Die Staatsdemokratie-Regierungsverfassung und der Nazi

Unabdingbare Voraussetzung für zielführendes Denken ist die hinreichende Fähigkeit des Unterscheidens und Differenzierens.

Eine Gesellschaft, die sich darin gefällt, der Mühe dieses Unterscheidens so weit zu entsagen, dass in jeglicher Angelegenheit nur noch eine Unterscheidungsmöglichkeit überhaupt gestattet und zugelassen wird, kann immer noch Großes hervorbringen, kann sich machtvoll entfalten, weil die Geister, die sie lenken, eben darin die außerordentliche Möglichkeit sehen, die Kräfte der Gesellschaft optimal zu bündeln.

Dennoch muss eine solche Gesellschaft über kurz oder lang zugrunde gehen, weil ihre radikal vereinfachten Wahrheiten sich zwangsläufig auch zum geistigen Gefängnis ihrer Anführer entwickeln, aus dem sie sich nicht mehr befreien können, ohne dabei das Gesicht und Reputation zu verlieren.

„Wasser predigen, aber Wein saufen“,

ist eine der Formeln, die das Problem auf den Punkt bringen.

Einen Aufschub bringt es, wenn daraufhin die Unterscheidung in Wasser und Wein aufgehoben und die Verwendung dieser Bezeichnungen bei Strafe verboten wird, während als neuer Begriff die „Flüssigkeit“ eingesetzt wird.

„Flüssigkeit predigen, aber Flüssigkeit saufen“,

wäre dann zwar noch sagbar, seiner kraftvollen Aussage – bis auf das verräterische „aber“ – jedoch vollends beraubt.

Oliver Sacks, der britische Neurologe, hat mit dem Titel: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, ein ebenso lustig zu lesendes, wie erschreckendes anekdotisches Buch über die Folgen von funktionalen Gehirndefekten geschrieben, die eben dazu führen können, dass der Betroffene in eine Welt abdriftet, die ihm vollkommen real erscheint, während seine Mitmenschen seinem Treiben nur irritiert zusehen können.

Natürlich gibt es in der Literatur viele Beispiele ähnlicher Verwechslungen, unter anderem über den Massenwahn, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Schweiz im Kanton Schwyz grassierte. Da war es der Landvogt Gessler, der zwischen sich und seinem Hut nicht mehr unterscheiden wollte, und jeden, der den Hut geringer schätzte als den leibhaftigen Landvogt, mit Strafe bedrohte. Wie das ausgegangen ist, muss hier nicht ausgeführt werden. Die Geschichte gehört gewissermaßen zum Weltkulturerbe.

 

 

 

 

 

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

 

Nach dieser Vorrede will ich auf zwei parallel laufende Trends hinweisen, in denen der Verlust des zielführenden Denkens durch den bewussten Verzicht auf Unterscheidung und Differenzierung quasi „in vivo“ (neudeutsch: live) studiert werden kann. Der eine Trend markiert die Verschmelzung der Begriffe im Herrschaftssystem, der andere  die Verschmelzung der Begriffe zur Kategorisierung der Untertanen.

 

Im Herrschaftssystem

wurde nicht das Prinzip „Wasser-Wein-Flüssigkeit“ angewandt, sondern das Prinzip „Hut = Landvogt“. Der Prozess hat sich lange hingezogen und hat mit der Formel „Grundgesetz = Verfassung“ seinen Anfang genommen.

Das Grundgesetz, das – als die Organisationsform der Selbstverwaltung eines besetzten Staates – von den Siegermächten zwar nicht verordnet wurde, wohl aber genehmigt werden musste, war seinerzeit mit der Formel versehen:

„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

Das Grundgesetz selbst kannte also den erheblichen Unterschied zwischen Grundgesetz und Verfassung und hat diesen Unterschied in Artikel 146 mit dem Aufruf an das deutsche Volk, sich in freier Entscheidung eine Verfassung zu geben, besonders betont. Heute ist dieser Unterschied verschwunden. Das Grundgesetz ist die Verfassung.

Parallel dazu wuchsen die Begriffe „Staat“ und „Regierung“ zusammen. Es war der Sonnenkönig Ludwig XIV., der diese Vermengung schon einmal vorgenommen hatte, als er postulierte: „L’État, c’est moi! – Der Staat, das bin ich!“

Staat und Regierung übernahmen dann auch die Verfassung, so dass Verfassungsschutz, Staatsschutz und Regierungsschutz eins wurden. Schließlich wurde auch die Demokratie in diesen Reigen aufgenommen, so dass heute, abgesehen von kleinen, noch nicht glattgehobelten Unebenheiten gilt:

„Regierung = Demokratie = Verfassung = Grundgesetz = Staat“

Diesem Konglomerat des Wahren, Guten und Schönen steht als Gegensatz nur noch gegenüber, wer diesen Gesslerhut nicht vorbehaltlos zu grüßen bereit ist: Der Nazi.

Der Nazi tritt ausschließlich im Bereich der Untertanen in Erscheinung. Das war nicht immer so, und die Verschmelzung einer Vielzahl vormals wohlunterschiedener Begriffe zum „Nazi“ ist erstaunlich schnell vor sich gegangen.

 

Die Kategorisierung der Untertanen

Am Anfang steht im Bewusstsein des Untertanen der Vergleich. Oft genug ist es nur der Vergleich zwischen dem eigenen Wohlbefinden heute und dem Wohlbefinden in der Vergangenheit.

Wenn der  Untertan da – trotz der herrschenden Macht der verschmolzenen Einheit aus Staat, Regierung, Demokratie und Verfassungsgrundgesetz – ein wachsendes Unbehagen verspürt, so kann sich das in Unmut und Unmutsbekundungen äußern. Un-Mut ist ja nicht gleichzusetzen mit Feigheit, Unmut drückt den Unwillen aus, „da“ noch länger „so“ mitzumachen.

Bleiben seine Unmutsäußerungen wirkungslos, setzt der Ärger ein. Der Mensch ärgert  sich, und das ist nicht gut fürs Gemüt. Der Ärger muss irgendwie heraus. Es folgen weitere Unmutsäußerungen. Jetzt etwas lauter und heftiger. Aber es ändert sich weiterhin nichts.

Unser Mensch denkt sich: „Mit Humor geht alles leichter“, und beginnt seinen Ärger als Spott zu formulieren. Natürlich ist es die Regierung, die der Spott trifft. Gute Witze verbreiten sich.

Aber noch versucht es unser Mensch gewissermaßen im Guten, doch weil er nun nicht mehr nur nicht gehört wird, sondern auf eine bedrohliche Abwehrhaltung trifft, wandelt sich der anfänglich kleine Unmut nun vom Ärger in Zorn. Der Mann will sein Recht bekommen. Da haut er schon einmal kräftig auf den Tisch, stößt vielleicht auch Drohungen aus, was er tun würde, wenn sich nicht endlich etwas zum Besseren wendet.

Am Ende stehen die Wut und die Tat. Jetzt hat er sich strafbar gemacht, und Staat, Verfassung, Demokratie und Regierung versammeln sich zur Bestrafung: „Wer seine Kritik nicht vernünftig äußern kann, sondern sich über das Gesetz stellt, der ist ohne Zweifel ein Verfassungs-, Demokratie-, Staats- und Regierungsfeind, und wer das ist, der ist ein Nazi.“

Staat, Regierung, Verfassung und Demokratie haben aber genau beobachtet, wie es so weit kommen konnte und haben zu präventiven Maßnahmen gegriffen.

Wie verhindert man den Rechtsextremisten, der zur Tat schreitet?

Man muss schon den zornigen Bürger im Auge behalten. Schließlich ist Zorn die Vorstufe. Zorn geht gar nicht. Zorn ist Nazi.

Weil der Zornige aber nur die Weiterentwicklung des Spötters darstellt, muss auch der Spötter früh bekämpft werden, am besten schon in  der Vorstufe, wo er nur seinen Ärger zu erkennen gibt.

Doch auch damit ist der Sumpf noch nicht trockengelegt. Alles beginnt mit Unmutsäußerungen.  Der verfassungstreue Demokrat hat keine Ursache, Unmut zu äußern. Der weiß, dass der Staat keine Fehler macht. Robert Habeck hat das doch gerade erst wieder verkündet. Wo ist da ein Grund für Unmut? Es ist kein Unmut! Es ist nichts als Hass und Hetze!

Und so sind Unmut, Ärger, Spott, Zorn und Wut zu einem einzigen Begriff verschmolzen, in dem es keine Abstufungen mehr gibt.

„Hass und Hetze“, darunter fällt nun alles, was der aufmüpfige Untertan von sich gibt, wenn er damit zum Ausdruck bringt, die Regierung sei in seinen Augen nicht die Verfassung und die Demokratie, auch nicht der Staat. Die Regierung habe stattdessen dem Staat, und damit ihm, dem Bürger, zu dienen. Er sei eben nicht nur alle paar Jahre an der Urne der Souverän, sondern ganzjährig und immerdar, und er habe ein Recht darauf, dass die Regierung Schaden von ihm abwendet und seinen Nutzen mehrt, und er habe ein Recht darauf, an den Regierenden Kritik zu üben, denn eben das sei der Wesenskern der Demokratie, nämlich die Meinungsfreiheit – und  die sei ihm vom Grundgesetz verbürgt, und wer die Meinungsfreiheit einschränke und sie sogar da sanktionieren will, wo die Inhalte keine strafrechtliche Relevanz haben, der habe den Boden des Grundgesetzes, auf dem er zu stehen vorgibt, in Wahrheit längst verlassen.

Ja. Damit stellt sich der Aufrührer gegen die Regierung, und damit zugleich gegen den Staat, die Verfassung und gegen die Demokratie!

Kein Blatt Papier passt zwischen
Regierung, Staat, Demokratie und Verfassung!

Wer auch nur spöttelt, und damit die Repräsentanten des Staates verächtlich macht, ist Staatsfeind, Verfassungsfeind und stellt frech sein undemokratisches Wesen zu Schau.

Nazi! Hass und Hetze!

 

Der Staats-Demokratie-Verfassungs-Regierungskomplex macht da keinen Unterschied mehr, er lässt Gerechtigkeit gegen Jedermann walten.

Da  darf er doch auch eine Siebzehnjährige, die über Deutschland sagte, das sei für sie kein Ort, sondern Heimat, nicht gänzlich unbehelligt lassen, oder? Es war ja (Jugendstrafrecht?) sowieso nur eine Gefährderansprache durch die Polizei, und es war ja auch noch nicht einmal Unmut. Nur ein fragwürdiges persönliches Bekenntnis mit erkennbar völkischem Einschlag, aber doch schon der Volksverhetzung verdächtig. Es war übrigens der Schuldirektor und nicht die Nachtigall, der es für zwingend erforderlich hielt, dieses Vergehen seiner „Schutzbefohlenen“ zu melden.

Gestern traf es Albrecht Künstle. Das ist auch so einer. Jetzt – endlich? – wurde ihm ein Strafbefehl über 90 Tagessätze zugestellt. Er habe, so im vom Richter unterschriebenen Strafbefehl, es sich vor vier Jahren zuschulden kommen lassen, öffentlich (in der Publikation „Die Unbestechlichen“) die Frage aufzuwerfen: „Warum gewalttätig gewordene Muslime oft als unzurechnungsfähig gelten?“, und das sei Volksverhetzung gem. §130 Strafgesetzbuch.

Es war wohl eher nicht die – seinerzeit noch alleine durch Zeitungslektüre – belegbare Aussage in dieser Frage, sondern die Unzulässigkeit der Frage als solcher, die zum Strafbefehl geführt hat.

Natürlich sind das alles nur Einzelfälle.

Ich meine jetzt die Fälle von Kontensperrungen, Hausdurchsuchungen, Gefährderansprachen und Festnahmen.

Darin zeigt sich aber deutlich, wie gut der Demokratieverfassungsregierungsstaat inzwischen darin geworden ist, sich  zu verteidigen. Es geht offenbar nur noch um die letzten versprengten Reste der unbelehrbaren Angehörigen des harten Kerns, auch wenn deren jetzt angeklagte Sünden Jahre zurückliegen.

Das ist nichts, das sind nicht einmal peanuts, im Vergleich zu jenen Millionen, die nichts zu befürchten haben, weil sie ihre Liebe zur Demokratieverfassungsstaatsregierung nicht verbergen, sondern überall im Lande in den Demos gegen rechts offen und gratismutig bekunden.

Wie war das gleich?

Wo leben wir?

Im besten Deutschland aller Zeiten?

Ja?

Dann können Sie unbesorgt sein. Sie sind ein guter Deutscher.