Die verdiente Regierung

Ein an Zynismus grenzendes Bonmot besagt:

„Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“

Eine Aussage, die allerdings praktisch nur dann getroffen wird, wenn sich das Regierungshandeln nicht gerade positiv auf das regierte Volk auswirkt. Dass sich ein Volk eine gute Regierung verdient haben könnte, liegt zwar als Möglichkeit in der Logik des Satzes, wird bei der Interpretation aber praktisch nie in Erwägung gezogen.

Auf die Gefahr hin – und die ist relativ hoch – bei der Analyse dieser „Erkenntnis“ in den Bereich der Delegitimierung des Staates zu geraten, will ich versuchen, die Allgemeingültigkeit, vielleicht sogar Naturgesetzlichkeit der so postulierten Kausalität zu widerlegen.

Schließlich haben wir eine Regierung, von der nicht wenige meinen, wir hätten sie nicht verdient.

Der empirische Ansatz verbietet sich von selbst. Das hieße ja, den menschenverachtenden Hohn und Spott der Zyniker in den realen Bereich von Hass und Hetze zu transformieren und eine – die Mehrzahl der Völker beleidigende – Sichtweise einzunehmen.

Bei der abstrakt-logischen Herangehensweise findet sich als bestimmende Funktion im Verhältnis zwischen Volk und Regierung der „Verdienst“. Definiert man „Verdienst“ als den „Gegenwert einer Leistung“, dann ließe sich für das Verhältnis Volk : Regierung ein Nullpunkt definieren, der da lautet:

Erbringt ein Volk keine (null) Leistung, kann es auch keine (null) Regierung haben.

Dieser Nullpunkt ist in der Realität allerdings nicht anzutreffen. Nullleistung würde ja bedeuten,  dass nicht einmal das Nötigste für den Selbsterhalt geleistet wird, was wiederum bedeutet, dass das Volk bereits nicht mehr existiert oder unmittelbar vor dem Ende seiner Existenz steht. Das Fehlen einer Regierung ist in diesem Zustand auch schlüssig, weil es ja nichts Regierbares mehr gibt. Der erste Versuch der Widerlegung ist also an der Extremposition der regierungslosen Nullleistung gescheitert.

Die andere Extremposition ist schwieriger zu beschreiben, weil das andere Ende der Skala sich der eindimensionalen Einordnung, wie sie mit „beste“ oder „höchste“ oder „fantastischste“  Leistung bzw. Regierung ausgedrückt werden könnte, entzieht.

Interessant wird der Versuch mit dem „Maximum“.

Für eine maximale Regierung gibt es nämlich einen Begriff, und der lautet „absolute Diktatur“. Von da aus erschließt sich die Erkenntnis, dass das Naturgesetz nicht einseitig gerichtet ist, sondern sich auch umkehren lässt. Es kann sowohl das Volk sein, dass sich eine Regierung verdient, es kann aber auch die Regierung sein, die sich das Volk verdient, denn einem Volk die maximale Leistung abzufordern gelingt nur unter den Bedingungen der absoluten Diktatur. Dies – und das sei am Rande erwähnt – ist allerdings auch nur ein flüchtiger Zustand. Maximale Leistung bedeutet auch „maximaler Verschleiß“ und damit „plötzlicher, vollständiger Zusammenbruch“, also die Rückkehr zum Nullpunkt: Kein Volk – keine Regierung.

In der Mitte zwischen den beiden Extremen darf folglich so etwas, wie ein Optimum vermutet werden. Des Weiteren kann folgende Hypothese über das Kippen der Richtung der Abhängigkeit formuliert werden:

„Zwischen Nullpunkt und Optimum verdient sich das Volk seine Regierung.
Zwischen Optimum und Maximum verdient sich die Regierung ihr Volk.“

Der Weg der Logik endet hier vermeintlich, weil es unmöglich erscheint, die Kriterien für den Begriff der „Leistung“, die dem Verdienst gegenübersteht, umfassend und allgemeingültig zu beschreiben.

Hier hilft ein Kunstgriff weiter, nämlich die Verwendung einer Analogie. Es handelt sich schließlich in beiden Richtung um eine Beeinflussung der Zustandes und des Verhaltens, die entweder vom Volk oder von der Regierung ausgeht. Dies wiederum kann man durchaus auch als „Erziehung“ bezeichnen. Arbeitet man mit diesem Begriff weiter, so ergibt sich:

„Zwischen Nullpunkt und Optimum erzieht sich das Volk seine Regierung.
Zwischen Optimum und Maximum erzieht sich die Regierung ihr Volk.“

Spielen wir das Ganze einmal vom Nullpunkt bis zum Maximum gedanklich durch.

Knapp über Null:

Ein fast schon totes Volk verspürt seinen elementaren Überlebenswillen. Es sammelt seine Kräfte und beginnt damit, Schritt für Schritt die Verhältnisse lebensfreundlicher zu gestalten. Es wehrt alle dem im Wege stehenden Interessen ab, so gut es kann, was Führungspersönlichkeiten hervorbringt, die das Volk bei seiner Auferstehung unterstützen, die helfen, Hindernisse zu überwinden oder sie aus dem Weg zu räumen. Es beginnt sich eine Ordnung grundlegender Strukturen zu bilden, die vom Volk als vorteilhaft empfunden wird. Änderungen daran quittiert das Volk mit Kritik, und unter den Bedingungen der Volksherrschaft, die noch nicht in den Ritualen der Demokratie gefangen  ist, findet eine Auslese unter den Führungspersönlichkeiten statt, dahingehend, dass nur diejenigen, die kraftvoll und weise auf das Optimum hinarbeiten, überhaupt akeptiert werden.

Mitte zwischen Null und Optimum:

Das Volk akzeptiert Maßnahmen zur Stabilisierung und Absicherung der Ordnung und nimmt dabei Einschränkungen der persönlichen Freiheiten in Kauf. In der Regierung werden die Kräfte, die auf die Erreichung des Optimums hinarbeiten schwächer, während die Kräfte der Erstarrung, des Festhaltens am bereits Erreichten stärker werden. Die Entwicklung hin zum Optimum verlangsamt sich, auch weil in weiten Teilen des Volkes immer mehr Zufriedenheit eintritt, so dass die anfänglich konstruktiv wirksame Kritik leiser wird. Es geht ja alles gut, die Richtung stimmt, warum sich also noch aufregen und einmischen.

Optimum

Das Volk hat seine Ziele erreicht. Es geht allen gut. Der Wohlstand erscheint sicher. Nur noch wenige interessieren sich für die Arbeit der Regierung.  Die Regierung hingegen wehrt sich gegen den Eindruck, überflüssig zu sein und entwickelt neue Pläne, schmiedet neue Gesetze, um das Optimum zu optimieren. Da dies nicht möglich ist, bzw., weil vom Gesamtoptimum aus jede weitere Optimierung auf einem Gebiet zwangsläufig nur mit Verlusten auf anderen Gebieten erkauft werden kann, schaukelt die Entwicklung zwischen den partiell erreichbaren Optima und ihren negativen Auswirkungen eine Weile vor sich hin. Die Regierung beginnt den Kampf gegen die negativen Auswirkungen der eigenen Politik.

Mitte zwischen Optimum und Maximum

Das Volk stellt fest, dass ihm mehr Leistung abverlangt wird als für das immer noch gute Ergebnis erforderlich wäre, weil die Manipulationen der Regierung, so gut sie gemeint sein mögen, die Lage immer nur noch ein Stück weiter verschlechtern. Die Regierung stellt dies ebenfalls fest und kommt zu dem Schluss, mehr Druck auf das träge gewordene Volk ausüben und Kritiker ihrer Maßnahmen mundtot machen zu müssen, damit die Masse des Volkes nicht von Populisten vom rechten Weg abgebracht werden kann. So wird  aus produktiver Arbeit mehr und mehr administrativer Leerlauf, Wohlstand und Freiheiten schwinden weiter. Das Volk sieht ein, den falschen Führern gefolgt zu sein, die zwar durchaus befähigt waren, aber in ihrer Hybris immer neue Irrwege gehen wollten. Also wählt sich das Volk schwächere, dümmere Führungspersönlichkeiten, von denen es irrtümlich annimmt, die würden künftig nur noch das Erreichte verwalten, hätten aber keine eigenen Ideen, um noch Wesentliches ändern zu wollen.

Knapp vor dem Maximum

Der Austausch der Regierung in dem mehrmals die noch Befähigten durch minder qualifiziertere und inkompetentere Figuren ausgetauscht wurden, hat die Hoffnungen des Volkes nicht erfüllt. Berauscht von der Macht, die sie nie zu erringen gehofft hatten, treiben sie das Volk mit dummen, teilweise verrückten Ideen zum Widerstand. Dieser Widerstand wird jedoch mit einem immer weiter ausufernden Repressionsapparat unterdrückt. Niemand weiß noch, was mehr Geld verschlingt, die verrückten Ideen oder der Repressionsapparat. Aus offenem Widerstand entwickeln sich subtile Formen der Leistungsverweigerung, denen wiederum offener Zwang von Seiten der Regierung entgegengestellt wird. Erzwungener maximaler Energieeinsatz genügt gerade noch, um die Rotation im Leerlauf aufrecht zu erhalten. Das Volk verliert den Zusammenhalt, jeder folgt nur noch dem eigenen Egoismus. Die staatlichen Strukturen versagen, die Ordnung zerfällt rapide.

Knapp vor Null

Ein fast schon totes Volk verspürt seinen elementaren Überlebenswillen. Es sammelt seine Kräfte und beginnt damit, Schritt für Schritt die Verhältnisse lebensfreundlicher zu gestalten. Es wehrt alle dem im Wege stehenden Interessen ab, so gut es kann, was Führungspersönlichkeiten hervorbringt, die das Volk bei seiner Auferstehung unterstützen, die helfen, Hindernisse zu überwinden oder sie aus dem Weg zu räumen. Es beginnt sich eine Ordnung grundlegender Strukturen zu bilden, die vom Volk als vorteilhaft empfunden wird. Änderungen daran quittiert das Volk mit Kritik, und unter den Bedingungen der Volksherrschaft, die noch nicht in den Ritualen der Demokratie gefangen  ist, findet eine Auslese unter den Führungspersönlichkeiten statt, dahingehend, dass nur diejenigen, die kraftvoll und weise auf das Optimum hinarbeiten, überhaupt akeptiert werden.

Da waren wir schon mal.

Es scheint sich um ein zyklisches Geschehen zu handeln. Wobei die Frequenz vom Potential des Volkes abhängt, das wiederum das Tempo bestimmt, in dem der Weg von „knapp über null“ zum jeweiligen „Optimum“ (Amplitude) zurückgelegt werden kann.

Ist es also ein Naturgesetz, das nicht durchbrochen werden kann?
Ich hätte gerne das Gegenteil bewiesen.

Und warum ist das Verweilen im Optimum so schwer?

Am 23. Mai wird in Berlin übrigens ein Jubiläum gefeiert:

75 Jahre Grundgesetz

Dem schließt sich ein dreitägiges Demokratiefest an, zu dem alle Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind. Dass nicht 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland gefeiert werden, und dies im ganzen Land, mag mit dem sonderbaren Umstand zusammenhängen, dem wir das Grundgesetz zu verdanken haben.

Trotzdem kann der oben geschilderte Zyklus, den wir nach den Zyklen „1848 – 1871 – 1918“ und „1918 – 1936 – 1945“ derzeit durchlaufen, auch ohne offiziellen Staatsgeburtstag noch einmal nachvollzogen werden.

                                           Knapp über Null: ~1950

          Mitte zwischen Null und Optimum: ~1965

                                                        Optimum: ~1980

Mitte zwischen Optimum und Maximum: ~1995

                                   Knapp vor Maximum: ~2015 ?