In Memoriam Julia Ney

 

Wenn die Post einen Brief als unzustellbar zurücksendet, ist die neue Anschrift des Adressaten meistens schnell gefunden.

Julia Ney wird keinen Brief mehr von mir empfangen können. Sie ist, wie ich erst jetzt erfahren habe, Anfang Dezember letzten Jahres gestorben.

Das Foto des leeren Rollstuhls hat sie um 2007 herum selbst aufgenommen und bearbeitet.

Der außenstehende Beobachter ist versucht, in Julias Fall von „Erlösung“ zu sprechen. Ich habe Julia zwar nie persönlich getroffen, doch in der Arbeit an ihren beiden Büchern, im intensiven Schriftwechsel per Mail, habe ich Sie als einen Menschen kennengelernt, der sein Leben bis zum letzten Atemzug bewusst gestalten  wollte. Als sie mir vor vierzehn Jahren ihr erstes Manuskript vorstellte, war sie bereits auf den Rollstuhl angewiesen und machte mir, der ich in dieser Hinsicht ziemlich unsensibel war, schnell klar, dass es keine „Behinderten“ gäbe, sondern nur Menschen, im Sonderfall: „Menschen mit Behinderung“.

Ihr zweites, Buch, ein großer Roman, entstand, als ihr bewusst geworden war, dass ihr Leben schneller zu Ende gehen würde als sie es sich eingestehen wollte. Der Titel „Morgen Eine Ewigkeit“ wies schon deutlich darauf hin und die Zähigkeit, mit der sie mir eine Hardcover-Ausgabe abgerungen hat, weil sie mehr hinterlassen wollte als ein Taschenbuch, ohne dies aber jemals explizit zu sagen, hat mich  weich werden lassen.

Ihr letztes Lebenszeichen erhielt ich vor fast genau einem Jahr, am 16. April 2019. Ich hatte angekündigt, dass ich den Verlag aufgeben würde und die Frage gestellt, wie mit den Veröffentlichungsrechten umgegangen werden sollte. Dies war ihre ungewohnt kurze Antwort:

Lieber Wolfgang,
entschuldige bitte, dass ich mich jetzt erst melde – bei mir ist im Moment gesundheitlich einiges los und es fällt mir deshalb zunehmend schwerer mich auf andere Dinge zu konzentrieren.
Ich möchte deshalb auch nicht, dass ein anderer Verlag meine Bücher übernimmt, sondern dass du mir die Rechte an ihnen zurück gibst.
Ich wünsche dir alles Gute und verbleibe mit herzlichen Grüßen
Julia

Anfang dieses Jahres habe ich die letzten Exemplare von „Morgen Eine Ewigkeit“ noch mit diesen Worten angeboten:

Wer kann schöner und anrührender vom Glück träumen als Christian Andersens Mädchen mit den Zündhölzern?
Man muss vom Schicksal hart getroffen worden sein – und man muss gelernt haben, sein Schicksal in Demut anzunehmen, dann gelingen die schönsten, reinsten Träume.

Morgen Eine Ewigkeit

Stephen Hawking – wer hat nie von ihm gehört oder gelesen – ist es mit seinen wissenschaftlichen Publikationen gelungen, vom Versagen seines Körpers abzulenken und die Frage: „Was mag in dem wohl vorgehen, wenn er über sich selbst nachdenkt?“, bei kaum jemandem überhaupt aufkommen lassen.

Was aber, wenn eine junge Frau, die glaubte, das volle Leben vor sich zu haben, mit der Tatsache konfrontiert wird, von einer ähnlichen, fortschreitenden, unheilbaren Krankheit befallen zu sein, die ein Leben ohne Assistenten, die 24 Stunden am Tag verfügbar sind, unmöglich macht?

Jule Blofeld (Psdeudonym) ist diese Frau, und ihre Protagonistin ist ihre Projektion. Eine Projektion, der das Glück im Leiden vergönnt ist.

Jule Blofeld konnte nicht mehr schreiben, als sie diesen Roman verfasst hat, sie musste ihre Sätze einer Helferin diktieren, sie sich wieder vorlesen lassen und die Korrekturen erneut diktieren. Für jemanden, der mit beiden Händen zehnfingerblind in die Tastatur schreibt, ist das schon in der Vorstellung eine zeitraubende, ermüdende Tortur …

Aber das Buch ist schön geworden. Ich verwende bewusst das Adjetiv „schön“, weil es ein authentisches Wort ist, kein von der Konkurrenz um den Kassenerfolg gehetzter Superlativ, sondern ein schönes, ruhiges und berührendes Buch.

Schämen Sie sich nicht, wenn Ihnen zum Schluss eine Träne über die Wange rinnt.

Prolog

Es ist ein diesiger, nebliger Morgen. In der Dämmerung lässt der Neuschnee nur noch vage Umrisse der Umgebung erkennen. Ein einsamer Baum steht als Ausläufer des weiter unten liegenden Waldes in meiner unmittelbaren Nähe. Er wirkt verloren, wie er so erstarrt zu sein scheint unter seiner Decke aus Eiskristallen. Fünf Meter unter mir das Meer. Wütend schlägt es an die ungeschützte Klippe und bäumt sich in rhythmischer Regelmäßigkeit gegen die kantige Felswand auf. Ich habe das beklemmende Gefühl, sie wehrt sich gegen eine nicht weichenwollende Macht und ich schaue einem hilflosen Kampf zu, der in sich lächerliche Züge birgt. Es ist erstaunlich, wie dieser Baum den unwirtlichen und feindseligen Lebensbedingungen trotzt und doch gewachsen ist.

Mein Blick wandert weiter, sucht die Grenze zwischen Himmel und Wasser. Ich kann sie nicht ausmachen,
alles ist verschmolzen zu einem gewaltigen, pappigen Meer, das sich sogar über meinen Kopf ausdehnt. Diese erdrückende Präsenz lässt mich erschauern und die wahren Kräfteverhältnisse erkennen. Das Meer frisst das Gestein, langsam und geduldig. Es ist unter der permanenten Bearbeitung porös und nachgiebig geworden. Der Baum streckt seine verschneiten Äste gen Himmel. So entsteht der Eindruck, als ob sich eisige Finger an die Unendlichkeit klammern, während den Wurzeln der sichere Halt entzogen wird. Ich betrachte die zerfurchte Klippe unter mir – sie sieht aus, als ob sie sich duckt und vor der übermächtigen Gewalt zu fliehen sucht.

Das Szenario kippt ins Bedrohliche und die Kräfte formieren sich neu: Ich stehe auf der Klippe und werde mit ihr untergehen. Meine eigene Standfestigkeit sehe ich bröckeln. Versteinerte Wurzeln geben der lauernden Macht stetig nach und werden von ihr umspült wie von Wasser.

Nicht das tosende, strudelnde Meer ängstigt mich, nicht das Unten Liegen.

Ich mag nicht fallen.

Die Panik vor dem Aufprall, vor dem unaufhaltsamen Sturz brandet in mir hoch und lässt mich die Augen schließen. Von dieser Bildhaftigkeit überwältigt drehe ich mich abrupt um und suche meine Spuren im Schnee, die mir den Rückweg zeigen. Doch unerwartet keimt ein Glücksgefühl in mir auf und ich bewege mich freudig auf die Ewigkeit zu.

 


Ich habe von diesem Buch, das 2016 erschienen ist, noch fünf Exemplare vorrätig und gebe sie gerne zum unveränderten Ladenpreis von 24,90 € zzgl. Porto ab. Ich weiß, dass Julia sich freuen würde, wenn auch diese Exemplare noch ihre Leser finden. Schicken Sie mir bei Interesse eine Mail.