Rentnerinnen und Rentner bei der Sozialwahl über ihre Rentenversicherung mit: Ehrenamtlich engagierte Frauen und Männer geben den Kurs der Rentenversicherung vor. Die Gewählten sind selbst Versicherte der Rentenversicherung und setzen sich für Ihre Interessen ein. Sie kennen Ihre Anliegen und sind so näher an den Menschen dran, als es der Staat sein kann. Die Ehrenamtlichen sorgen dafür, dass die Rentenversicherung für Sie da ist, wenn Sie sie brauchen.“

Die „Übertreibungen“ in diesem Text sind aber nicht das, was ich als eine verlogene Halbwahrheit bezeichne. Das sind nur Übertreibungen, wie sie im Vorfeld einer Wahl als selbstverständlich hingenommen werden müssen.

Erst wenn die Vertreterversammlungen der 16 existierenden Rentenversicherungsträger per Sozialwahl gewählt sind, kommt „Butter bei die Fische“, denn dann konstituiert sich daraus die so genannte „Bundesvertreterversammlung“. 

Nun kommen Aufgaben zum Vorschein, die schon ein etwas mehr Gewicht haben und auch einen Hauch von politischem Einfluss erkennen lassen. Ich zitiere von der Website der Deutschen Rentenversicherung:

„Zu den Aufgaben der Bundesvertreterversammlung gehört unter anderem, die Satzung der Deutschen Rentenversicherung Bund zu beschließen, über Grundsatz- und Querschnittsaufgaben und über gemeinsame Angelegenheiten der Träger der Rentenversicherung zu entscheiden. Eine weitere Aufgabe ist insbesondere die Feststellung der Anlage zum Haushaltsplan, bei es unter anderem um die Bewilligung von Haushaltsmitteln (z.B. für die Forschung zur Verbesserung der Reha-Leistungen) geht. Die Bundesvertreterversammlung wählt außerdem die Mitglieder des Bundesvorstandes sowie die Mitglieder des Erweiterten Direktoriums der Deutschen Rentenversicherung Bund.“

Hat die Wahl also doch einen tieferen Sinn? Können die zur Wahl stehenden Listen tatsächlich wichtige Entscheidungen treffen?

Es scheint so. Man muss aber auch wissen, wer der Bundesvertreterversammlung angehört.

Immerhin 30 Listenkandidaten, die nach einem festen Schlüssel von den Vertreterversammlungen der einzelnen Rentenversicherungsträger in die Bundesversammlung entsandt werden, sind dort vertreten und können die Interessen der Beitragszahler und Leistungsempfänger vertreten.

Die Bundesvertreterversammlung hat aber 60 Mitglieder.

Wo kommen die anderen 30 her?

Die anderen 30 sind nicht Beitragszahler und Rentner, sondern Arbeitgeber, die von den Arbeitgebererbänden in  einer separaten Wahl bestimmt werden.

Da lohnt sich jetzt die Mühe, den oben zitierten Absatz aus dem Anschreiben zur Ankündigung der Sozialwahl in die Realität zu übersetzen:

„Seit 70 Jahren bestimmen je zur Hälfte die Arbeitgeberverbände einerseits, Versicherte, Rentnerinnen und Rentner andererseits, bei der Sozialwahl über jene Belange der Rentenversicherung mit, die Bundesregierung und Bundestag der Selbstverwaltung großzügig überlassen haben: Ehrenamtlich engagierte Frauen und Männer versuchen, den Arbeitgebern Zugeständnisse da abzuringen, wo es um den künftigen Kurs der Rentenversicherung geht. Die von den Versicherten Gewählten sind selbst Versicherte der Rentenversicherung und setzen sich für Ihre Interessen ein. Die von den Arbeitgebern Gewählten sind selbst Arbeitgeber oder Leitende Angestellte. Beide Fraktionen vertreten primär ihre eigenen Interessen. So kann der Staat sich fein heraushalten und jede Schuld für die Ergebnisse weit von sich weisen.  Die Ehrenamtlichen sorgen dann für Irgendwas.“

Die Bundesvertreterversammlung tagt übrigens außerordentlich häufig, nämlich im Abstand von jeweils sechs Monaten, so dass es während der sechsjährigen Wahlperiode immerhin zu vollen zwölf Sitzungen kommt. Die letzte dieser Sitzungen kann als Videoaufzeichnung (2:15:10) hier vollständig nacherlebt werden.

Man möge mir verzeihen, wenn ich hier mit einem harten Urteil kurz und kompakt auf den Punkt komme:

Wer braucht denn sowas?

Das, worum es bei der Rentenversicherung tatsächlich geht, nämlich die Höhe der Beitragseinnahmen über den Beitragssatz, die maximale Höhe des versicherungspflichtigen Einkommens und den Kreis der Versicherungspflichtigen festzulegen, sowie die Höhe der Rentenleistungen über Eingriffe ins Rechenwerk zu bestimmen, ist fest in der Hand der jeweils amtierenden Bundesregierung, die es auch immer wieder übernimmt, der Rentenversicherung Lasten aufzubürden, die mit dem Versicherungscharakter der Rentenversicherung nicht zu vereinbaren sind.

Das wird so bleiben, da darf man sich keiner Illusion hingeben.

Dann soll die Regierung aber doch bitteschön auch die Satzung beschließen und Vorstand und Direktorium ernennen! Dass nun ausgerechnet die Anlage zum Haushaltsplan mit den Forschungs-Mitteln zur Optimierung der Reha-Leistungen einem eigenen Gremium überlassen werden müsste, ist durch nichts zu erklären, außer durch die vermeintliche Notwendigkeit, den Pflichtversicherten den Eindruck, aber auch nicht mehr als den Eindruck zu vermitteln, sie könnten tatsächlich über die Rentenversicherung mitbestimmen.

Da kann ich nur appellieren:

Leute, macht euch ehrlich und lasst diesen Appendix einer Selbsverwaltung sterben. Die Institution der Vertreterversammlungen, wie sie heute existiert, ist doch nichts als Camouflage.

Ich freue mich auf streitbar vorgetragene Gegenargumente, die ich gerne hier veröffentlichen werde.