Die Weisheit des Volkes

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, ein Fürst, der brav und anständig von seinen Untertanen den Zehnten eintreiben ließ und davon recht gut leben konnte. Sonst konnte er nichts. Es kommen halt nicht immer die hellsten Köpfe auf den Thron, und wo es keinen Bruder gibt, der den Erstgeborenen  – zum Wohle des Volkes, versteht sich – vom Thron stößt, wenn der sich als untauglich erweist, da kann es vorkommen, dass ein solcher Dummkopf und Taugenichts über lange Jahre ungestört regieren kann

Das Volk hatte sich an diesen, seinen Fürsten gewöhnt, und weil es wusste, dass es viel Schlimmeres geben kann, als einen dummen, faulen Fürsten, unterließen sie es, sich gegen ihren Fürsten zu erheben. Sie wussten schon selbst, wie man sich über die Runden bringt und aus den Querelen der Politik heraushält.

Aufs Ende zu wurde der Fürst jedoch wunderlich. Statt in seinem Schloss auf seinem Thron herumzulümmeln, erschien er immer öfter in den engen Straßen der Residenzstadt und nicht selten tauchte er auch in den Gassen der Dörfer auf, die zu seinem Fürstentum gehörten. Das geschah nicht zufällig, denn er wollte einen Krieg machen. Mit dem Krieg wollte er in die Geschichtsbücher eingehen, die seinen Namen sonst vermutlich unterschlagen hätten, weil es bis dahin nicht Großes und Berichtenswertes gab, was man mit diesem Fürsten hätte in Verbindung bringen können.

Bei seinen Spaziergängen in den Niederungen des Volkes wollte er „den Feind“ finden, den es zu bekriegen gälte, denn der Feind im Inneren, so hatte er es in einem Wälzer aus der Schlossbibliothek gelesen, schafft mehr Verderben als jeder äußere Feind.

So geschah es, dass er eines Tages im fernsten Dorf, ungefähr eine Wegstunde vom Schloss entfernt, von einem fürchterlichen Unwetter überrascht wurde. Es schüttete wie aus Kübeln und nullkommanichts war unser Fürst durchgenässt bis auf die Unterhose. Der wütende Wind trieb den pitschnassen Fürsten vor sich her. Phuuh, wie war das kalt.

Der Fürst schlotterte und bald nieste und hustete er, und als er endlich sein Schloss erreichte, war er mehr tot als lebendig und musste zwei Wochen lang das Bett hüten, bis das Fieber nachließ und er wieder klar denken konnte.

Doch dieses Unheil hatte auch sein Gutes, denn nun wusste er, gegen wen er bis zu seinem letzten Atemzug Krieg führen würde.

So befahl er, den höchsten Baum im ganzen Fürstentum zu fällen, alle Äste abzuschneiden und den blanken Stamm im Schlosshof aufzurichten. Als das geschehen war, ließ er seinen Schreiber kommen, um die Kriegserklärung niederzuschreiben, die dann ganz oben an diesem stolzen Baumstamm befestigt  wurde, um es dem Feind leicht  zu machen, die Kriegserklärung zur Kenntnis zu nehmen. Da stand dann geschrieben:

Ich, Trebor von Habichtseck,
erkläre hiermit und ab sofort

DEM REGEN

den totalen Krieg.

Die Kunde von der Kriegserklärung ihres Fürsten machte schnell die Runde unter seinen Untertanen im Städtchen und in den Dörfern des Fürstentums. Das Volk hielt sich aus langjähriger Erfahrung für weiser als den Fürsten, und doch bildeten sich schnell zwei Lager, von denen die einen erklärten: „Das ist doch die dümmste Dummheit aller Zeiten, man kann dem Regen zwar den Krieg erklären, aber wie will er denn gegen den Regen Krieg führen? Unmöglich, ganz und gar unmöglich!“ Die anderen hingegen sagten sich: „Das ist endlich einmal etwas Neues, etwas Großes, nie Dagewesenes. Da wollen wir dabei sein und uns den Dank unseres Fürsten verdienen. Vielleicht springt ja sogar ein hübscher Posten bei Hofe dabei heraus.“

Also versammelten sich die Kriegsbereiten im Schlosshof und riefen im Chor hinauf zu den Fenstern der Gemächer ihres Fürsten: „Heil unserem Fürsten! Wir sind bereit! Führe uns in den Krieg gegen den Regen!“

Der Fürst hörte das. Obwohl er noch gar nicht wusste, wie er den Krieg anfangen sollte, gefiel es ihm, dass sein Volk Gefallen an seiner Idee gefunden hatte. Hurtig eilte er die Treppe hinab in den Schlosshof, bestieg ein leeres Gurkenfass und hielt eine flammende Rede wider den Regen, diesen schrecklichen Potentaten, der vor keiner ruchlosen Tat zurückschreckt, Frauen und kleine Kinder nass macht und in die Häuser jagt, und dies vollkommen uneinsichtig, unbelehrbar und unberechenbar.

Zum Schluss fragte er: „Leute! Was ist das Wichtigste für den Soldaten im Krieg?“

Da riefen sie alle wild durcheinander. Witzbolde meinten: „Die Marketenderinnen“, manche hielten das Schwert für das Wichtigste, andere sprachen sich für Lanzen und Hellebarden aus, viele aber meinten: „Das Wichtigste ist ein starker Schild, denn ohne Schild bist du den feindlichen Waffen schutzlos ausgeliefert.“

„So wollen wir uns denn einen Schild schaffen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat!“, rief der Fürst der begeisterten Menge zu. „Einen Schild, der das ganze Land bedeckt, der unser ganzes Volk vor dem Regen schützt, und in dessen Deckung wir dann unsere Waffen schmieden wollen, für den Endkampf. Kommt morgen wieder, und ich sage euch, was zu tun ist.“

Der Fürst zog sich wieder in seine Gemächer zurück, holte die alte, große Landkarte aus dem Speicher, auf der sein gesamtes Fürstentum abgebildet war, ziemlich genau drei Meilen lang und auch drei Meilen breit. Darüber sollte der Schild errichtet werden, 20 Ellen über dem Grund, damit auch hochbeladene Erntewagen noch darunter fahren konnten. „Wir werden Holz brauchen“, dachte sich der Fürst, „viel Holz, alleine für die Stützen“, und dann malte er viele, viele kleine Pünktchen in die Landkarte, überall da, wo eine der 20 Ellen hohen Stützen stehen sollte, und als er tief in der Nacht fertig war, hatte er 900.000 Pünktchen gemalt und seine Finger waren ganz blau von der Tinte.

Am nächsten Morgen, als sich seine Armee wieder im Schlosshof versammelt hatte, es waren vielleicht 200 Mann zusammengekommen, fast ein Zehntel der Bevölkerung, befahl er ihnen, eilends nach Hause zu gehen und dann mit allem was sie hatten, an Äxten und Sägen, Schäleisen und Wendehaken, in den Wald zu ziehen und dort so lange die Bäume zu fällen, bis 900.000 Stämme von mindestens 20 Ellen Länge geschlagen wären.

In den fünf Wirtshäusern, die es im Fürstentum gab, trafen am Sonntag nach dem Kirchgang die Willigen und die Skeptiker aufeinander. „Was treibt ihr da, ihr Wahnsinnigen?“, fragten die Skeptiker. „Wo wollt ihr denn 900.000 Bäume hernehmen? Da stehen vielleicht 25.000 Bäume in unserem Wald, wenn es hochkommt sind es 30.000!“

Das ärgerte die Willigen. Der Fürst würde doch wohl besser wissen, wieviele Bäume im Walde stünden, und immerhin habe man in den ersten drei Tagen schon fast 2.000 Bäume gefällt, das solle ihnen erst einmal jemand nachmachen, statt sich feixend beim Wirt volllaufen zu lassen.

Das Ergebnis war die größte Wirtshausschlägerei in der Geschichte des Fürstentums. Als das dem Fürsten zu Ohren kam, und  er auch hörte, warum sich seine braven Anhänger mit den Unwilligen geprügelt hatten, erließ er eine Verordnung, die es bei Strafe verbot, Kritik an seinen Anordnungen  zu üben. Wer auch immer von einem dieser Schwurbler und Regenleugner auch nur ein Wort der Kritik, schlimmer noch des Spottes über das nationale Großvorhaben hören sollte, müsse diesen Frevel schnellstens melden, wolle er nicht selbst als Mittäter eine Strafe auf sich laden. Wer unter den Kritikern jedoch zur Vernunft komme und sich der Armee der Holzfäller anschließe, dem solle Gnade widerfahren.

Da wurde der Spott der Kritiker leiser. Unhörbar fast, flüsterte man sich zu, der Fürst habe den Verstand verloren, falls er je einen besessen hätte, dann spätestens jetzt. Einige der Alten begannen zu rechnen, und kamen wieder auf die Zahl von maximal 30.000 Bäumen, die als Stützen taugten, während andere ganz andere Fragen zu stellen begannen: „Wie sollen denn künftig das Gras, der Flachs, der Dinkel wachsen, wenn kein Regen mehr auf die Felder und Wiesen fällt? Womit sollen wir unsere Häuser und Scheunen bauen, wenn der Wald vollständig abgeholzt sein wird? Was ist mit unseren Brunnen? Werden sie weiter Wasser geben oder trocken bleiben, wie bei der großen Dürre a.D. 1540, als die Erde auf den Feldern so trocken wurde, dass der Wind sie als Staub davongetragen hat?“

Schließlich beschloss man, eine Petition zu verfassen und dem Fürsten zuzustellen, in der auf die mannigfachen Gefahren hingewiesen wurde, die von dem großen Schild ausgingen, sollte er denn tatsächlich errichtet werden.

Der Fürst war empört! Doch um nicht voreilig zu urteilen, holte er alle Wissenschaftler des Hofes und aus der Stadt zusammen um sich mit ihnen zu beraten. „Selbstverständlich ist es richtig, sich für den Kampf gegen den Regen mit einem großen Schild zu wappen“, erklärte der Chef der Hofküche. „Gar keine Frage, dass wir diesen Schild brauchen“, war die Ansage des Alchemisten, der kurz davor stand, wirklich Gold aus Blei, Quecksilber, Arsen und Schneckenaugen zu erschaffen. Auch der Pferdeknecht wollte sich die Gnade seines Herrn nicht verscherzen und wieherte vor Lachen über die dümmlichen Aussagen der Petition. Da gab es auch für die Kammerzofe, den Nachtwächter und den Schmied kein Halten mehr. „Wir stehen zu Ihnen, unserem Fürsten! Wir wollen den Kampf gegen den Regen führen und siegen! Keine Chance den Bedenkenträgern!“

Also wurde der fürstliche Ausrufer beauftragt, durch die Stadt und die Dörfer zu ziehen und zu verkünden:

Im Namen unseres Fürsten, Trebor von Habichtseck, sei hiermit allen kund und zu wissen getan: Der Kampf gegen den Regen ist alternativlos, soll unser aller Leben für die Zukunft gesichert bleiben. Die Sorge um die künftigen Ernten, um das Bauholz und die Brunnen entspringen kleingeistigen Gehirnen. Alle Wissenschaftler am Hofe bestätigen die Absichten unseres Fürsten als gut, nützlich und unverzichtbar. Wer hinfort noch anderes behauptet, wird als Verschwörungstheoretiker für drei Tage an den Pranger am Markt gestellt. Möge das den aufrührerischen Geistern eine Warnung sein.

Da merkten die Untertanen, wie es ernst es ihrem Fürsten war, und auch die Kritiker – außer den allerverbohrtesten – boten sich an, am großen Werke mitzutun, schon alleine, um nicht in Verdacht zu geraten.

 

Nur drei Wochen waren vergangen, da lag der Wald niedergestreckt in Form von nackten Stämmen auf großen Haufen, und als die gezählt waren, waren es 26.132 Stück.

Das erschütterte den Fürsten jedoch nicht. Es gab ja noch andere Wälder auf der Welt  und für Geld hat noch jeder seinen Wald dahingegeben. Also entsandte er den sprachgewandten Alchemisten an die Fürstenhäuser der sieben Nachbarländer, die an sein Fürstentum grenzten, wo er alles verfügbare Holz aufkaufen sollte. „Der Preis spielt keine Rolle!“, rief er dem davonreitenden Manne noch nach, was diesen erfreute, gedachte er doch, sich bei diesem Einkauf selbst auch zu bereichern, weil man, wie es in der Bibel steht, dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden solle.

Bald kamen Boten mit Nachrichten, die besagten, dass der Alchemist erfolgreich gewesen sei. 80.000 Stämme von hier, für einen Taler pro Stamm, 90.000 vom nächsten Fürstentum, für 1 Taler und zwei Groschen, 140.000 für 1 Taler und 5 Groschen, usw., bis auch aus dem letzten Nachbarland noch 35.000 Stämme für 2 Taler angeboten wurden.

Fürst Trebor von Habichtseck musste sehr tief in seine Schatulle greifen, und als die letzte Rechnung bezahlt war, war sie vollständig leer. Dafür waren ihm aber weitere 585.000 Stämme sicher, die zusammen mit dem eigenen Holz gut zwei Drittel der Stützpfeiler für den landesweiten Schild darstellten, aber eben immer noch nicht ausreichten, um den Waffen des Regens wirklich wirksam zu begegnen.

Da stand unser Fürst nun in der großen Halle seines Schlosses, blickte in die leere Schatztruhe und stimmte exakt die gleiche Melodie an, die Jahrhunderte später von Helga Feddersen und Didi Hallervorden für ihren großen Hit: „Die Wanne ist voll! Ju, hu, huuuh“ geklaut wurde. Allerdings sang Fürst Trebor damals noch:

„Die Kasse ist leer! Ju, hu, huuh!“

Danach rief er den Chef der Hofküche zu sich und befahl ihm, alles für ein großes Fest zu richten, an dem das ganze Volk zur Feier des ersten Meilensteins der Holzbeschaffung teilhaben sollte. „Spart nicht an Essen und Trinken, vor allem aber spart nicht an Bier und Wein, an Likör und Schnaps. Mein Volk soll die Engelein singen hören, noch bevor ich zu ihnen zu sprechen beginne, um das weitere Vorgehen zu schildern.“

Wieder wurde der Ausrufer losgeschickt, und am festgesetzten Tage begann das große Gelage am Schloss, im Schloss und um das Schloss herum. Als alle, bis auf die Wickelkinder, vom Alkohol beflügelt waren, stieg der Fürst – nein, nicht wieder auf das leere Gurkenfass – auf ein eigens für das Fest errichtetes Podest und hielt seine Rede:

Meine lieben Freunde, Landsleute, Untertanen von Gottes Gnaden!

Mit dem heutigen Fest habe ich euch an meiner großen Freude teilhaben lassen, dass unser großer Plan, einen Schild zu schaffen, der in unserem Kampf gegen den Regen die entscheidende Rolle spielen wird, an einem Meilenstein angekommen ist. Wenn es auch unter euch noch Zweifler geben mag, so verzeihe ich das. Es kann nicht jeder so weitblickend und vorausschauend denken und planen, wie ich, euer Fürst!  Und gegen alle Zweifler verkünde ich die frohe Kunde:

Wir haben das Holz!

Glaubt mir, ich habe etliche von euch um die Stapel herumschleichen und argwöhnisch zählen gesehen. Gerne möge einer von euch vortreten und mir widersprechen, aber ich warne euch, das wird dem nicht wohl bekommen, wenn ich euch noch in dieser Stunde beweise: Wir haben das Holz!

Ganz hinten ertönte Gelächter und Rufe: „Ja, wo denn, Herr Fürst, wo denn?“

Und als seien diese Rufe bestellt gewesen, meinte der Fürst: „Das werdet ihr gleich erfahren.“

Ein Wink des Fürsten – und ein Trommelwirbel ertönte, in dessen Ausklang hinein der Fürst dem Volk zurief:

„Wir haben über 600.000 Stämme, aus dem eigenen Wald und von unseren Nachbarn. Ja, meine Kritiker und Widersacher haben richtig gezählt, und sie haben richtig gerechnet. Das reicht nicht, um den Schild darauf zu errichten.

Aber! Wir sind ein reiches Land!

Vergesst das nicht! Wir haben – mein Schloss inbegriffen – über 400 Wohnhäuser, über 600 Scheunen und Stallungen, unzählige Remisen, Schuppen, Unterstände! Das sind, wenn man alles zusammennimmt mehr als 2.000 Dächer! 2000 Dächer, das sind an die Zehntausend große Längsbinder, das sind zigtausende von Sparren, tausende weiterer Balken, Latten, Bretter!

Freunde! Das ist genug. Damit schaffen wir den Schild, mit dem wir in den Krieg gegen den Regen ziehen, und mit dem wir diesen Krieg gewinnen werden.“

Lauter Jubel erscholl. Vivat-Rufe.

Hoch lebe Fürst Trebor! Wir werden siegen! Regen, wir kommen!

Der Fürst wartete ab, bis der Beifall nachließ und rief seinen versammelten Untertanen dann zu: „Ich danke euch. Ich danke euch, für euer Vertrauen, für eure Zuversicht und euren Kampfeswillen. Morgen will ich euch alle auf den Dächern eurer Häuser sehen.

Deckt die Ziegel ab, wo Ziegel sind, die Schindeln, wo Schindeln sind, das Stroh, wo das Dach mit Stroh gedeckt ist. Verwahrt alles sorgfältig, denn daraus wird die Haut unseres Schildes werden. Und dann zerlegt die Dachstühle, sortiert das Gebälk nach Länge und Stärke. Wenn das gelungen ist, kann der Bau beginnen.“

Noch einmal brandete Jubel auf. Doch als der Fürst sich in seine Gemächer zurückzog, verlief sich auch das Volk.

Trunken vor Glückseligkeit und angefüllt mit Restalkohol stiegen die Kühnsten schon am nächsten Morgen auf die Dächer. Bis zum Mittag hatten sich alle soweit erholt, dass sie an der Holzernte für den großen Schild teilnehmen konnten. Flink flogen die Ziegel und die Schindeln von Hand zu Hand und wurden auf ordentlichen Stapeln abgelegt. Mit roher Gewalt wurden die Zapfen aus dem Gebälk geschlagen, die einzelnen Hölzer abgebaut und vor und hinter den Häusern gestapelt. Am übernächsten Abend war das Werk vollbracht. Kein Haus, keine Scheune, kein Stall war zu sehen, der noch von einem Dach gekrönt gewesen wäre.

Von da an richteten sich alle Augen gen Himmel. Würde der Erzfeind, dieser verdammte Regen, heimtückisch seinen Angriff beginnen, bevor der Schild vollendet sein würde?

Natürlich ließ sich der Regen seine Chance nicht entgehen. Er kam. Er fiel durch die offenen Gemäuer, nässte die Böden, verdarb die Vorräte. Doch das nützte ihm nichts. Die Leute hielten verzweifelt stand, und ihre Wut auf den Regen wurde immer gewaltiger. Jetzt war auch den Letzten klargeworden, wie wichtig es war, den Krieg gegen den Regen zu führen, wollte man jemals wieder in Sicherheit und Frieden leben.

Mit übermenschlicher Anstrengung rammten die Baumannschaften in Tag- und Nachtschichten die Stützpfeiler in den vorgegebenen Abständen in den Boden. Und so, wie die Pfeiler aus dem Boden wuchsen, schwanden die überall gelagerten Holzvorräte dahin. Als alle 900.000 Pfeiler gesetzt waren, war auch das Gebälk der Dachstühle verbaut. Gut, es gab noch genug Bretter, es gab auch noch die Ziegel, die Schindeln und das Stroh, aber um damit arbeiten zu können, bräuchte es die Verbindungen zwischen den Stützen, die dann – wie ein großes, verbindendes Netz – die eigentliche Dachhülle tragen sollten – aber dafür war nur noch ein kümmerlicher Rest an Material vorhanden. Die Herstellung des Schildes schien gescheitert.

Die ersten Untertanen machten sich klammheimlich aus dem Staub. Das Leben in den durchnässten Häusern machte keinen Spaß mehr. Die Arbeit in der Landwirtschaft hatte durch die Schildbauanstrengungen stark gelitten. An eine Ernte, die ausgereicht hätte, den Winter zu überstehen, war nicht zu denken. Also wanderte, wer nicht durch enge Verpflichtungen gebunden war, ins Ausland ab. Es konnte überall nur besser sein als hier, unter diesem unvollendeten Schild.

Da schickte der Fürst seinen Alchemisten vor. Der versammelte das Volk auf dem Marktplatz und hielt eine wohlgesetzte Rede:

„Liebe Leute, Freunde, viel Arbeit liegt hinter uns, vieles ist geschafft, aber es liegt auch noch viel Arbeit vor uns, und da gilt es weiter zusammenzustehen, wie ein Mann, und mit vereinten Kräften den Widrigkeiten zu trotzen und unseren Schild dennoch fertigzustellen. Es ist nicht eure Schuld, dass die Baustelle halbfertig dasteht. Es ist die Tücke der geheimen Kräfte und Säfte, die es mir so lange versagt hat, Gold herzustellen. Der Fürst hätte es gebraucht, um weiteres Material zu kaufen. Doch es kam zu spät. Ja, ihr habt richtig gehört. Es ist nun doch gelungen! Seht her!“, rief er und hielt einen schimmernden Klumpen Gold in die Höhe, so dass ihn alle sehen konnten. „Das ist mir heute Nacht gelungen. Vor einem Jahr bei Neumond habe ich die Essenzen angesetzt und ihre Kräfte aufeinander wirken lassen, habe den Sud erhitzt und wieder abkühlen lassen, habe ihn durch feinste Siebe laufen und wieder ruhen lassen. Endlich, gestern Abend, war die Mischung bereit für die letzte Zutat, die ich Schlag Mitternacht hinzugefügt habe. Stunde um Stunde hat sich das Gebräu zusammengezogen und verfestigt, um heute Morgen zu diesem kleinen Klumpen reinsten Goldes geworden zu sein.

Ich hatte unserem Fürsten diesen Erfolg schon lange versprochen. Immer schien er zum Greifen nahe. So haben wir es gewagt, den Bau zu beginnen, bevor noch das Gold für das benötigte Material erschaffen war. Nun aber kann ich meine Rezeptur noch einmal ansetzen, natürlich in viel größerer Menge, damit – in einem Jahr, wenn der Prozess abgeschlossen ist – eine viel größere Menge Goldes zur Verfügung steht, die ich euch dann mit Zins und Zinseszins zurückgegeben werde.

Ja, ihr habt recht gehört. Ich mache dieses Gold für euch, weil wir jetzt, um den Bau vorantreiben zu können, euer Gold und Silber, euer Geschmeide und auch eure Taler und Groschen brauchen, um das Material für die Fertigstellung des Schildes im Ausland einzukaufen. Es wird alles notiert und quittiert. Ihr braucht euch um euer Vermögen keine Sorgen zu machen. Unser Fürst und natürlich ich, haften dafür, dass ihr alles auf Taler und Groschen und mit Zinsen in Jahresfrist zurück erhalten werdet.

Es ist kein Verzicht, liebe Leute, ihr bekommt es ja wieder. Aber, um unseres Sieges gegen den Regen Willen, der uns in den letzten Wochen und Monaten so übel mitgespielt hat, werdet ihr mir eure Schatzkästlein freudig übergeben, denn wenn sich der eine oder andere sträuben sollte, sich nicht in die Gemeinschaft einbringen und nicht mithelfen will, das Material zu beschaffen, dann werden auch die Opfer aller anderen vergeblich gewesen sein, weil der Schild dann vor dem Winter nicht mehr geschlossen werden kann. Also: Achtet auf eure Nachbarn, ihr wisst besser, was jeder an Schmuck in der Schatulle hat, und lasst nicht zu, dass da einer aus Eigennutz auch  nur einen Fingerring zuückbehalten möge. Einigkeit macht stark! Ich gehe voran – und lege meinen Goldklumpen als erster in diese Truhe. Ich bin sicher, ihr werdet sie bis zum Abend bis zum Rand füllen.

Tatsächlich füllte sich die Truhe schnell. Gold, Silber und Geschmeide würden ja nach einem Jahr mit Zins und Zinseszins ersetzt. Da trennt man sich leicht davon, wenn dafür die Gewissheit besteht, dass es im Winter nicht in die Häuser hineinschneit.

Der Alchemist schnallte die Truhe auf den Rücken des Saumpferdes,  das er sich vorsorglich verschaft hatte, bestieg sein eigenes Ross und verschwand im leichten Trab aus der Stadt.

Der Herbst färbte die Blätter bunt, die Novembernebel krochen in die Häuser, der erste Schnee fiel Anfang Dezember – aber der Alchemist kehrte nicht wieder.

Am zweiten Advent trat der letzte Kritiker des Kriegs gegen den Regen zwischen die kärglich bestückten Stände des von Habichtseck’schen Weihnachtsmarktes um sein lange währendes Schweigen zu brechen.

„Leute!“, rief er den verhärmten Menschen zu, die sich auch am Glühwein kaum zu erwärmen vermochten, „Leute! Was habe ich euch von Anfang an gesagt? Es ist alles eingetroffen. Ihr habt für eine Schnapsidee  eure Häuser zerstört, unseren Wald abgeholzt, die Landwirtschaft ruhen lassen, euren Schmuck dahingegeben, und jetzt kriecht ihr traurig über den Weihnachtsmarkt. So darf das nicht weitergehen. Wir müssen etwas unternehmen. Ich habe lange nachgedacht. Hört, wie unsere Rettung ausehen könnte!“

Die Leute blickten auf, sahen dem Kritiker, der immer noch nicht verstummen wollte, in die Augen, in denen ein nicht verlöschen wollendes Feuer brannte. Sie sahen nicht, dass er recht gehabt hatte. Sie sahen nur, dass sie die Dummen waren, und dass er, der Kritiker das immer gewusst hatte, und dass er sie jetzt mit seiner Rede auch noch verlachte und verhöhnte.

So rotteten sie sich zusammen, ergriffen ihn, und schlugen ihn mausetot.

Der Fürst hingegen beschloss schweren Herzens, die Steuern zu erhöhen, um den Bau des Schildes baldmöglichst zu einem Ende bringen zu können.