Der liebe Gott sieht alles, jetzt auch in China.

Paukenschlag am Donnerstag No. 50 /2018 – Hier als PDF chinapunkte

Der liebe Gott sieht alles.

Eine Betrachtung des neuen chinesischen Punktesystems und seiner Entsprechungen hierzulande

 Die Angst meiner Kindheit, nur ja alles richtig zu machen, gut und lieb zu sein, statt schlecht und böse, hatte seinen Ursprung wohl darin, dass meine Eltern uns, meinen Bruder und mich, alleine mit der Aussage: „Der liebe Gott sieht alles!“, schon beim kleinsten Ausbruch aus den elterlichen Ver- und Geboten so mit schlechtem Gewissen erfüllen konnten, dass dies nach außen in Körperhaltung und Mimik sichtbar wurde.

Die meisten (wohlgemeinten, aber nicht weniger strengen) Verhöre begannen dann auch mit den Worten: „Was ist denn los? Was hast Du denn wieder angestellt? Ich seh’s Dir doch an!“

Das ganze wiederholte sich in noch furchterregenderer Dimension, wenn am 6. Dezember der Besuch von Nikolaus bevorstand. Nein, wir freuten uns nicht darauf, beschenkt zu werden, wir hatten Angst, dass der heilige Mann auf seinem großen Zettel irgendwelche Verfehlungen verzeichnet haben könnte, von denen wir noch nicht einmal ahnten, dass es solche waren, zusätzlich zu jenen, von denen wir wussten.

Die Jüngeren können sich diese Verhältnisse nicht mehr vorstellen. Kinder sollen heute angstfrei aufwachsen, sollen sich ausprobieren dürfen, weshalb ihnen nicht mit Mitteln der Suggestion Grenzen gesetzt werden, die sie vor Unheil bewahren sollen, denn darum geht es ja, sondern eben mit den Mitteln der permanenten Behütung, des Abräumens von verlockenden Situationen, bzw. des Zurückhaltens der Kinder mit allerlei Zusagen, Versprechungen und Bestechungen.

Glücklicherweise erkunden Kinder ihre Welt auch durch eigenes Denken. Vermutlich in sehr viel stärkerem Maße als die in ihren Überzeugungen schon gefestigten Erwachsenen, so dass der Osterhase und der Weihnachtsmann bald ebenso zu Märchenfiguren werden wie der Froschkönig oder die böse Hexe aus Hänsel und Gretel.

Damit fällt die Fessel der tiefsitzenden Furcht vor  dem Verbotenen weg, das Kind streckt die Fußzehe über den Kreidestrich hinaus und stellt fest, dass weder der Himmel einstürzt, noch sich die Erde auftut. Die Jahre der Entdeckungen beginnen.

Etwas anders verhält es sich bei  jenen Kindern, denen nie etwas verboten wurde, weil sorgsam darauf geachtet wurde, dass sie nie „in Versuchung“ geraten konnten. Frei wie ein Vogel – aber abgeschirmt von der Außenwelt, geborgen innerhalb des feingesponnenen Kokons elterlicher Fürsorge.

Es fällt ihnen schwerer, deutlich schwerer, sich in der Welt zurechtzufinden. Sie beginnen später mit dem Denken und geben es auch schneller wieder auf. Das da draußen, außerhalb des Kinderzimmers, das Fremde, mit dem sie nie in Berührung gekommen sind, macht ihnen nun Angst. Das Abnabeln solcher Kinder in Pupertät oder Adoleszenz gerät nicht selten zur psychischen Katastrophe, weil es sein muss, und nicht ausbleibt, die Chance einer neuen, altersgerechten Bindung aber nicht gesehen wird, weil niemand, da draußen, so lieb und so fürsorglich und so selbstlos ist, wie es die Eltern waren.

 

Was ich hier knapp skizziert habe, sind zwei sehr unterschiedliche Arten des Umgangs mit Unmündigen.

Verbote und Gebote – zum Schutz des Unmündigen ausgesprochen, lassen die Möglichkeit des Übertretens offen, egal, ob nun vorsätzlich oder weil die Verbote und Gebote einfach vorübergehend nicht im Bewusstsein präsent waren, was ja auch bei Kindern vorkommt. Übertretungen  zeitigen Folgen, ob es nun  eine von den Eltern verhängte Strafe ist, der Verlust des aus Neugier ausgeschlachteten Teddybären, die an der Kerzenflamme angesengte Fingerspitze – oder das Erfolgserlebnis, trotz des Verbotes auf den Kirschbaum geklettert und halbwegs heil wieder heruntergekommen zu sein.

Verbote und Gebote  erschließen sich so einerseits als sinnvoll und werden aus eigener Erfahrung verinnerlicht, andererseits als  „nicht mehr erforderlich“ und werden – nicht ohne Stolz, was für die Entwicklung wichtig ist! – künftig ignoriert oder nicht mehr ganz so ernst genommen.

Wo alles erlaubt ist, aber die Auswahlmöglichkeiten von den Eltern massiv eingeschränkt werden, so dass nicht einmal der Wunsch nach der verbotenen Frucht aufkommen kann, weil sie vorsorglich versteckt worden ist, wird der jedem gesunden Kind innewohnende Entdeckerdrang bei manchen umgebaut in eine wilde Zerstörungswut, die natürlich nichts Schlimmes anrichten kann, weil alles wertvolle Zerbrechliche weggeräumt ist, bei anderen bleibt eine milde, introvertierte Fügsamkeit, die sich auch im Erwachsenenalter nur allmählich und selten vollständig verliert, gepaart mit einer ewig unerfüllten Sehnsucht ohne ein konkret fassbares Ziel.

Wo wäre nun, vorausgesetzt man unterstellt eine gewisse Ähnlichkeit der „Problemlösung“, das große chinesische Experiment mit seinen Pluspunkten für Wohlverhalten und seinen Punktabzügen für Fehlverhalten einzuordnen?

Zunächst einmal erscheint es wie ein System aus Verboten und Geboten, das mit Lob und Belohnung auf Wohlverhalten, mit Tadel und Strafe auf Fehlverhalten reagiert und dabei aus den Datenmassen, die ständig erfasst werden, jenen lieben Gott, der alles sieht, tatsächlich entstehen lässt.

Das Interessante dabei ist, dass es in China, nicht anders als in allen anderen Ländern dieser Erde, Gesetze gibt, mit denen das Zusammenleben so geregelt wird, dass „fassbare“  Vergehen und Verbrechen unter Strafe gestellt und verfolgt werden. Selbstverständlich ist es in China – mehr noch als in Deutschland – strafrechtlich verboten, bestimmte Überzeugungen oder Meinungen zu äußern, so dass das wesentlich weiter gesteckte Ziel der „Sozial-Punkte“ in einen Bereich zielt, der einer gesetzlichen Regelung nicht mehr zugänglich ist, sondern nur der „eigentlich“ freiwilligen Einsicht. Aber in was?

Wo Einsicht belohnt und Uneinsichtigkeit sanktioniert wird, kann als Motivation derjenigen, die ein solches System zu errichten für erforderlich halten, nur die von ihnen vermutete Unmündigkeit der Bürger unterstellt werden. Bürger, die ohne den sanften Druck des Entzugs  oder der Einräumung von Privilegien nicht auf dem „rechten Weg“ zu halten wären.

Wenn man allerdings die zu erwartenden Folgen betrachtet, kommt man bald zu einem anderen Bild. Hier werden Grenzen gezogen, zwischen dem wohlig warmem Kokon des Wohlverhaltens, in dem alles erlaubt ist, was angeboten wird, weil das Unerlaubte ausgesperrt bleibt, und der Wüste des Fehlverhaltens, wo es keine Anstellung und keinen Kredit mehr gibt, wo Fehlverhalten mit Ausschluss vom sozialen Leben, letztlich mir Armut bestraft wird, wo also die Trennung zwischen christlichem Himmel und christlicher Hölle schon auf Erden vorgenommen wird, nach dem Maß der kritiklosen Loyalität und der illoyalen Kritik. (Das ließe sich auf alle punkterelevanten Tatbestände, bis zur verspäteten Ratenzahlung herunterbrechen, nähme aber in diesem Aufsatz zu viel Raum ein.)

Der Unterschied zu den Ansätzen der Kindererziehung besteht darin, dass Eltern das Betreten der Eisfläche des zugefrorenen Teiches verbieten, weil sie die Gefahr für das Kind sehen und das Zähneputzen gebieten, weil sie damit ebenfalls direkt dem Kindeswohl dienen wollen.

In China, das  ist jedenfalls  mein Eindruck, geht es nicht um das Wohl  der Bürger, sondern um die Durchsetzung der Interessen der Regierung.

Hier kann das Kind nicht aus eigenem Antrieb feststellen, dass das Eis des Teiches nun dick genug ist, es zu tragen, dass es in der Lage ist, alleine den Kirschbaum zu besteigen. Seine Fähigkeiten und seine Erkenntnis werden bis zum Grabe vom Tabu überlagert. Der Erwachsene, der die Realität erkannt hat, wird nicht ins Eis einbrechen, nicht vom Baum fallen, aber dennoch sanktioniert werden, bis niemand mehr weiß, wie stark das Eis, wie bezwingbar der Kirschbaum ist.

Denn:

Diejenigen, die Wohlverhalten zeigen, haben es nie ausprobiert, und diejenigen, die es ausprobiert und erfahren haben, werden isoliert und, – wen  wundert es, wenn ich jetzt einen Begriff aus dem deutschen Sozialrecht verwende – vom Existenzminimum auf Null herunter sanktioniert.

Der Weg, der von Orwell vorgezeichnet wurde und von den Chinesen jetzt eingeschlagen wird, ist gegenüber dem bei uns eingeschlagenen, von Orwell vorgezeichneten Weg um so viel klarer zu erkennen, wie die Chinesen uns in Bezug auf die Digitalisierung voraus sind.

Doch nur, weil in Deutschland gegen „Abweichler“ immer noch mit den eher steinzeitlichen Methoden der Zensur, der Bespitzelung und der Denunziation vorgegangen wird, unterscheiden sich China und Deutschland in der Zielsetzung, einen „freiwillig“ politisch unmündigen Bürger zu erschaffen, kaum.

Unsere Agenda der Political Correctness, mit der nicht nur Kritik, sondern schon das Erkennen und Benennen von Unterschieden sanktioniert wird, hat doch schon zu der wahrnehmbaren Trennung zwischen den der Herrschaft wohlgefälligen Schafen und dem aus der Gesellschaft auszuschließenden Pack geführt.

Wo ein Bundestagsabgeordneter in Dresden als unerwünschte Person aus dem Kino geworfen wird, in dem sich die „Gerechten“ versammelt hatten, wo es einer demokratischen Partei nahezu unmöglich gemacht wird, einen Parteitag abzuhalten, weil die Inhaber der geeigneten Versammlungsstätten massiv unter Druck gesetzt werden, wo die Häuser von Abweichlern mit Steinen und Farbbeuteln angegriffen werden und sich jeder angemeldeten und genehmigten Demonstration der AfD die gewalttätige Antifa entgegenstellt und der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz geschasst wird, weil sich seine korrekte, neutrale Wahrnehmung der „Hetzjagd“ von Chemnitz nicht mit der Wahrnehmung der Herrschaft verträgt, da kann doch niemand mehr ernsthaft behaupten, in diesem unseren Lande gäbe es unter der Rubrik „Meinungsfreiheit“ noch mehr zu finden, als das, was als Bonmot von Franz Josef Strauß überliefert ist, der gesagt haben soll:

„Hier darf jeder meine Meinung sagen.“

Und wie beim chinesischen Punktesystem, das keinen Unterschied macht, zwischen einem säumigen Schuldner und einem Kritiker der Partei oder nur einem unangenehmen Menschenrechtler, also alle Minuspunkte ungeachtet ihrer Ursache und der Motivation dafür, ansammelt und immer stärker sanktioniert, erleben wir auch in Deutschland, dass alles, was noch widerspenstige Meinung  ist, in einen Topf geworfen wird, dessen Name mit dem Inhalt so wenig zu tun hat, wie die Inquisition mit der Lehre Christi.

Nationalsozialisten, die heute noch das Gedankengut Hitlers und seiner Mitstreiter in jedem Punkt vertreten und das Dritte Reich für durchweg gut und positiv ansehen und es am liebsten mit einem Führer und einer SS und der Hitlerjugend und dem Mutterkreuz und der Gestapo und den KZs und der Fortsetzung des Weltkriegs in einer Art arischer Revanche am Rest der Welt mit der V4, V5, V6 und V7 wiederherstellen wollen, gibt es nicht mehr, oder jedenfalls nur so vereinzelt, dass sie nicht mehr wahrnehmbar sind.

Wer ist heute Nazi?

Nazi ist, wer die – weil ohne greifbaren Inhalt nicht kritisierbare – Gender-Ideologie belächelt, Nazi ist, wer sich mit der Konstruktion und der Politik der EU kritisch auseinandersetzt. Nazi ist, wer Kritik an der Theorie des menschengemachten Klimawandels äußert, Nazi ist, wer daran zweifelt, dass Migration grundsätzlich gut und segensreich ist, Nazi ist, wer immer noch einen Diesel fährt, Nazi ist, wer sich von der Politik die stärkere Durchsetzung deutscher Interessen in der EU wünscht, Nazi ist, wer sich kritisch zur Euro-Rettung oder überhaupt kritisch zum Euro äußert, Nazi ist, wer sich erdreistet, auf von Migranten verübte Vergewaltigungen und Messerattacken hinzuweisen oder gar mit Mahn- und Trauermärschen zu reagieren.

Nazi ist heute aber auch, wer das Mahnmal der Schande im Herzen Berlins als Mahnmal der Schande im Herzen der Hauptstadt bezeichnet.

Doch was das einstige Sturmgeschütz der Demokratie, der SPIEGEL, 1998 noch als Formulierung des damaligen Herausgebers Rudolf Augstein als einen gewichtigen Diskussionsbeitrag in die Debatte werfen durfte, steht heute außerhalb des Kokons des Zulässigen und ruft einen nicht abebbenden Sturm der Empörung hervor.

Das Zeitalter der Massenpropaganda und der psychologischen Kriegsführung neigt sich seinem Ende zu. Die alten Instrumente sind stumpf geworden, nicht zuletzt, weil das Internet für einen kurzen Augenblick der Geschichte alternative Medien und Informationsmöglichkeiten hervorgebracht hat.

Das neue Zeitalter wird, wenn wir es nicht verhindern, das Zeitalter der allgemeinen Gehirnwäsche sein. Herausgewaschen werden soll alle wahre Erkenntnis der Welt, jeder eigene Gedanke, der nicht vom Wahrheitsministerium genehmigt ist – und wenn dann tabula rasa gemacht worden ist, wird den freigewordenen Windungen das Andere, das Falsche, nur der Herrschaft Nützliche, eingeprägt.

Dies zu verhindern erfordert einen Akt der Emanzipation, der Selbstfindung und Selbstgewissheit. Die ist nicht im wohlig warmen Bett der Political Correctness zu finden, sondern nur da, wo der zugefrorene Teich und der Kirschbaum dazu einladen, jenseits aller Gebote und Verbote, jenseits des  wohlwollenden Nudgings  und des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes und der Datenschutzgrundverordnung und des Leistungsschutzrechtes und des Rundfunkstaatsvertrages, jenseits von Märchenerzählern wie Claas Relotius, die Realität zu erkunden und diese erkannte und „begriffene“ Realität gegen  jede Form von Gehirnwäsche, selbst wenn sie mit noch so vielen  Weichspülern unternommen wird, mit aller Kraft und  wenn es sein muss, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.