Lesen und Schreiben im Bundestag (Satire)

Demokratie braucht keinen Bildungsabschluss.

So lassen sich die Worte der – wegen des mehrfachen Nachhakens eines Abgeordneten der AfD – sich offenbar provoziert fühlenden Fr. Dr. Franziska Brantner, (Bündnis 90 – Die Grünen), vielleicht am ehesten auf den Punkt bringen.

Nehmen wir entschuldigend an,

dass Frau Brantner, hätte sie ausreichend Zeit gehabt, ihren Satz vor dem Aussprechen zu überdenken, zu einer weniger angreifbaren Formulierung gefunden  oder den Satz vielleicht auch ganz gestrichen hätte,

so bleibt doch ein Rest von Unbehagen übrig.

Ist tatsächlich ein Bundestagsabgeordneter denkbar,
der des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist?


Müssen nicht alle Abgeordneten die Bundestagsdrucksachen lesen, schon um zu wissen, worum es in den Abstimmungen geht?

Theoretisch muss ein Bundestagsabgeordneter gar nichts. Er muss nicht in den Plenarsitzungen sitzen, er muss nicht an Ausschusssitzungen teilnehmen, er muss keinen Redebeitrag abliefern, er muss an keiner Abstimmung teilnehmen, denn er ist allein seinem Gewissen verantwortlich und an Weisungen nicht gebunden. Warum, in drei Teufels Namen, sollte er dann Lesen müssen?

Aber wie sollte er dann überhaupt gewählt werden können?

Muss ein Kandidat sich nicht permanent über wichtige politische Themen informieren, also Zeitungen lesen, sich auf Facebook und Twitter informieren, sich zu alledem eine eigene Meinung bilden, diese im stillen Kämmerlein (schreibend) in einen Rede-Entwurf einbringen und die wohlgesetzte Rede dann in Bierzelten, auf Marktplätzen und bei Museumseröffnungen vom Skript ablesen?

Ja. Ein Direktkandidat, der für einen Wahlkreis antritt, der wird es schwer haben, die notwendigen Stimmen auf sich zu vereinen, wenn er außer dem gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF und vielleicht noch der Tagesschau um acht keine anderen Informationsquellen hat, ja vielleicht nicht einmal die detaillierten Ergebnisse der Meinungumfragen wahrnehmen kann.

Aber diese Direktkandidaten sind ja eine aussterbende Spezies. Nach dem neuen Wahlgesetz kommen die ja, trotz aller Mühen, stets auf dem Stand der Zeit zu sein, nur noch dann in den Bundestag, wenn die Sitze die der jeweiligen Partei per Zweitstimme zustehen, auch genügen, um damit alle Direktkandidaten mit einem Mandat zu versehen.

Wo es hingegen weniger Direktmandate als Listenkandidaten gibt, hat der Listenkandidat gut lachen, denn der muss sich das alles nicht antun.

Das heißt nicht, ich würde meinen, dass die Listenkandidaten, die im Bundestag sitzen, nicht des Lesens und Schreibens mächtig wären – es geht hier nur um die reine Theorie, um das, was, wenn man es denn wollte, möglich wäre.

Theoretisch, rein theoretisch, könnte also auch ein blinder Stotterer und Analphabet mit deutscher Staatsbürgerschaft, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, falls ihn seine Partei auf einen aussichtsreichen Listenplatz setzt, als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag einziehen.

Natürlich findet sich derzeit unter den 736 Abgeordneten des Deutschen Bundestages kein einziger blinder, stotternder, achtzehnjähriger Analphabet. Aber theoretisch. Theoretisch wäre das denkbar und auch demokratisch.

Damit sind wir bei der besonderen Verantwortung der Parteien angelangt, die diese bei der Besetzung der Listenplätze wahrzunehmen haben.

Das ist bei den ersten fünf oder sechs Plätzen gar kein Problem. Die vergeben die Mitglieder des Parteivorstands für sich selbst, und dabei wissen die schon, was sie tun. Schließlich handelt es sich um die hervorragendsten Vordenker, die, in parteiinternen Machtkämpfen gestählt, in Dutzenden Talkshows ihr ganzes Gewicht für die Partei in Waagschale zu werfen wissen und selbst am Wahlabend noch jede Pleite verbal in einen Sieg zu transormieren fähig sind. Die kennen wir alle, und wer als Wähler Gefallen an diesen Parteigesichtern findet, der macht sein Kreuz auch auf der entsprechenden Liste.

Welcher Wähler schaut am Wahltag schon auf die Listenplätze sieben bis 598?

Dann fängt das mit der Verantwortung der Parteien an.

Wer ausreichend Personal zur Verfügung hat, kann da in die Vollen greifen. Gilt es doch, neben den richtungsweisenden Ideologen und Wähleridolen auch Fachkompetenz in den Bundestag mitzubringen.

Wichtige Funktionen zuerst:

  • Finanzen – das macht der Alois, der war schon mal im Finanzauschuss – Platz 7
  • Äußeres – (Frauenquote!), die Brigitte, die hat ein schönes Äußeres und war schon mal in Paris – Platz 8
  • Wirtschaft – war nicht der Charlie mal Vizegewerkschaftspräsident? Doch. Das gefällt breiten Wählerschichten – Platz 9
  • Soziales – (Frauenquote!) Djannah! Die kann das, hat ein Praktikum bei der Caritas und Migrationshintergrund und damit Minderheitenschutz – Platz 10

und so geht das weiter bis Platz 25. Dann steht schon mal ein komplettes Schattenkabinett samt Ersatzkandidaten auf der Liste.

Danach wird es wieder einfacher. Die Kompetenzriege steht. Jetzt kann man bedenkenlos nach Loyalität und Dauer der Parteizugehörigkeit entscheiden, wichtig ist nur, dass die Kandidaten genug Dankbarkeit zeigen, um niemals auf die Idee zu kommen, den Querdenker oder den Kasper in der Fraktion zu spielen. Klar, wer auf die Ränge 26 bis 100 kommt, sollte auch in der Lage sein, drei Minuten Redezeit im Plenum unfallfrei zu überstehen, für den Fall, dass einer der Parteioberen in einer problematischen Frage erst mal jemanden braucht, der am Podium einen Testballon steigen lässt. Danach kann man sich ja distanzieren, bzw. wenn es gutgegangen ist, in die gleiche Kerbe schlagen, nur eben ausführlicher und überzeugender.

Ab Platz 101 wird dann in den Ortsverbänden herumgefragt, wer von den Ortsvereinsvorständen Lust hätte, eventuell über einen hinteren Listenplatz zum Hinterbänkler zu werden.

Und hier liegt nun die Ursache dafür, dass es den blinden, stotternden Analphabeten im Bundestag nicht gibt.

Diese Abfrage

– und da gibt es ein geheimes Allparteien-Abkommen, an das sich alle strikt halten –

wird schriftlich per Fax an die Ortsvereinsvorstände versandt.

Nur wer lesen kann, kann sich bewerben.