Berlin – 29. August 2020

Muss ich wirklich auch noch  meinen Senf dazugeben?

Demo und Demoverbot waren doch im Grunde längst abschließend durchgehechelt, noch bevor Angela Merkel und Ministerpräsidenten sich darauf einigten Großveranstaltungen jeglicher Art für den Rest dieses Jahres vollständig zu verbieten. Nun steht die geballte Staatsmacht hinter dem Berliner Innensenator, der klar aufgezählt hat, was er in vermeintlich „seiner“ Stadt nicht mehr sehen will. Gibt es irgendwo noch einen Buchmacher, der keine Wetten auf Teilnehmerzahlen, den genauen Zeitpunkt des Beginns des Wasserwerfereinsatzes oder der zum Einsatz gebrachten Tränengasmengen anbietet?  Das würde mich doch sehr wundern.

Die besonnenen Kommentatoren rufen die Verantwortlichen und die potentiellen Demonstranten zur Besonnenheit auf. Die Verantwortlichen mögen das Verbot zurücknehmen, die potentiellen Demonstranten besser zu Hause bleiben.

Die aufgeregten Kommentatoren rufen die potentiellen Demonstranten auf, ihre Aufregung zu teilen und – jetzt erst recht – gleich  zu Millionen anzurücken, während ebenso aufgeregte Kommentatoren mit den passenden Parteibüchern die Verantwortlichen aufrufen, sich bloß nicht zu scheuen, mit aller Härte durchzugreifen.

In den Gassen wimmelt es nur so von Grundgesetzkennern, während sich in anderen Gassen die Pandemie-Experten hinter der stumpfen Impf-Spritze versammeln.

Die Gemengelage ist brisant. Dabei steht heute schon eines fest:

Was auch immer an diesem Wochenende in Berlin geschehen wird, ob es friedlich bleibt oder ob es wüste Zusammenstöße zwischen Demonstranten, Gegendemonstranten und Polizei geben wird, ob Schaufenster zerbrechen, Automobile in Flammen aufgehen, ob ein Pferd der berittenen Polizei stürzt und erschossen werden muss, ob Wasserwerfer zu den Klängen der Europa-Hymne ein Wasserballett vorführen oder zu den Klängen von Polizeisirenen Demonstranten wie Kehricht von der Straße spritzen …

„Das Hornberger Schießen, war ein voller Erfolg dagegen.“

Spätestens am Montag sind 99,9 Prozent der Demonstranten wieder zu Hause und lesen begeistert nach, was die alternativen Medien über die Ereignisse zu berichten haben. Die aus der ganzen Republik herangekarrten und vorsorglich vom Berliner Polizeirechtfertigungserlass ausgenommenen Hilfspolizisten befinden sich auch längst wieder auf der Heimfahrt, wenn nicht gar schon im verdienten Sonderurlaub, und Angela Merkel lässt sich in aller Herrgottsfrühe in ihrem waschmaschinenartigen Gehäuse von Frau Baumann darüber aufklären, was an diesem Tag alles an Terminen ansteht.

Das Chaos ist überstanden – und die Weggetauchten tauchen wieder auf. Irgendjemand macht den Butler James und fragt: „Same procedure as last year?“, und weiß doch schon, dass die selbe Prozedur angesagt ist, wie jedes Mal, wenn die Aussitzenden sich aus Sasse und Kuhle zu erheben wagen.

Dushan Wegner hat dieser Tage einen kühnen Schluss gewagt:

In Anlehnung an den Spruch, wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten, folgerte er, dass auch Demonstrationen, wenn sie etwas ändern würden, verboten wären, und kam dann zu dem Ergebnis, dass mit dem Verbot erwiesen sei, dass Demonstrationen etwas ändern könnten.

Das ist Balsam auf so manche Seele. Doch auch hier, lieber Dushan, wird die Realität gewinnen. Es wird sich nichts ändern, eben weil Demonstrationen, die etwas verändern könnten, letztendlich immer noch verboten werden können.

Was haben wir in dieser unserer Republik nicht alles schon an großen Aufläufen erlebt: Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Hambacher Forst, G20-Gipfel, Fridays for Future …

Und, was ist davon geblieben? Wehmütige Erinnerung. Ganz genau so, wie vor sechzig, siebzig Jahren als der Opa nicht aufhören konnte, von seinem Krieg zu erzählen, von dem von 14/18.

Am Dienstag unterhielt  ich mich mit jemandem, dessen Meinung ich sehr schätze, und der sagte: „Ich glaube, die fühlen sich so sicher, weil sie überzeugt sind, alles im Griff zu haben. Von den Medien über die Polizei bis hin zur Bundeswehr und zur linientreuen System-Kindergärtnerin. Die wissen, dass es nirgends mehr ein Schlupfloch gibt – und sie verhalten sich entsprechend. Das Volk zur Kenntnis nehmen? Wozu denn?“

Als ich daraufhin mein freundlichstes Grinsen aufsetzte, meinte er: „Ich weiß, du bist ein unbelehrbarer Optimist …“

Ja. Durchaus. Ich bin optimistisch. Aber eben auch realistisch. So realistisch, dass ich den Ausgang des Ringens um die Hoheit über den öffentlichen Raum in Berlin als irrelevant für die weitere gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland ansehe. Folglich messe ich der verbotenen und dennoch irgendwie stattfindenden Demo in Berlin keine Bedeutung zu. Die Demo – genehmigt oder nicht – ist  doch nur die Fortsetzung der wirkungslosen Petition mit anderen, aber ebenso wirkungslosen Mitteln.

Mein Optimismus stammt aus sehr viel tieferen Strömungen als dem tagesaktuellen Klima-, Diesel-, Feinstaub-, Migrations- und Corona-Tingeltangel und den sich dabei hier und da entschlossen erhebenden Widerstandshäuptern.

Ich muss ein bisschen ausholen.

Vor gefühlten hundert Jahren hatte ich meinen Refa-Schein zu machen. Dabei habe ich nicht nur gelernt, dass Refa nichts Schlechtes, sondern sehr viel mehr ist, als der Versuch, Akkordarbeiter mit wissenschaftlichen Methoden optimal auszubeuten; und ich habe bei dieser Schulung einen Satz gehört, der mir wichtig geworden ist und immer wieder in mir aufsteigt.

Der Refa-Mann, der einen Arbeitsschritt beobachtet, hat letztendlich, neben dem Festhalten aller mess- und zählbaren Erkenntnisse, eine ganz wichtige Aufgabe. Er muss den „Leistungsgrad“ des beobachtenden Mitarbeiters abschätzen. Und dazu gehört jener Satz:

„Mit dem Leistungsgrad von 100 Prozent verhält es sich wie mit dem rechten Winkel. Den erkennt jeder Mensch ganz ohne Messgerät.“

Je größer die Abweichung nach oben oder unten, desto problematischer wird es, auf den Prozentpunkt genau zu schätzen. Ob jemand aber 100 Prozent abliefert, oder ob seine Leistung darunter bleibt oder die 100 Prozent übersteigt, das  ist einfach offenkundig, selbst wenn der Beobachtete sich alle Mühe gibt, seine wegen der Beobachtung deutlich heruntergeschraubte Leistung durch allerlei vorgespielte Hektik als überdurchschnittlich erscheinen zu lassen.

Inzwischen habe ich eine ganze Reihe solcher „rechter Winkel“ identifiziert. Einer davon ist die Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit steht als rechter Winkel in der Mitte einer Ebene, die links in Richtung Lüge, rechts in Richtung der vollständigen Wahrheit weist. Schließlich ist niemand verpflichtet, alles offen mitzuteilen, was er weiß. Es genügt, dass das, was er sagt und verspricht, glaubhaft ist und auch so zutrifft. Mit der Gerechtigkeit verhält es sich ähnlich. Der rechte Winkel liegt, nicht nur was das Materielle betrifft, in der Mitte zwischen zu viel und zu wenig. Auch das Strafmaß eines Gerichts kann zu hoch oder zu niedrig ausfallen und damit von der Gerechtigkeit abweichen.

 

Die tiefere Strömung, die meinen Optimismus speist, ist das, was die Mitte und damit die Masse des Volkes bewegt. Dort bewirkt jede Abweichung von der Vielzahl der „rechten Winkel“ eine Verhaltenskorrektur und Veränderungen im Wertesystem. Diese Veränderungen drücken sich nicht in konkreten und detaillierten Forderungen aus, sondern in allmählichen Veränderungen der Einstellungen. Der Auflagenschwund der Printmedien ist zumindest zu einem großen Teil auf veränderte Einstellungen zurückzuführen, weil die Glaubwürdigkeit nicht mehr im Lot ist. Die massiven Zustimmungsverluste der SPD gehen auf das Konto des seit Schröder immer weniger erkennbaren Strebens nach Gerechtigkeit in dieser Partei. Auch die seit Beginn der Ära Merkel immer weiter schrumpfenden Ergebnisse der Union bringen die Tatsache, dass da etwas aus dem Lot geraten ist, ebenso zum Ausdruck, wie die Kirchenaustritte bei beiden großen christlichen Kirchen.

Was sich daraus entwickeln wird, wie sich neue Strukturen bilden, und warum auch die verbotswidrig stattfinden werdende Demo am 29. August außer einem großen Bohei für zwei Tage und danach einer Woche kritischer Auseinandersetzungen in den Medien nichts bringen wird, weil sie mit der nächsten Sau, die durchs Dorf getrieben wird, schon wieder aus dem Bewusstsein der Masse verschwindet, dazu habe ich vor einiger Zeit schon ein ganzes Buch geschrieben.

Es heißt: „Wo bleibt die Revolution – die Sollbruchstelle der Macht“ und kann hier zum Preis von 18,80 Euro bestellt werden. Als E-Book ist es mit 7,49 € noch deutlich preiswerter.