War wohl ein geistig verwirrter Gefährder

Ein Weihnachtsmarkt ist zwar mehr Markt als alles andere, aber eben doch auch eines jener  Accessoires, die der noch schwach christlich geprägte Mitteleuropäer braucht, um sich für die bevorstehenden Feiertage so recht in Stimmung zu bringen. Mit Glühwein und Bratwurst härten sich die Erwachsenen gegen den unschuldigen Blick strahlender Kinderaugen ab und frönen dem eigenen abgebrühten Zynismus. Die ganz Alten, die fast wieder so unschuldig schauen können wie die ganz Kleinen, bleiben dem Trubel lieber fern, schon weil mit dem Rollator kein Durchkommen mehr ist.

Was den Weihnachtsmarkt von anderen Märkten unterscheidet, das ist das jahreszeitlich vorhersehbare schlechte Wetter. Es ist aber auch die aus der katholischen Festtagsinszenierung übernommene und ins Profane übertragene Dekoration. Wo in den Kirchen echte Kerzen – im leichten Luftzug manchmal flackernd – ihr stilles, warmes Licht verbreiten, sind draußen hyperaktive LED-Ketten am Blinken und Blitzen und das in scheußlichen wechselnden Farben. Es ist ein Wettkampf um die Aufmerksamkeit ausgebrochen, da draußen auf dem Markt, der bei aller  zur Schau gestellten Besinnlichkeit doch erahnen lässt, dass Umsatz wichtiger ist als vorweihnachtlicher Frieden.

Dann kommt ein Nafri daher und ballert in die Menge.

Natürlich ist es ein Einzelfall. Es fließt zwar Blut, es bleiben drei oder vier Tote liegen, doch weil es ein Einzelfall ist, ein tragischer Einzelfall allzumal, ist es  letztlich nichts anderes  als die Begegnung mit einem Geisterfahrer auf der Autobahn. Es kracht. Es  gibt einen, zwei, fünf Tote. Von hinten noch ein paar Autos, die nicht mehr bremsen können. Verletzte, Sanitäter, Hubschrauber, Polizei, die Feuerwehr räumt auf, am nächsten Tag steht es in der Zeitung. Was will man mehr?

Unglücklicherweise haben wir keinen wirklich treffenden Ausdruck für das Gegenteil des Einzelfalles. Serienmörder (früher Massenmörder), das trifft es nicht. Massenmörder gibt es nicht mehr. Weil: Wenn Massen getötet werden, dann ist das Krieg. Und Krieg, das ist was mit Soldaten und so. Also kein Mord. Es gibt im Krieg auch kein Massensterben. Das gibt es noch bei Insekten, wenn vermutet wird, dass die insektuelle Biomasse massiv geschrumpft ist, seit dem vorindustriellen Zeitalter, als auch die Durchschnittstemperatur noch 1,5 bis 2 Grad unter dem lag, was keinesfalls überschritten werden darf, weil sonst – nun ja, Sie wissen schon – die Welt untergeht, jedenfalls die tiefer gelegenen Teile.

Da der Nafri von Straßburg den Behörden schon länger bekannt war, weiß man auch, dass der Einzeltäter in diesem Einzelfall nicht nur nordafrikanische Wurzeln hat, sondern auch muslimischen Glaubens ist, was, zusammengenommen, nur bedeuten kann, dass es sich um den extrem seltenen Einzelfall des geistig verwirrten Attentäters handelt, wie es auch vor nunmehr schon zwei vollen Jahren beim Einzelfall am Breitscheidplatz gewesen ist. Er wurde in einem Feuergefecht mit der Polizei angeschossen, konnte aber noch flüchten. Ob er sich ebenfalls von italienischen Polizisten in Mailand ganz totschießen lassen wird, wie Anis Amri? Wir wissen es noch nicht. Es wäre dann aber wiederum nur ein Einzelfall unter vielen. Deswegen darf man nicht die ganze EU-ropäische Polizei über einen Kamm scheren. Die meisten sind brave, friedliebende Beamte, die ihren Glauben an Recht und Ordnung leben und sich eben nicht radikalisieren. Die Bilder von Polizisten im Einsatz, in der inzwischen weltweit üblichen Ganzkörperverhüllung (ugs. Bullenburka), mögen zwar auch dem friedliebenden Bürger Angst und Schrecken einjagen, doch für die ganz große, überwiegende Masse der Polizisten gilt: Die wollen nur spielen. Und sie haben es auch nicht leicht, das darf man nie aus den Augen verlieren. Daher sollte man ihnen, überall wo sie auftauchen, hilfsbereit und freundlich entgegengehen. Ja, sie würden sich sicherlich auch freuen, wenn sie mal mit Teddybären beworfen würden, statt mit Pflastersteinen.

Es treibt mich immer noch die Frage um, ob es nicht doch ein Wort gibt, das ab einer bestimmten Anzahl von Einzelfällen pro Zeiteinheit benutzt werden könnte, um die andere Qualität des Geschehens korrekt zu bezeichnen. Das Problem ist „der Fall“, den es zweifellos gibt und auf dem das ganze Unverständnis aufbaut. Klar, auch der Fall hat seinen Plural, doch der ändert nichts daran dass Fälle eben aus Fall+Fall+Fall+Fall bestehen, aus unabhängigen Einzelfällen eben, die einzeln betrachtet, einzeln untersucht, einzeln berichtet und einzeln abgeschlossen werden, zum Beispiel am Bahnhof von Mailand. So weist dann auch die Kriminalstatistik zwar eine Summe aus, aber die ist eben nur eine Zahl, die wiederum den Schrecken der Einzelfälle überhaupt nicht wiederzugeben in der Lage ist.

Wir bräuchten einen Begriff, der ungefähr so eindeutig, so allgemein verständlich, und absolut nicht missinterpretierbar ist, wie „Gewitter“.  Jeder Blitz:ein Einzelfall; jeder vom Sturm entwurzelte Baum, jedes abgedeckte Dach, jedes vom Hagel zerschlagene Fenster: ein Einzelfall; doch alle Einzelfälle miteinander bilden die neue Qualität „Gewitter“.

Straßburg gehört nicht in die Kategorie Einzelfall. Straßburg ist ein Teil eines übergeordneten Geschehens, für das wir noch keinen politisch korrekten Begriff gefunden haben.

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Erste Wortmeldungen:

Einzelfall … Straßburg – Das ist eine SERIE!

Nachtrag: Als Mathematiker bevorzuge ich doch REIHE: Da kann man viele Sätze zitieren bzw. adaptieren. Eine der spannendsten Fragen ist ja, ob eine Reihe konvergiert, Häufungspunkte hat, Gesetzmäßigkeit (damit Berechenbarkeit des (i+1)-ten Elementes) usw.

Als erstes fiel mir Glaubenskrieg ein, der ist ja bei den drei großen monotheistischen Religionen systemimmanent. Im Gegensatz z.B. zu den Kreuzzügen zeichnet sich der heutige islamistische Glaubenskrieg/Terror ja gerade durch die Einzeltäterschaft aus.
Ich bin weiter am brainstormen, neue Ergebnisse lasse ich Sie wissen.
Systemfall – wobei der nicht zweideutig ist, sondern (gewollt) mehrdeutig. Würden aber vermutlich nur wenige verstehen diese mindestens Doppeldeutigkeit.
Kartenhaus oder System- / Gesellschafts-Jenga – damit könnten die meisten Leute sicher was anfangen,
Wie wäre es mit: Vom Einzelfall zum Regelfall!
ich denke Ihre Assoziation „Gewitter“ trifft es ganz gut. Vielleicht wäre „Entladung“ noch passender. Entladung ist noch diffuser, kündigt sich noch weniger an. Plötzlich leuchtet ein ganzes Luft-Areal auf. Gas-Korona-Entladung, wie in einer Leuchtstoffröhre.  Spannung ist allerdings, wie beim Gewitter, ebenfalls vorausgesetzt. Nur, „wo es zuschlägt“ ist noch weniger vorhersehbar, greifbar.

Spannung ist genug da. Die Bomben und die Drohnen und ihre Opfer in den Herkunftsländern, sie kommen irgendwie „von hier“. Spannung liegt in der Luft wegen des Traums vom besseren Leben hier, der sich nicht erfüllen will. Rundum im Glimmerflimmer und der Ausgelassenheit des Marktes scheint es aber da zu sein, das bessere Leben. Unerträglich die Spannung gegenüber der zurückgelassenen Familie, dem Clan, von dem man vorgeschickt wurde, der zusammengelegt hat, den Schleuser und Schlepper zu bezahlen. Und nun muss nach Hause kleinlaut mitgeteilt werden, dass die erhofften Überweisungen ausbleiben werden, auf unbestimmte Zeit. (Demnächst, wenn das Migrationsabkommen greift, tritt die Enttäuschung auch ganz ohne Schlepper und Schleuser ein.)

So diffus und flächig die Entladung auch sein mag, wie beim Elmsfeuer nimmt die Entladung der Spannung ihren Ausgangspunkt oft an exponierter Stelle, am Mast eines Schiffes etwa, dem am höchsten herausragenden Punkt in der Weite des Ozeans. An einem Baumwipfel am Waldrand. Am „Einzelfall“. Der Einzelfall ist aber sekundär, fast beliebig. Er findet sich. Er ist weder der Grund der Spannung noch der Entladung. Auch eine Strategie der Spannung braucht den zufälligen, exponierten Punkt, der die Entladung triggert.  Bei Aldo Moro waren es paradoxerweise die Brigate Rosse. Mit dem Attentat und dem Mord an Aldo Moro hatte sich dessen Versuch des „historischen Kompromisses“ mit der Linken erledigt.

Umberto Eco hat herrlich realistisch romanhaft geschildert, wie echte Terroristen als nützliche Idioten, sogar ohne es zu ahnen, von Geheimdiensten gesponsert, ausgestattet und geführt werden, um im rechten, also brauchbaren Augenblick ihren Anschlag zu verüben, mit mäßigem Erfolg und Gott und den Diensten sei Dank geringen Opfern, selbst aber dabei von der Polizei, die zufällig ebenfalls zu Stelle ist, so gründlich beseitigt werden, dass man sie nicht erst noch zu verhören braucht. (Sie haben bei dem Weihnachtsmarkt-Attentäter süffisant angemerkt, ob er denn womöglich auch in Mailand vollständig totgeschossen werden würde.)

Ja, eine Entladung kommt immer irgendwie zur rechten Zeit, nämlich bei Gelegenheit. Diese kam zur rechten Zeit – für Macron?