Dem faktischen Hinauswurf des immer noch einzigen Kanzlerkandidaten der Republik, Sie erinnern sich, es geschah am 1. März 2021, folgten durchaus turbulente Tage im 1. OG.

Es begann mit einem Telefonat, das vom Vorzimmer des Sekretariats des Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. hc. George-Invisible Hands am frühen Morgen, Ortszeit US-Ostküste, zum Anschluss des Planungsbüros Wunsch & Wille in Good old Germany aufgebaut wurde, und als die Praktikantin am anderen Ende sicher war, mit Fräulein Gnadenlos-Hempel die richtige Verbindung hergestellt zu haben, hörte Sabine noch: „Just a moment, please. I’ll forward this call.“ Dann knackte es leise in der Leitung und es ertönte die nervtötende Ansage: „Please hold the line …. please hold the line …. please hold …“

Sabine stellte ihr Telefon auf Lautsprecher, begab sich in die Teeküche und hatte die Kaffeemaschine gerade aufgefordert, einen Capuccino anzufertigen, als das eintönige „Please hold the line“ abrupt endete und eine Männerstimme erklärte, dass Sabine nun mit dem Confidential Secretary des Mr. Hands verbunden sei, der befugt sei, die Sicherheit der kompletten Leitungsstrecke, einschließlich des WLAN-Routers des Planungsbüros Wunsch & Wille mit spezieller KI-Technik zu überprüfen. Sabine möge bitte auflegen, damit die Prüfung beginnen könne. Nach ca. 2 bis 3 Minuten werde das Ergebnis vorliegen. Sabines Telefon würde dann wieder läuten und die saubere Verbindung stünde für das Gespräch zwischen Prof. Dr. Hands und Mr. Wille zur Verfügung.

Tatsächlich klingelte es nach wenigen Minuten wieder.

„Hello? Sabine Gnadenlos-Hempel speaking“, donnerte Sabine ins Telefon.

„Aber, Sabinchen“, tönte es ölig zurück, „ich bin doch nicht schwerhörig. Ich hatte erwartet, gleich mit Billy verbunden zu sein. Kannst Du mich durchstellen, Darling?“

„Sorry“, fuhr Sabine fort, „but Mr. Wille is not in the office. How can I help you?“

„Diese Trottel! Da sagen sie mir, die Verbindung steht, ich bräuchte nur abheben und hätte Wille direkt am Ohr. Shit.“

Sabine schwieg verbiestert. Was sollte sie dazu auch sagen. Wille war wirklich nicht im Büro, sondern mit irgendjemand zum ausgedehnten Brunch verabredet, und sie war nicht nach Wille gefragt worden. Ob Mr. Hands das interessieren würde? Wohl kaum.

„Also gut, Sabine“, meldete sich die unangenehm aufdringlich wirkende Stimmer wieder, „ich habe keine Zeit zu verlieren. Machen Sie eine kurze Notiz für Billy. Das Scheitern des Kandidaten hätte so nicht passieren dürfen. Es ist jetzt aber abgehakt. Keine Träne nachweinen. Billy soll sich umso intensiver um den Bayern kümmern. Das ist jetzt der letzte wirklich Gefährliche. Schreib’s ihm auf. Rückruf ist nicht nötig. Das ist jetzt ganz alleine sein Ding – und das darf er keinesfalls versemmeln. Bye Darling ..“, und aufgelegt.

Wilbrecht Wille erschien an diesem Tag nicht mehr im Büro. Am Handy war er ebenfalls nicht zu erreichen, und Wunnibald erschien sowieso nur noch, wenn er Lust hatte. Dass er eigentlich beauftragt war, sich um den Bayern zu kümmern, dann aber überhaupt nicht mehr zum Zuge kam, hatte seine Neigung, die beleidigte Leberwurst zu spielen, wieder einmal kräftig aufleben lassen.

Weil sie Wille nicht erreichen konnte, und weil es hätte wichtig sein können, versuchte Sabine nun den Compagnon zu informieren.

„Ach, Du bist es Sabine. Sind meine Dienste vielleicht wieder einmal gefragt?“

„Ich kann nichts dafür, das weißt Du, Wunni. Also lass Deinen Frust nicht an mir aus!“

„Ihr habt mich sauber ausgebootet. Da mach ich keinen Unterschied zwischen Dir und Wilbrecht. Also rede nicht von Frust, wenn ich den Zorn des Gerechten pflege!“

„Darüber können wir gerne reden, wenn Du von Deiner Palme wieder runtergekommen bist. Im Augenblick ist Feuer am Dach!“

„Aha, und der Herr Oberbrandmeister Wille ist sich wohl zu fein, selbst das C-Rohr in die Hand zu nehmen.“

„Wilbrecht weiß von nichts. Er ist nicht zu erreichen. Hands hat angerufen.“

„Hands hat angerufen? Und der hat mit Dir gesprochen? Der hat Dir gesagt, dass Feuer am Dach ist? Erzähl mir doch nichts. Wenn Hands mit jemandem spricht, dann mit Wilbrecht.“

„Vielleicht schaltest Du mal für einen Augenblick Dein Hirn ein, Wunni. Wenn HANDS hier anruft und mit MIR spricht und MIR eine Nachricht für Wilbrecht hinterlässt:

DANN IST FEUER AM DACH!“

„Und, was geht mich das an?“

„Das geht Dich was an, weil es um Deinen Kandidaten geht! Keine Ahnung wann Wilbrecht hier wieder auftaucht. Ich fürchte, das Quartal ist wieder mal um.“

„Du meinst, er ist wieder mal stockvoll auf Sauftour?“

„Kann schon sein. Schließlich hat er einen Klienten verloren. Falsch. Nicht verloren. Er hat ihn hinausgeworfen. Das nagt in ihm. Wir kennen das doch. Er kann’s nicht zugeben, dass er das versemmelt hat. Da säuft er sich lieber ins Koma.“

„OK. Was liegt an?“

„Du bist morgen Früh punkt acht im Büro. Für alle Fälle. Ich ruf jetzt gleich die Melanie an. Die soll uns ihren Chef noch morgen auf dem Silbertablett servieren. Ich denke schon, dass ich das deichseln kann. Und Du bist vorbereitet auf alles. Hands hat gesagt: Billy soll sich jetzt umso intensiver um den Bayern kümmern. Der wäre jetzt der letzte wirklich Gefährliche. Es wäre nun ganz alleine sein Ding – und das darf er keinesfalls versemmeln.“

„Das klingt durchaus nach Panik, Sabine. Löschmeister Wunsch wird pünktlich zur Stelle sein!“

 

„Siehst Du, Sabine, Dir ist nichts unmöglich“, sagte Sabine zu sich selbst und suchte in ihrem Handy nach Melanie Humls Durchwahlnummer.

„Oh! Sabine! Du bist’s! Schön, dass Du Dich an mich erinnerst. Ist Dir auch so langweilig?“

„Wie man’s nimmt, Melanie. Wie man’s nimmt. Aber sag: Wie geht’s Dir, was tut sich bei euch in der Staatskanzlei?“

„Ach tut das gut, Sabine. Tut das gut, dass Du Dich für mich interessierst. Ganz fürchterlich geht’s mir. Die behandeln mich alle wie eine Aussätzige. Jetzt haben sie mir auch noch ein eigenes Büro eingerichtet. Ganz am hintersten Ende und gleich unterm Dach. Vorbei mit MP-Sekretariat. Den ganzen Tag kein Mensch zu sehen. Ich schreib mir jetzt schon selbst Memos, damit wenigstens mal jemand von der Hauspost bei mir anklopft. Dabei hab‘ ich doch gar nichts weiter gemacht. Schau Dir den Scheuer Andy an, wenn es gerecht zuginge, in Bayern, dann müsste der in meinem Abstellkammerl sitzen, aber doch nicht ich.“

„Mensch Melanie! Das ist ja echt Scheiße, was die mit Dir machen. Und Du hast auch gar keinen Kontakt mehr zum MP?

„Ich sag’s Dir doch. Ich bin völlig abgeschnitten. Alles, was ich noch mitkriege, das ist das, was abends im Fernsehen gezeigt wird. Nun ja. In der Kantine, da hab ich gehört, wie sie sich am Nachbartisch – zu mir setzt sich ja keiner mehr – darüber unterhalten haben, dass sich der Markus einen tiefdunkelblauen Nadelstreifenanzug hat schneidern lassen, mit einem weiß-blauen Rauteneinstecktüchlein, und wie der damit vor dem Spiegel den Amtseid aufsagt, aber das einfach nicht hinkriegt, ohne dass sich dieses triumphierende Grinsen in seinem Gesicht breit macht. Sie meinen allerdings, er macht jeden Tag Fortschritte, und bis zur Bundestagswahl wird er sich wohl gegen sich selbst soweit abgehärtet haben, dass es klappt, bei der Vereidigung …“

„Und wenn ich Dich jetzt bitten würde, einen Termin zu machen, also den MP ganz dringend zu uns nach Berlin zu bringen, möglichst noch morgen?“

„Ach Sabine, Du Liebe! Du hast noch Vertrauen zu mir …“, brachte Melanie gerade noch schluchzend heraus, „aber… aber da geht nichts mehr. Ich bin doch bloß noch Luft. Luft allerhöchstens noch Luft – und danach kommt nur noch das Nichts …“

Da öffnete sich Sabines vom ewigen Intrigieren längst versteinertes Herz und auch sie brach in ein tiefes Schluchzen aus. Es lösten sich alle Verkrustungen. Sie spürte, dass diese Melanie sich nur noch nach Liebe und Zuneigung sehnte, und erkannte, wie lange sie schon, hinter der Fassade jener taffen, kaltschnäuzigen Figur, die sie zu sein vorgab, die gleiche Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung verspürte, ohne ihr je eine Chance gegeben zu haben.

Als das beiderseitige Schluchzen allmählich erstarb, raffte Sabine sich auf und tat etwas, was ihr sowohl als unumgänglich als auch als vollkommen verrückt und unmöglich erschien. Sie sagte ins Telefon und wunderte sich dabei über jedes Wort, das aus ihrem Mund kam: „Melanie, pass auf. Du packst jetzt Deine Sachen, setzt Dich in den nächsten Flieger nach Berlin und kommst zu mir. Zusammen kommen wir wieder hoch. Ich fühl mich doch genauso beschissen wie Du. Ich hol Dich am Flughafen ab, sobald ich weiß, wann Du landest. Du wohnst bei mir, und wir werden es uns so richtig gutgehen lassen. Scheiß auf die Männer! Scheiß auf die Politik! Scheiß auf alles. Machen wir unseren Great Reset! Kommst Du?“

„Du meinst das Ernst? Du meinst wirklich …? Ach Sabine! Ich fliege …! Ich ruf Dich an, sobald ich den Flug gebucht habe. Getestet bin ich ja heute schon. Bis bald, Liebste! Bis bald!“

Wie in Trance räumte Sabine ihren Schreibtisch auf. Schrieb für Wilbrecht Wille einen Zettel auf dem stand: „Hands hat angerufen. Kandidatenpanne ist abgehakt. Der Bayer hat höchste Priorität. Du sollst das nicht auch noch versemmeln. Wunni ist alarmiert. Ich bin dann mal weg. Sabine“ Nun war nur noch die Anrufumleitung von ihrem Festnetzanschluss im Büro auf ihr Handy einzurichten, und dann flog auch sie. Erst einmal nach Hause, um die Wohnung schnell aufzuräumen, damit Melanie sich auch richtig wohlfühlen würde, danach zum Flughafen, obwohl sich Melanie immer noch nicht gemeldet hatte. Sie würde im BER warten. Völlig blödsinnig zwar, aber irgendetwas Unkontrollierbares tief in ihr drinnen bewegte sie  dazu, ihrer neuen Freundin und Leidensgenossin so schnell wie möglich so nah wie möglich zu sein.

 

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