„Der liebe Gott sieht alles“, hieß es zu meinen Kindertagen, und dass er es nicht nur sieht, sondern auch darauf reagieren wird, ob sofort, oder erst beim Versuch, Eintritt ins Paradies zu gelangen, brauchte dazu nicht mehr gesondert ausgesprochen werden.
Im größeren Maßstab betrachtet, zu Zeiten, in denen das Abendland noch das „christliche Abendland“ genannt wurde, und von Lissabon bis Moskau der eine Gott die Maßstäbe setzte, war zwar die Furcht vor dem Fegefeuer bei den Eliten nicht mehr ernsthaft verbreitet, obwohl sie selbst emsig dabei waren, sie zu verbreiten, doch Verstöße gegen die göttlichen Gesetze wurden selbst vom einfachen Volk als solche erkannt und von den Konkurrenten gnadenlos instrumentalisiert.
Es kam die Zeit der Aufklärung und der Säkularisierung. Der Einfluss der Kirche schwand. Die Unterscheidung zwischen gut und böse, richtig und falsch, fiel nicht mehr in den Kompetenzbereich der Kirche, sondern wurde im staatlichen Rechtssystem gesucht. Das führte zweifellos dazu dass die Schere zwischen gesprochenem Recht und dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen noch weiter aufklaffte, während der Berufungsweg über die religiöse Lehre geschlossen worden war.
Nun gut. Man kann sich in jedes Rechtssystem einleben und sich darin einrichten, vorausgesetzt es gibt eine Hierarchie der Rechtsgrundsätze, die – ausgehend von einer Verfassung – in jeder Detaillierung und Ausdeutung insgesamt in sich schlüssig bleiben und Fehlverhalten unmittelbar erkennbar und korrigierbar machen.
Hat sich ein Rechtssystem soweit in sich selbst verirrt, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht mehr ohne Weiteres feststellbar ist, und wenn jene Instanzen, die „neutral“ darüber urteilen sollen, Jahre benötigen, um geschehenes Unrecht nachträglich als solches zu benennen und nicht einmal eine Handhabe haben, die Täter einer anderen Strafe zu überführen als eben der Verkündung, sie hätten – damals – Unrecht getan und wurden ermahnt, nicht rückfällig zu werden, dann ist es um das Recht geschehen.
Gehen die Verirrungen soweit, dass selbst die originärsten Schutzrechte der Bürger gegen den Staat vom Staat über lange Zeiträume verletzt werden können, dass kein „lieber Gott“ alles sieht, sondern erst ein Betroffener klagen muss, um dann – Jahre später – lapidar zu hören: „Ja, das hätten die nicht tun dürfen“, dann ist es nicht nur um das Recht geschehen, sondern um das Grundvertrauen der Bürger in den Staat und in seine Verfassung, weil die „Gewaltenteilung“ sich damit in eine „Gewaltenvereinigung“ verwandelt hat, die durchaus den Anfangsverdacht einer Verschwörung gegen das Volk rechtfertigt.
Beim Fußball kann der Schiedsrichter Spieler, die offensichtlich Zeit schinden, nach dem Regelwerk wenigstens noch mit einer gelben Karte verwarnen, doch wenn es darum geht, dem Recht schnell zur Durchsetzung zu verhelfen, dann pochen die Richter auf ihre Unabhängigkeit und lassen sich von nichts und niemandem drängen.
Der aktuell im November 2022 vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ergangene Spruch zu den Corona-Ausgangssperren vom März 2020 in Bayern, die Maßnahmen seien „unverhältnismäßig“ gewesen, hilft heute niemandem mehr, und es wird auch niemand durch Strafmaßnahmen abgeschreckt, vergleichbare Anmaßungen des Staates gegen die Grundrechte der Bürger nicht schon nächste Woche zu wiederholen.
Man hätte sich den ganzen Prozess auch sparen können.
Ja. Wirklich.
Was wäre denn anders, hätte es diese Verhandlung und den Richterspruch nicht gegeben?
Außer der Zeit- und Geldverschwendung, die damit verbunden war, und die hätte vermieden werden können, wäre doch nicht anders.
Dass Naivlinge sich freuen, weil sie stolz erzählen können: „Siehste doch, habe ich doch gleich gesagt!“, und dabei eine gewisse Befriedigung empfinden, mag ich nicht als erwähnenswerte Veränderung, schon gar nicht als Verbesserung anerkennen.
Da fallen mir immer wieder die Worte eines Freundes ein, der nach einem heißen Streit zu mir sagte: „Gut. Du hast recht. Aber was hast du nun davon?“
Wäre dieser späte Spruch des Bundesverwaltungsgerichts die Ausnahme, man könnte großzügig darüber hinwegsehen. So ist es aber nicht.
Es ist eher die Regel, dass Klagen vor den höchsten Gerichten, so sie denn überhaupt angenommen und nicht ohne Begründung zurückgewiesen werden, in vielen Fällen so viel Zeit bis zu einer Entscheidung in Anspruch nehmen, dass der nachträglich Spruch vergangenes Unrecht weder heilen, noch künftiges zu verhindern vermag.
Die Besetzung der Richterstellen des Verfassungsgerichts durch die Politik lässt inzwischen vom Anschein der Neutralität des Gerichts nicht mehr viel übrig.
Die oberste Instanz, die im Verfassungsstaat geschaffen wurde, um vor allem die Exekutive zu kontrollieren, wohl aber auch, um der Legislative da Grenzen zu setzen, wo das vom Grundgesetz abgesteckte Feld der zulässigen Gesetzgebung verlassen wird, verliert zunehmend das Vertrauen jener Teile des Volkes, die überhaupt noch Interesse an dieser Demokratie, an diesem Staat und seiner Politik zeigen.
Sollte es jemals dazu kommen, dass sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung tatsächlich eine Verfassung gibt, dann aber bitte mit einer wirklichen freien, an Weisungen nicht gebundenen und nicht von einer oder beiden der anderen Gewalten mit eigenen Figuren besetzten Judikative, die in der Lage ist, ihre Entscheidungen, und seien es vorläufige, so schnell und bindend wirksam zu treffen, dass erkannte Missstände ausgeräumt werden, bevor die Zeit ganz von alleine darüber hinweg gegangen ist.
Nur mal so eine Idee,
ein Schnellschuss, der aber die Richtung anzeigt, von der ich meine, in die es gehen sollte:
Die Richter der Amtsgerichte werden von den Bürgern der Kommunen im Gerichtssprengel direkt gewählt, die Richter an den Amtsgerichten wählen die Richter der Landgerichte, diese wählen die Richter an den Oberlandesgerichten und die wiederum wählen die Richter an den Bundesgerichten. Gleiches gilt für die Staatsanwälte. Alle Richter und Staatsanwälte haben sich regelmäßig diesen Wahlen zu stellen, wer dabei keine Stelle mehr erhält, dem steht es frei, sich als Anwalt niederzulassen oder von einer größeren Kanzlei einstellen zu lassen. Die so aufgestellte Judikative verwaltet sich selbst mit eigenen Verwaltungsorganen und wird finanziert durch einen festen Prozentsatz an den kommunalen, den Landes- und Bundeshaushalten, der von den Parlamenten nicht verändert werden kann.
Wer gegen dieses Prinzip argumentiert, man könne die Besetzung von Richterstellen an den Amtsgerichten nicht den Bürgern überlassen, während die Rufe nach der Absenkung des Wahlalters für den Bundestag auf 16 Jahre immer lauter werden, ohne noch auf großen Widerspruch zu stoßen, der muss sich fragen lassen, woher er sein selektives Demokratieverständnis wohl bezogen haben könnte.
Kann man nicht vergleichen?
Dumme, inhaltsleere Phrase!