Sanktionen abgeurteilt, die Verfassungsverletzer bleiben unbehelligt

Wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sanktionierungspraxis der Arbeitslosen und Sozialhilfebeanspruchenden Klarheit geschaffen hat, dann nur an einer, allerdings besonders wichtigen Stelle: Das Bundesverfassungsgericht hat

das absolute Existenzminimum

für die Bevölkernden der Bundesrepublik Deutschland auf 70% des Regelsatzes festgelegt. Es beträgt demnach nach den Regelsatzfestlegungen für 2020 für einen alleinstehenden Erwachsenen 302 Euro und 40 Cent.

Dies bedeutet, knallhart und rücksichtslos ausgelegt: Der Regelsatz ist immer noch eine lediglich sozial inspirierte Luxusleistung, die (von unten her gerechnet) um 42,8 Prozent über dem Existenzminimum liegt, im Grunde also viel zu viel, für jemanden, der nicht arbeitet und folglich eigentlich auch nicht essen sollte. Diese Definition des unverzichtbaren Existenzminimums mag von jenen 3 bis 4 Prozent der Leistungsempfänger als Wohltat empfunden werden, die – trotz aller „Sanktionswut“ der JobCenter und Argen bisher überhaupt nur von Sanktionen betroffen waren.

Für die übrigen 96 bis 97 Prozent und den ganzen Rest des Sozialstaates könnte diese Klarstellung des Verfassungsgerichts jedoch der Auslösung eines Erdrutsches gleichkommen.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, und sich dagegen die Ohren zu verstopfen ändert nichts an den Fakten:

Die Sozialsysteme sind durch eine große Zahl nicht beitragspflichtiger, wohl aber leistungsempfangender Zuwanderer belastet, und die Konjunkturerwartungen weisen auf rückläufige Beschäftigung und Steuereinnahmen hin. 145 Milliarden Euro, das sind 40 Prozent des Bundeshaushaltes, liegen (Stand 2019) in der Etatverantwortung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Die längst wie eine heilige Kuh verehrte „schwarze Null“, der nicht mehr hinnehmbare Instandsetzungs- und Investitionsstau in allen Bereichen der Infrastruktur und der NATO-Pflichtbeitrag, der bald auf 2% des BIP angehoben werden soll, engen die Spielräume der Haushaltspolitiker extrem ein.

Ohne neuerliche Steuererhöhungen werden sich schon die gerade beschlossenen Ausgaben für Klimawandel und E-Mobilität nicht finanzieren lassen, wobei die davon ausgelösten Steuer- und Beitragseinnahmen die gleichzeitig verlorenen Einnahmen nicht vollständig kompensieren werden. (Es wird ja nicht wirklich in Wachstum investiert …)

An die wachsenden Verteidigungsausgaben darf gar nicht erst gedacht werden, und wer meint, notwendige Mittel könnten in anderen Ministerien zusammengekratzt werden, der werfe doch einen Blick auf deren Etats. Da geht nichts mehr. Gespart werden muss – und die Wirtschaftsverbände sagen das schon immer – am Sozialetat, was künftig leichter sein wird.

Hier ein paar Hinweise darauf, WAS künftig leichter sein wird:

  • Kürzung der Regelleistungen nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz, die bei den alleinstehenden erwachsenen Personen mit 354 Euro immer noch um 17 Prozent über dem neuen Existenzminimum liegen.
  • Verweigerung oder Minderung künftiger Anhebungen der Hartz-IV-Regelsätze mit Verweis auf den bestehenden, sehr großen Abstand (42,8%) zum Existenzminimum.
  • Ausschöpfen der vom BVerfG vorgegebenen Sanktionierungsmöglichkeiten bei möglichst vielen Leistungsempfängern, ohne dabei noch soziale Skrupel empfinden zu müssen – 30% sind schließlich o.k..
  • Anpassungen beim BaFöG, durch Anrechnung aller oberhalb des Existenzminimums liegenden Einkünfte der Eltern.
  • Reduzierung des Tagessatzes der Haftentschädigung für zu Unrecht verbüßte Freiheitsstrafen von 25,00 Euro auf 9,94 Euro (ohne Anrechung der gewährten Verpflegung).

Auch wenn diese Aufzählung auf’s Ende zu etwas skurril klingt, die angedeuteten „Versuchungen“ sind keineswegs satirisch gemeint. Ich sehe die „Leichenfledderer des Sozialstaates“ die ja mit den Hartz-Gesetzen vor 17 Jahren ebenfalls mit bis dahin unvorstellbaren „Ideen“ zugeschlagen haben, deutlich vor mir, wie sie mit rauchenden Köpfen ausloten, was dem heutigen Urteil „Gutes“ abgewonnen werden könnte.

Egal.

Die Sanktionen sind nicht das Problem. Sie bilden lediglich eines seiner vielen Symptome.

Das Problem besteht darin, dass in einer der leistungsfähigsten Volkswirtschaften dieser Welt, der Anteil der wirtschaftlich „Abgehängten“ an der Bevölkerung stetig wächst.

Das Problem besteht darin, dass zwar die Vermeidung von Unruhen und Aufständen auf der Agenda der regierenden Parteien hoch oben steht, ein Ansatz zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit dort aber nicht zu finden ist.

Ein anderes Symptom des Problems scheint im  World-happiness-Report auf. Bei Travelbook.de habe ich dazu die folgenden Sätze gefunden:

Schaut man sich die Top Five an, fällt auf, dass es sich, mit Ausnahme der Schweiz, allesamt um Länder im Norden handelt.

Die nordischen Länder weisen vor allem

  • hohe Einkommen,
  • eine lange Lebenserwartung und
  • ein gut ausgebautes soziales Netz auf.

Obwohl die Steuern auch in Finnland hoch sind, scheinen die Einwohner eine Grundzufriedenheit mitzubringen.

  • Das Land ist sicher,
  • stabil und
  • hat eine funktionierende Regierung,

die die Finnen als zufriedenstellend bewerten.

  • In Finnland ist Korruption sehr gering und
  • das Land gleichzeitig sozial fortschrittlich.
  • Man könne seine Lebensentscheidungen sehr frei treffen und
  • sei stets abgesichert.
  • Die Nordeuropäer vertrauen nicht nur den Behörden, der Polizei und der Justiz mehr als die Menschen in anderen Ländern,
  • sondern auch einander.

 

Deutschland steht übrigens auf Platz 17.

Da die jetzt eingezogene Sanktionsobergrenze nichts ist, was auch nur eines der (im grünen Kasten) herausgehobenen Kriterien kompensieren könnte, sondern einfach nur einen seit Jahren geübten Verfassungsbruch endlich (halbherzig) korrigiert, ist wohl auch für 2020 nicht damit zu rechnen, dass wir uns in dieser Rangreihe wenigstens den Österreichern (Platz 10) noch annähern könnten.