Die Attraktivität des Gegensatzes

Volkstümlich plump hätte ich diesen Artikel mit „Gegensätze ziehen sich an“ überschreiben müssen, was aber nur die halbe Wahrheit gewesen wäre. Da kommt dann der Lehrer für Physik, Leibesübungen und Gesang daher, erzählt etwas von Stab- und Hufeisenmagneten, und das soll es dann gewesen sein.  Bestenfalls eine Demonstration, aber keine Erklärung. Das ist nicht genug.

Sollte es tatsächlich irgendwo Gegensätze geben, was sich im Einzelfall zumeist dem Nachweis entzieht, weil es sich fast immer nur um differente Positionen einer einzigen Größe auf der gleichen Skala handelt, wie zum Beispiel bei der so genannten „Wärme“, sollte es also tatsächlich Gegensätze  geben, so muss alles darangesetzt werden, die „Attraktivität“  des Gegensatzes zu erforschen.

In der realen physikalischen Welt finden sich keine Gegensätze, nur Unterschiede. Der Gegensatz ist ein Konstrukt der menschlichen Wahrnehmung, der erst in der Abstraktion, vor allem auf  der  emotionalen Ebene, überhaupt nur einen Hauch von Berechtigung  beanspruchen kann, weil sich die anzulegenden Kriterien dort der Messbarkeit entziehen.

Der Ausflug in diesen Bereich menschlichen Erkenntnisvermögens soll mit einem Scherz beginnen, mit dem der Beweis dafür, dass Gegensätze sich anziehen, geführt wird:

Wir  alle haben schon von kinderreichen Familien gehört, obwohl diese  unter den eher kinderarmen Deutschen nur selten anzutreffen sind. Der Gegensatz von Kinderarmut und Kinderreichtum liegt  klar  auf der Hand. Und dennoch ziehen sich beide derart mächtig an, dass Kinderreichtum schon fast als Synonym für  Kinderarmut  bezeichnet werden könnte.

Scherz beiseite.

Heben wir stattdessen ganz ernsthaft zunächst die milde Vorform des krassen Gegensatzpaares „Hass und Liebe“, nämlich „Feindschaft und Freundschaft“ auf den Seziertisch und lassen diesen Gegensätzen freien Lauf, während wir versuchen, das Experiment als neutrale Beobachter wahrzunehmen und so wenig als möglich durch das reine Beobachten zu beeinflussen.

Für die erste Variante des Experiments brauchen wir mindestens zwei befreundete Exemplare der Gattung „Freund“, sonst ist  Freundschaft – außerhalb des Narzissmus – nicht vorstellbar. Wir benötigen zudem auch zwei Exemplare der Gattung „Feind“, begnügen uns aber mit einem Exemplar, dessen Feindschaft sich gegen ein Exemplar der Gattung „Freund“ richtet. Der zweite „Freund“ soll gegenüber dem „Feind“ eine neutrale Stellung innehaben. Die Freunde setzen wir an den äußersten Rand der Schmalseite unseres Tisches, den Feind an den entgegengesetzten Rand und ziehen in der Mitte des Tisches mit Kreide eine Grenzlinie zwischen den beiden Territorien.

Die sich nun abspielenden Ereignisse im Zeitraffer:

  1. Die beiden Freunde unterstützen sich in allen Belangen des Lebens. Daraus erwachsen sowohl materieller Erfolg als auch psychische Stabilität bei beiden.
    Dem Feind gelingt es nicht, obwohl er sich mehr anstrengt als jeder der beiden Freunde, gleichwertige Ergebnisse zu erzielen.
  2. Die Erfolge der Freundschaft ziehen zwei weitere, bis dahin neutrale Exemplare an, die sich den Freunden zugesellen und die Fähigkeiten und das Vermögen der Kooperation der Freunde weiter wachsen lassen.
    Der Feind verfolgt das aus der Distanz mit wachsendem Missmut.
  3. Das weitere Wachstum des Freundeskreises um zusätzliche vier Exemplare bringt zwei Entwicklungen mit sich, die sich negativ auf die Stabilität des Experiments auswirken. Sichtbar wird dabei lediglich die Tatsache, dass es auf dem Freundes-Territorium immer enger wird, so dass nicht nur die grenznahen Bereiche von den Freunden genutzt werden, sondern die Grenze auch Schritt für Schritt in das Territorium des Feindes  hinein verschoben wird. Unsichtbar bleibt, dass die Einheit und Verbundenheit der ursprünglichen Freunde im erweiterten Freundeskreis nicht mehr zu erkennen ist. Da die Triebfeder, sich anzuschließen, nicht Freundschaft, sondern Egoismus war, wird das kooperative Handeln zum gemeinsamen Nutzen mehr und mehr durch kooperatives Handeln zur Steigerung des Eigennutzes verdrängt. Das stillschweigende, harmonische Einverständnis der Erstfreunde wird bald übertönt, bzw. ersetzt, durch lautstarke, aber hohle  Freundschaftsbekundungen.
    Der Feind, der sich durch die Grenzverschiebungen bedroht sieht, obwohl er für sich alleine immer noch acht mal mehr Platz hat als jeder einzelne der zahlreich gewordenen Freunde, vernachlässigt seine eigentliche Arbeit  und errichtet in Tag- und Nachtarbeit einen Grenzwall, den er verbissen zu verteidigen gedenkt. Außerdem nimmt er insgeheim Kontakt zu jenen „Freunden“ auf, deren Egoismus ihm groß genug zu sein scheint, um sie mit dem Versprechen, ihnen mehr Land zu geben, als ihnen auf dem Freundes-Territorium zur Verfügung steht, in sein Lager zu locken.
  4. Der „Feind“ hat mit seiner Abwerbung Erfolg. „Feinde“ und „Freunde“ sind in etwa gleich stark geworden, die Grenze folgt wieder ihrem ursprünglichen Verlauf. Zwischen beiden Lagern herrscht Eiseskälte. Alle Freunde betrachten alle Feinde als ihren großen Feind, und auch alle Feinde sehen in den Freunden nur noch den gemeinsamen Feind. Die Fronten sind verhärtet. Beide Seiten rüsten auf. An den Grenzen stehen sich bewaffnete Einheiten lauernd gegenüber.

Um das Material zu schonen, brechen wir das Experiment ab, bevor die Situation eskaliert und ein heißer, blutiger Krieg ausbricht.

Nun zur Auswertung:

  1. Konnte beobachtet werden, dass sich Freund und Feind anziehen?
    Nein. Dies war bis zum Abbruch des Experiments nicht zu erkennen. Stattdessen war zuerst eine gänzlich andere Entwicklung zu beobachten, dass nämlich die Freunde bisher Neutrale angezogen haben, die sich dem Freundeskreis zugesellten.
    Im weiteren Verlauf kam es zwar zu einer Annäherung, die aber nicht einer (nicht feststellbaren) Anziehungskraft zugeordnet werden kann, sondern lediglich dem durch die wachsende Besiedlungsdichte gestiegenen Druck auf die Grenzlinie. Dem folgte logischwerweise eine starke Abwehrreaktion, die sich in der Errichtung des Grenzwalls manifestierte.
    Erst kurz vor  dem Abbruch kam es zu einer Bewegung, in der sich Freunde aus der dritten Welle der ehemals Neutralen abspalteten und zum Feind übergelaufen sind.
  2. Konnten Motive erkannt werden, die zu den beobachteten Veränderungen führten?
    Die Beobachtungen lassen nur einen Schluss zu. Alle Bewegungen, die sich während des Experiments  ergeben haben, können nur durch egoistische Motive erklärt werden. Der anfängliche Zustrom zum Territorium der Freunde war ausgelöst vom Wunsch, am Erfolg der Freunde zu partizipieren. Die Ausdehnungsbewegung der Freunde in Richtung Grenzlinie und darüber hinaus, war ausgelöst vom Wunsch, die Ressourcen des fremden Territoriums zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Reaktion des bis dahin immer noch einzigen Feindes folgte dem egoistischen Motiv, diese Ressourcen für die eigene Nutzung zurückzuhalten. Die Anwerbung ehemals Neutraler durch den Feind, entsprang seinem egoistischen Motiv, das eigene Territorium zu schützen und in kooperativer Arbeit den Nutzen zu mehren, während der Egoismus der abtrünnigen Freunde sich darin zeigte, dass sie für ein bisschen mehr Grund und ein bisschen mehr verfügbarer Ressourcen bereit waren, das Lager zu wechseln.
  3. Wie  sieht die vorläufige, abschließende Erkenntnis aus?
    Aus dem Experiment kann die Hypothese abgeleitet werden, dass es nicht die Gegensätze sind, die sich anziehen, sondern Potential-Unterschiede, die auf einen Ausgleich zustreben. Sollte sich dies als „wahr“ erweisen, wird das Gegensatzpaar „Freund und Feind“ allerdings aus den weiteren Untersuchungen ausgeschlossen werden müssen, weil diese Zuschreibungen nicht einen originären Ausgangszustand bezeichnen, sondern ein Ergebnis jener Prozesse sind, die sich aus Potentialunterschieden heraus erst entwickeln.
      Es wäre dann festzuhalten, dass kein Mensch per se „Feind“  sein kann, wie auch kein Mensch per se als „Freund“ existieren kann, sondern beides instabile (Zwischen-) Ergebnisse von Interaktionen mit – wenn man es werten will – negativem oder positivem Ausgang sind.
  4. Welche neuen Forschungsansätze sollten aus diesem Experiment abgeleitet werden?
    Zur Überprüfung der Hypothese sollten in Feldstudien empirische Erhebungen im Umfeld aktueller, sich anbahnender oder heißer Konflikte erfolgen. Es bieten sich dazu an die Konfliktfelder
    Berg-Karabach, Donbass, Taiwan und Gaza, sowie auf einer Querschnittsebene die Entwicklung des Freundeskreises der EU, aber natürlich auch der komplexere Konflikt, der durch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gerade in der deutschen Parteienlandschaft ausgelöst wurde. Hier kann – sozusagen noch im jungfräulichen Zustand des Konflikts – beobachtet werden, wie sich die festgefügten Grenzen zwischen den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien verändern und Freund und Feind sich entlang sichtbar werdender Interessenlinien neu herausbilden.