Notlandung in Minsk

Ein regierungskritischer, im Grunde regierungsfeindlicher Blogger und dessen Freundin wurden von der Weißrussischen Regierung vom Himmel geholt und festgenommen.

Dazu ist nicht viel zu sagen. Nachdem „der Westen“ seit Jahren kein gutes Haar an Lukaschenko lässt, ist dessen Besinnung auf die Spruchweisheit: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert“, durchaus nachvollziehbar.

Das soll natürlich nicht heißen, dass in Wahrheit die NATO mit dem rauchenden Colt in der Hand dasteht. Es soll nur heißen, dass Lukaschenkos Hemmschwelle, wäre der Westen in den letzten Jahren respektvoller mit ihm umgegangen, deutlich schwerer zu überwinden gewesen wäre.

Raman Pratassewitsch, der Festgenommene, war auf seine Weise mutig und versuchte mit seinen Mitteln und Methoden, zuletzt über den Telegram Kanal Nexta, in Weißrussland einen Aufstand gegen Lukaschenko zu organisieren. Hierzu muss man sich nicht auf das von Weißrussland lancierte Video berufen, in dem Pratassewitsch – vermutlich unter Druck und nach dem Erleiden spezieller Befragungstechniken – diesbezüglich ein Geständnis abgelegt hat. Es genügt ganz einfach sein bisheriges Wirken zu betrachten, samt der Tatsache, dass er Anfang 2020 in Polen Asyl beantragte, lange bevor (November 2020) er von den weißrussischen Behörden offiziell angeklagt wurde.

Es stellt sich automatisch die Frage danach, wer ein Interesse daran hat, in Weißrussland ein pro-westliches Regime zu installieren, und wer nicht.

  • Der große Nachbar im Osten, Russland, wird es eher nicht sein.
  • Die Ukraine im Süden, die selbst so gerne NATO-Mitglied werden würde, dass sie der NATO ein Ultimatum stellte: Entweder Mitgliedschaft, oder atomare Aufrüstung, kommt da schon eher in Frage, wobei Victoria Nuland im Gedächtnis aufscheint, deren großes Ziel es war, die Ukraine in den Ring um Russland aufzunehmen.
  • Polen, im Westen, zeigt schon als Asylgeber für Pratassewitsch den Willen, Lukaschenko zu stürzen und Weißrussland aus dem Einflussbereich des Kremls herauszulösen.
  • Litauen und Lettland im Norden, dem Vernehmen nach die Haupttreiber der NATO-Aufrüstung an der russischen Westgrenze, sind automatisch unter den „üblichen Verdächtigen“.
  • Die EU, als das russophobe Konstrukt 27 halbsouveräner Staaten und in Treue fest zu USA und NATO stehend, wiegen dabei noch einmal stärker aus die vorgenannten zusammen.
  • Das Hauptgewicht kommt jedoch nach wie vor den USA zu, die – nach vierjähriger Pause unter Trump – sich wieder nach der Brzeziński-Doktrin verhalten, wo es heißt: Die Vereinigten Staaten als „erste, einzige wirkliche und letzte Weltmacht“ nach dem Zerfall der Sowjetunion müssen ihre Vorherrschaft auf dem „großen Schachbrett“ Eurasien kurz- und mittelfristig sichern, um so langfristig eine neue Weltordnung zu ermöglichen. 

Russlands Schweigen und die empörten Reaktionen auf Lukaschenkos Aktion entsprechen den Intentionen der angesprochenen Mitspieler auf Brzezinskis großem Schachbrett.

 

Als der „Staatsfeind“ Edward Snowden vor acht Jahren die Praxis der Massenüberwachung durch den US-Geheimdienst NSA und die britische GCHQ öffentlich machte, sah er sich bald zur Flucht genötigt. Doch die Reise nach Ecuador endete auf einem Moskauer Flughafen, weil die US-Behörden kurzerhand seinen Pass annullierten. Das war weniger spektakulär, als eine Landung zu erzwingen, aber eben auch nicht so wirksam, denn Snowden erhielt von Russland Asyl und kann dieses Land seither ohne Angst um Leib und Leben nicht mehr verlassen.

Julian Assange, der Gründer von Wiki-Leaks, hat es als „Staatsfeind“ um einiges schwerer. Sein Verbrechen bestand darin, Kriegsverbrechen öffentlich zu machen. Die USA ließen nichts unversucht, seine Auslieferung zu erreichen, erst von Schweden, dann von Ecuador, weil Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London Asyl gewährt wurde, während seine Informantin, Chelsea Manning, inzwischen von einem US-Militärgericht zu 35 Jahren Haft verurteilt, nach vier Jahren von Obama begnadigt, nach weiteren zwei Jahren erneut in Haft genommen und schließlich Anfang 2020 wieder entlassen wurde.

Außer in alternativen Medien kräht im Westen kein Hahn nach Snowden oder Assange. Nach dem Motto: „Wir sind die Guten – und das sind unsere Bösen“, erlaubt man sich, unter Anwendung von „Recht“, Exempel zu statuieren. Selbstverständlich ergibt sich daraus die nützliche Wahrheit: „Wenn die Bösen, die wir besiegen wollen, ihrerseits ihre Bösen verfolgen und wegsperren, dann werden deren Böse automatisch zu unseren „Guten“. Nun haben wir, die Vertreter der westlichen Werte, nach Nawalny mit Raman Pratassewitsch einen neuen Guten, dem die Bösen übel mitspielen und können uns lautstark empören und Sanktionen verhängen und so die Stimmung in Weißrussland noch ein bisschen aufheizen.

Ich denke, dass Mannings, Snowden, Assange, Nawalny, Pratassewitsch und viele andere in Ost und West, die noch nicht aufgeflogen sind, ganz genau wissen, welches Risiko sie eingehen und dies, sollte es eintreten, für sich in Kauf nehmen. Dabei eint sie alle das Bestreben, bestimmte – in ihren Augen – fragwürdige Handlungsweisen der eigenen Regierung aufzudecken und diese mit Hilfe einer informierten Öffentlichkeit  zu unterbinden. Dass dies eine gewisse Naivität voraussetzt, nämlich zu glauben, Regierungen würden sich, aus Angst vor einem Aufstand, Teile ihrer geheimen Werkzeuge so einfach aus der Hand nehmen lassen, mindert das Verdienst dieser Menschen nicht.

Dass sie uns von den Medien in so unterschiedlicher Weise vorgeführt werden, je nachdem, aus welchem „Block“ sie stammen, entweder als Helden oder Verbrecher, ist eines der offenkundigsten Beispiele für das so genannte „Framing“, was früher auf deutsch einfacher und verständlicher hieß: „Es wird mit zweierlei Maß gemessen.“

Unsere Nachrichten, die Statements von Politikern, Wirtschaftsführern und Geistlichen strotzen geradezu vor zweierlei Maß. Es fällt nur kaum auf, weil die „Gegenrede“ im gleichen Umfeld nicht zu finden ist. Zur Tagesschau bedarf es der „Macht um acht„, zur Bundespressekonferenz eines „Boris Reitschuster„, zu Karl Lauterbach braucht es unter anderem „ScienceFiles„, und so weiter, und so weiter.