„Was glauben Sie denn, wer Sie sind?
Sie können sich diesem Beschluss nicht widersetzen!“

Der Kandidat, der Wilbrecht Wille in dessen Büro gegenüber saß, rutschte auf seinem Stuhl noch ein bisschen tiefer, versank fast hinter der Schreibtischplatte, ja, er verkleinerte sich praktisch selbst, als wolle er Willes Worten eine möglichst kleine Angriffsfläche bieten. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Wille erhob sich von seinem Stuhl, stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte ab, beugte sich hinüber und hinunter zu jenem blassgesichtigen Häufchen Elend und zischte: „Wir alle haben unseren Auftrag zu erfüllen! Was glauben Sie, warum Sie über die Jahre zu der Figur aufgebaut worden sind, als die Sie heute in der Öffentlichkeit erscheinen? Sind Sie im Ernst der Auffassung, Sie könnten der Vorsehung entgehen, indem Sie jetzt aus eigenem Entschluss eine Wende um 180 Grad vollziehen, statt sich als kämpferischer Volks- und Nationalheld zu inszenieren, so wie wir es hier in diesen Räumen im ersten Obergeschoss versucht haben, Ihnen einzutrichtern? Was bilden Sie sich ein? Da kommen Sie mit einem Programm daher, unabgesprochen!, das sich liest, als wollte die gute alte, inzwischen arg schrumpelig gewordene Tante SPD der Partei Die Linke beitreten. Beigetreten wurde 1989.“

Wille ließ sich wieder in seinen Chefsessel fallen, versuchte dem Kandidaten in die unstet flackernden Augen zu schauen und wartete ab.

 

 

Wille sah befriedigt, wie sich hinter der hohen Stirn des Kandidaten das Karussell der möglichen Rechtfertigungen, Ausflüchte und Entschuldigungen zu drehen begann, registrierte das heftiger werdende Zucken der Zornesader und wartete in gekonnt perfider Weise weiter ab. Lange war es her, dass er in die „Technik des fragenden Schweigens“ eingeweiht worden war. Er wusste: Der Kandidat würde kommen. Angekrochen würde er kommen. Es galt jetzt nur, die eigene Mimik unter Kontrolle zu halten und wortlos schweigend auf den Zusammenbruch zu warten.

„Es ist ja nur …“, brachte der Kandidat kleinlaut heraus.

Aber Wille kam ihm nicht zur Hilfe. Von ihm kam kein „Was ist ja nur?“, auch kein „Ich höre …“, nein, von Wille kam nichts und so vergingen weitere quälende Sekunden, bis der  Kandidat sich geschlagen gab und dann in einem nicht enden wollenden Schwall von Worten seine kleine, angsvolle Seele vor Wilbrecht Wille ausbreitete.

„Die Saskia hat das angeleiert, zusammen mit dem anderen, mit dem, den sie immer mit sich herumschleppt wie ein Handtäschchen, die haben sich das ausgedacht. Mein Gott! Die Saskia mag den Probeller-Fritzen mit seiner Harry-Potter-Gedächtnis-Haarsträhne doch auch nicht. Schon weil der zehn Talkshow-Auftritte hat, bis sie mal für 10 Sekunden in den Nachrichten aufscheint. Richtig giftig ist die auf den. ‚Lauterbach als Kanzler‘, hat sie gebrüllt, dass der Willy-Brandt-Skulptur sich die Zehennägel aufgerollt haben. ‚Nur über meine Leiche!‘. Und dann dieses fürchterliche ‚OLAAAF! Komm her!‘. Das ist Folter, verstehen Sie, Herr Wille, Folter ist das. ‚Bevor der Lauterbach Kanzler wird, machen wir die SPD kaputt und treten der SED bei‘, hat sie gepoltert. Ich habe eingeworfen, dass es die SED doch gar nicht mehr gibt. Da hat sie mich aber noch einmal angedonnert. ‚Schau dir doch nur die Wellsow an! Dann weißt du, wo du dran bist‘, hat sie noch gesagt. Danach haben wir dann kurz beraten, uns die Ideen und Forderungen der LINKEn der Reihe nach angesehen und letztlich alles, nun ja, bis auf die Sache mit der Bundeswehr und der NATO und dem Frieden in unser eigenes Wahlprogramm geschrieben.“

Gerade als Wilbrecht Wille zu dem Schluss kam, der Kandidat sei mit einer implantierten Pressluftflasche ausgerüstet, weil er so gar nicht Luft holen musste, kam die Pause und das entsetzliche Ringen nach Luft, wie es bei Ertrinkenden nach der Rettung immer wieder beobachtet wird.

„So so“, meinte Wille und begann aus dem Kopf zu zitieren:

  • Hartz IV wollt ihr abschaffen.
  • Ein Bürgergeld wollt ihr einführen.
  • 12 Euro Mindestlohn wollt ihr der Wirtschaft aufbürden.
  • Kindergrundsicherung mit kostenlosen KiTas versprecht ihr.
  • Kostenlosen Nahverkehr zur Beendigung der Diskriminierung von Schwarzfahrern habt ihr auf dem Zettel.
  • Dann wollt ihr noch das Ehegattensplitting abschaffen und eine Ganz-Reichen-Steuer oben drauf setzen, und ans vererbte Betriebsvermögen wollt ihr ran.
  • Tempo 130 auf Autobahnen, 15 Millionen Elektroautos bis 2030 versprecht ihr, und statt der EEG-Umlage wollt ihr dann lieber mit der progressiven CO2-Steuer erst so richtig absahnen.

„Hab‘ ich was vergessen?“

Jetzt rappelte sich der Kandidat in seinem Stuhl wieder hoch, blickte Wilbrecht Wille hanseatisch-keck offen ins Gesicht und meinte mit einem Anflug von wiedergewonnener sozialdemokratischer Arroganz: „Sie haben gut aufgepasst, Wille. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“

Doch Wille ließ sich nicht provozieren. Er setzte ein maliziöses Lächeln auf und entgegnete: „Auch Sozialdemokraten sind halt vor Irrtümern und Fehleinschätzungen nicht gefeit, mein Lieber. Das sollten Sie sich für die Zukunft hinter die Ohren schreiben, falls da noch Platz sein sollte.“

Der Kandidat fühlte sich ertappt und produzierte den Hauch einer Schamesröte, bevor er entgegnete: „Und Sie sind also mit alledem nicht einverstanden. Was gefällt Ihnen denn nicht an unserer wiederentdeckten sozialdemokratischen Seele? Saskias Anhängsel war begeistert. ‚Das ist unser Beitrag zum Great Reset‘, hat er gejubelt und sich noch ein Glas vom schönen, roten Bordeaux genehmigt. Damit kann ich als Kandidat und Sprachrohr der Partei, mein Ziel, als tapferer Kämpfer für unsere Ideale mit wehender roter Fahne zu scheitern, doch perfekt umsetzen. Und das war doch auch das was Ihnen vorschwebte?“

Wille drückte eine Knopf auf der Gegensprechanlage und rief ins Mikro: „Können Sie schnell mal vorbeikommen, Fräulein Gnadenlos-Hempel??“

Augenblicke später trat Sabine ein und fragte, ohne den Kandidaten auch nur eines Blickes zu würdigen: „Was gibt’s denn so Dringendes?“

„Dieser Herr hier, den Sie ja kennen, Fräulein Gnadenlos-Hempel, scheint unter einer schweren, hoffentlich nur temporären kongraden Amnesie  zu leiden. Vielleilcht können Sie seine Erinnerung auffrischen, indem Sie kurz aus seinem Gastbeitrag in der Passauer Neuen Presse zitieren.“

„Aber gerne. Den hat der Kandidat, dessen Name nichts zur Sache tut, seinerzeit ja sogar mit seinem vollen Namen gezeichnet. Ich hab‘ das noch voll im Kopf.“

„Dann schieß mal los!“

Fräulein Sabine Gnadenlos-Hempel ließ sich nicht lange bitten. „Der Titel des Aufsatzes hieß: Warum die SPD nicht mehr mitspielt. Der Autor des Gastbeitrages führte dann weiter aus, dieses Land, unser Deutschland, brauche eine Partei der Mitte, eine modernisierte SPD. Er erklärte, die SPD habe sich in den letzten zwanzig Jahren Stück für Stück von der CDU nach links ziehen lassen und mit jedem Linksruck Wähler aus der Mitte verloren. Er erinnerte an August Bebel und Erich Ollenhauer, denen es gelungen war, dem deutschen Arbeiter, den Müttern der Arbeiterkinder und den Heranwachsenden aus der Arbeiterklasse zu Mut und Stolz zu verhelfen, indem sie ihnen bewusst machten, dass es einzig an ihnen läge, ob die Räder sich drehen oder stillstehen, und forderte, solche Männer müssten wieder zu leuchtenden Vorbildern werden, zu Kristallisationskernen des gesunden Volksempfindens, eines neuen Wir-Gefühls.

Insbesondere brachte er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass es den Deutschen nicht darum ginge, Bürger der Vereinigten Staaten von Europa zu werden, auch nicht darum das Weltklima zu retten, dass sie  sich nicht nach Gendersternchen und politisch korrekten Bezeichungen für Negerküsse, Zigeunersoße und Flüchtlinge sehnen, sondern einfach nur anständige Arbeit wollen und genug Geld für eine Wohnung, für ein Auto, für drei Wochen Mallorca und ansonsten wollten sie nur ihre Ruhe. Er schloss diesen bemerkenswerten Aufsatz mit einer Art Selbstverpflichtung in Amtseidqualität. Wörtlich: Erfüllen wir endlich wieder das Versprechen der Inschrift am Reichstag! Dienen wir mit all unserer Kraft dem deutschen Volke! Es ist das Gebot der Stunde, die Zeit der Animositäten, der taktischen Spielchen, der Ausgrenzung zu beenden. Wir, als SPD, werden mutig vorangehen und unsere Koordinaten in jene Mitte legen, die von vielen Verblendeten immer noch als rechts bekämpft wird. Wir werden diese Mitte gegen jeden linksgrünen Angriff verteidigen und ich werde an vorderster Front für die Renaissance von Volk  und Vaterland kämpfen, so wahr mir Gott helfe!“

„Danke, Fräulein Gnadenlos-Hempel, das war’s auch schon wieder.“

Als Sabine die Türe wieder hinter sich geschlossen hatte, fragte Wilbrecht Wille: „Sie erinnern sich doch, oder? Das waren Ihre Worte. Drei Tage lang ein Shitstorm nach dem anderen, mal von links, mal von rechts, das haben Sie damit ausgelöst, und jetzt kommen Sie mit diesem windelweichen Programm für ein sorgloses Kuscheln in der sozialen Hängematte daher? Wissen Sie nicht, dass Sie damit Ihre Glaubwürdigkeit ein für allemal zerstört haben?“

„Ach was! Das glauben ja auch nur Sie! Die Merkel, der Seehofer, der Spahn, der Söder, selbst der Laschet scheren sich doch auch einen Dreck um das, was sie gestern gesagt haben, wenn ihnen heute etwas anderes einfällt. Da sag ich mir doch auch, ist der Ruf erst runiniert, lebt sich’s völlig ungeniert!“

„Es tut mir leid, werter Herr. Nur weil es einige Figuren auf der Bühne gibt, denen diese Narrenfreiheit zugestanden wird, haben weder Sie noch sonstwer ein Recht darauf, dies auch für sich in Anspruch zu nehmen.“

„Wer? Wer bitte entscheidet denn darüber, welches Recht ich in Anspruch nehme und welches nicht? Sie reden ja wie ein ausgebuffter Verschwörungstheoretiker!“

„Entschuldigen Sie, ich habe mich da wohl etwas zu deutlich ausgedrückt. Verstehen Sie es einfach so: Selbstverständlich entscheiden Sie selbst und nur Sie ganz allleine darüber, ob Sie den immer noch möglichen Schritt tun und sich von Saskia und Norbert distanzieren, oder ob Sie sich weiter als Vorzeigekapitän auf die Brücke des nach links unten sinkenden Schiffes stellen lassen. Sie entscheiden das wirklich ganz alleine. Es gilt die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Vereinigungsfreiheit und die Immunität der Parteiangehörigen gegenüber dem Vorhalt der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129, 3 StGB.“

„Na also, warum also wollen Sie mir dann Vorschriften machen? Stehen Sie denn über dem Grundgesetz?“

„Ach, mein Lieber, so gefallen Sie mir. Immer schön in der Rolle des unbedarften Naiven. Am liebsten würde ich Sie ja mit Wumms in die Falle tappen lassen.“

„Sie geben nie auf, oder?“

„Wie kommen Sie darauf? Soeben habe ich Sie aufgegeben. Und dann gebe ich Ihnen noch etwas auf. Natürlich entscheiden Sie selbst und ganz alleine und niemand macht Ihnen Vorschriften. Aber wenn Sie der Sozialdemokratie noch einen letzten Dienst erweisen wollen – und nur dann, selbstverständlich – dann wäre es klug, sich jetzt, und wenn ich jetzt sage, dann meine ich, heute noch, vollumfänglich zu Ihren Verwicklungen im WireCard-Skandal zu bekennen. Selbstanzeigen nimmt jede Polizeiwache entgegen. Morgen, und das weiß ich halt, werter Herr,  wird nämlich ein Vöglein geflogen kommen und zu singen beginnen.“

Damit wandte sich Wilbrecht Wille von seinem Gesprächspartner ab und begann umständlich in einer Schreibtischschublade zu kramen. Nach einer halben Minute blickte er noch einmal kurz hoch und sagte zu dem immer noch still auf seinem Stuhle sitzenden Kandidaten: „Sie können gehen. Im Grunde sind Sie schon längst gegangen. Sie habe es selbst nur noch nicht bemerkt.“

Als der Mann, dessen Name nichts zur Sache tut, grußlos an Sabines Schreibtisch vorbei war und schon die Ausgangstüre geöffnet hatte, rief sie ihm nach: „Kommen Sie nächste Woche nochmal zu uns? Ich frage wegen der Terminplanung.“

Aber dann war er schon draußen, und dachte sich grimmig, was er nicht laut zu sagen wagte:

„Drecksbande! Elendigliche!“

(Fortsetzung hier)