Als Fräulein Sabine Gnadenlos-Hempel an diesem Montag, wie fast immer, als erste die Bürotür im 1. Obergeschoss aufgeschlossen und sämtliche Fenster zum Durchlüften aufgerissen hatte, war sie noch durchweg guter Dinge. Sie beschickte die Kaffeemaschine mit frischem Wasser, füllte den Milchbehälter und drückte die Capuccino-Taste. „Das wird ein ruhiger Tag“, freute sie sich im Stillen. Der Versuch, neue Termine mit ihren Klienten zu vereinbaren, war bei beiden fehlgeschlagen. Als das Fauchen der Kaffeemaschine erstarb und sie den ersten Schluck des belebenden Getränks zu sich genommen hatte, kam die Erinnerung an einen Espresso in ihr auf, den sie in aller Morgenfrühe im Schatten der im Gegenlicht in den Himmel ragenden Türme von San Gimignano genossen hatte. Das Gefühl von Freiheit und Lebenslust, das sie damals empfunden hatte, kontrastierte so stark mit der Realität ihres momentanen Lebens, dass der Beschluss in ihr reifte, den Job an den Nagel zu hängen, einfach auszusteigen, in den Süden zu ziehen und ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, statt es Tag um Tag, Woche für Woche, mit intriganten Spielchen zu verplempern, die zwar ein ordentliches Gehalt einbrachten, aber letztlich doch nichts anderes waren als das Mitwirken von kleinen, austauschbaren Rädchen am großen Betrug an der Menschheit.

Es gibt so Augenblicke, in denen die blanken Notwendigkeiten, die Sachzwänge des Überlebens, von der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten, glücklichen Lebens total in den Hintergrund gedrängt werden, und wer nicht rechtzeitig wieder aufwacht, und so töricht ist, zu glauben, Träume ließen sich so einfach leben, ist schon halb verloren.

Sabine hatte Glück. Das Erscheinen von Wunnibald Wunsch warf sie schlagartig aus den Gefilden der Trugbilder ihrer Fantasie zurück auf den harten Boden der Tatsachen.

„Na Sabine? Schön geträumt?“, hörte sie Wunnis belustigte Begrüßung.

„Ach, weißt du, Wunni, das sind manchmal so kleine Fluchten bei mir. Ich war im Geiste gerade in der Toskana – und sooo frei …“

„Dann komm mal schnell zurück. Die Toskana ist doch auch bloß noch ein Touristen-Disney-Land. Für ein paar Tage, ja, super! Aber stell dir vor, du müsstest dort leben, irgendwie Geld verdienen. Glaub‘ mir, es  ist besser, hier zu arbeiten und dort Urlaub zu machen, als dort zu arbeiten, wo die anderen Urlaub machen.“

„Ja, ja! Hast ja Recht. Dann wollen wir mal im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen.“

Wilbrecht Wille, der soeben auf der Bildfläche erschienen war, hatte Sabines letzten Satz noch gehört und tönte: „Das hätte ich schon mal mitbekommen – Sabine, im Schweiße ihres Angesichts bei der Arbeit. Guten Morgen, ihr beiden. In zehn Minuten im Besprechungszimmer. Es gibt Neuigkeiten!“

„Was meinst Du, Wunni, haben wir einen dritten Klienten?“, setzte Sabine ihre Unterhaltung mit Wunnibald Wunsch fort.

„Nee … Kann ich mir nicht vorstellen. Lassen wir uns überraschen.“

Als sie sich kurz darauf im Besprechungszimmer versammelt hatten, begann Wilbrecht Wille ungewohnt weitschweifig mit seiner Erklärung.

„Ich weiß ja nicht, wie ihr das aufnehmen werdet, aber es haben sich Veränderungen ergeben, die, nun, ich sage mal, ziemlich überraschend, aus meiner Sicht jedenfalls vollkommen unerwartet …“

„Red nicht lange um den heißen Brei rum, Wilbrecht. Raus damit!“, kam es ungeduldig von Wunnibald Wunsch.

„Ich will ja nur sagen, dass es … also dass es natürlich an unserer grundsätzlichen Arbeit keine Veränderung gibt. Wir machen das, was wir gut können. Wir sind ein eingespieltes Team. Es ist halt nur so, dass sich, also dass ich …“

„Was ist los mit dir? Wo ist sie hin, die berühmte Wilbrecht-Willesche Eloquenz? Du stotterst ja herum wie ein auf frischer Tat erwischter Fünfjähriger beim Ladendiebstahl!“

„Stimmt, Sabine. Du bist wieder mal dicht dran. Hier“, und damit schob er Wunnibald und Sabine je ein kleines verschlossenes Kuvert zu, „hier ist euer Anteil.“

„Du hast verkauft? Du schmeißt uns raus? Du meinst, mit so einem blauen Brief, den du uns über den Tisch zuschiebst, bist du aus dem Schneider? Du bist sowas von fies, Wilbrecht …“

„Halt, halt! Wunni! Was denkst du von mir? Nein – nicht aufreißen, nicht hier. Das macht ihr mal hübsch zuhause, wenn ihr ganz alleine seid. In jedem dieser Kuverts befinden sich die Zugangsdaten zu einem für euch eingerichteten Bitcoin-Konto, und auf diesem Konto befinden sich – Luft anhalten! – volle zehn Bitcoin.“

„Das sind ja, das sind ja rund eine halbe Milion Dollar, wenn der Kurs vom Freitag noch gilt. Wer zahlt uns denn mit Bitcoin?“

„Kurz nachdenken! Wer hat denn gerade für 1,5 Milliarden Dollar Bitcoins gekauft? Ich weiß jetzt jedenfalls, was die Absicht dahinter war.“

„Das ist nicht dein Ernst, Wilbrecht“, empörte sich Fräulein Gnadenlos-Hempel, „du hast uns an Bill und Melinda verkauft? Was müssen wir dafür tun?“

Wilbrecht wurde laut: „Ich habe es schon gesagt, an unserer subversiv-konspirativen Arbeit ändert sich nichts. Wir haben schon immer für Geld alles möglich gemacht, worum wir gebeten wurden, und wir werden das auch weiterhin tun. Tut doch nicht so empört! Geld stinkt nicht. Egal, von welcher Stiftung es kommt. Und wenn wir es nicht tun, dann tun es eben andere. Also, knallhart zur Sache! Augen zu und durch. Die Bitcoin-Quelle hat noch mehr für uns. Das da“, und damit wies er auf die Kuverts, die immer noch auf dem Tisch lagen, “ das da ist nur die Anzahlung.“

„Ich will wissen, was wir dafür tun müssen!“, konterte Sabine mit gleicher Lautstärke. „Ich auch!“, schloss sich Wunnibald Wunsch an.

„OK. Natürlich werdet ihr es erfahren. Vorher allerdings noch eine kleine Randbedingung. Von dem, was ab jetzt hier besprochen wird, dringt kein Sterbenswörtlein nach außen. Daran haltet ihr euch in eurem eigenen Interesse. Ich sage nur so viel: Auch bei unter 60-Jährigen kann Sars-Cov-2 auf dem Totenschein stehen. Ihr versteht mich? Also, wer sich darauf nicht einlassen will, der lässt sein Kuvert auf dem Tisch liegen, packt seine persönlichen Sachen zusammen und kann seinen Lebensabend meinetwegen auf den Malediven oder in der Toskana verbringen. Was ist? Seid ihr dabei, oder habt ihr die Hosen voll?“

„Ich denke, so schlimm kann’s wohl nicht werden. Ich bin dabei.“

„Wenn Wunni mitmacht, dann bin ich auch dabei. Also, lass die Katze aus dem Sack!“

„Es ist im Grunde ganz einfach“, sagte Wilbrecht Wille, erleichtert, dass sein Team zusammenbleiben würde,

„der nächste Bundeskanzler heißt Karl Lauterbach!“

Nach ein paar Sekunden verblüffter Stille brachen Sabine und Wunni in ein hysterisches Gelächter aus.

„Das ist doch vollkommen unmöglich.“
„Der doch nicht.“
„Der steht doch nirgends auf der Liste als Kandidat.“
„Das schaffen doch selbst wir nicht!“

„Ruhe!“, donnerte Wilbrecht Wille los. „Wer sagt denn, dass wir das bewerkstelligen sollen? Das Ding ist beschlossen und längst eingefädelt. Unser Job ist es nur, unsere beiden Klienten dazu zu bringen, sich beschleunigt selbst zu demontieren und aus dem Rennen zu werfen, obwohl es gar kein Rennen geben wird.“

„Es sind gerade noch sieben Monate bis zur Bundestagswahl“, warf Sabine ein. „Wir werden das mit unseren Kandidaten schon hinbringen, in der Zeit. Aber wie man den Lauterbach, diesen Kinderschreck, bis dahin zum Kanzler und seine SPD zur stärksten Partei aufbauen will, das kann ich mir absolut nicht vorstellen.“

„Dein Denken ist zu sehr in alten Regeln und Prämissen verhaftet, Sabine. Think big, think bigger!“

„Du meinst also“, wandte sich Wunnibald an Wilbrecht, „dass es gar keine Wahl geben wird, dass der Termin wegen Corona verschoben wird? Aber war es da nicht der Plan, doch am 26. September zu wählen, aber eben überhaupt kein Abstimmungslokal zu öffnen, sondern eine allgemeine, gleiche und postgeheimnisvolle Briefwahl abzuhalten?“

„Du kommst der Sache schon näher, aber auch du denkst noch viel zu kleinkariert. Hört mir zu. Ich erkläre euch jetzt den Plan, soweit ich ihn kenne. Ich weiß aber auch nichts alles.“

Wilbrecht trat an den Flipchart-Ständer und schrieb:

Dritte Welle

B 1.1.7

Notstand

Angela Merkel Ende 03/Anfang 04 amtsunfähig

„Das ist das Szenario, bis dahin sind es nicht sieben Monate, sondern nur noch sieben oder acht Wochen.“

„Dann wird Gott also tatsächlich die Gebete derjenigen erhören, die schon lange fordern „Merkel muss weg“?

„Gott würde ich da mal lieber aus dem Spiel lassen, Sabine. Aber im Endeffekt läuft es auf das Gleiche hinaus.“

„Aber dann ist doch automatisch der Vizekanzler dran“, warf Wunni ein.

„Nicht, wenn wir unseren Job ordentlich erledigen. Dann ist der nämlich vorher schon erledigt und kein Steinmeier dieser Welt würde zulassen, dass ausgerechnet der die Geschicke des Landes bestimmen soll.“

„Da sehe ich schwarz. Der Kandidat, dessen Name nun erst recht nichts mehr zur Sache tut, reagiert auf das ihm zugedachte Gauland-Image immer noch sehr zurückhaltend. So schnell drehen wir den nicht um, dass er ein Parteiauschlussverfahren erwarten muss.“

„Ist auch nicht nötig. Es werden neue Details aus dem Wirecard-Skandal ans Licht kommen. Wir werden ihn dahingehend beraten, dass er sich vollumfänglich zu seinen Verwicklungen bekennen soll. Es kommt nur auf das Timing an. Keinen Tag zu früh – und keinen Tag zu spät. Ich denke aber, das ist zu schaffen.“

„Dann haben wir also Anfang April einmal den Notstand zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, so Wunnibald Wunsch, laut vor sich hin denkend, „und zugleich einen Notstand wegen des nun definitiv nicht mehr zu verbergenden Totalausfalls der exekutiven Richtlinienkomptenz.“

„Das ist der Plan!“, meinte Wilbrecht Wille trocken, „und der wird aufgehen.“

„Aber deswegen ist Karl Lauterbach doch längst noch nicht Bundeskanzler. Da hat Frank-Walter doch noch ganz andere Optionen. Bessere, wie ich meine.“

„Aber der wird doch gar nicht gefragt! Die Situation ist doch eindeutig, zumindest kann man sie als eindeutig hinstellen. Die UNO wird erkennen, dass es sich bei Deutschland um einen Staat handelt, der schwere Menschenrechtsverletzungen gegen seine eigene Bevölkerung nicht mehr verhindern kann, weil ihm schlicht die dafür erforderlichen exekutiven Organe abhanden gekommen sind. Von daher sind sogar militärische Interventionen ausländische Mächte zum Schutz einer Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzung rechtmäßig, wie es im Darfur-Konflikt, der als Präzedenzfall herangezogen werden kann, beschlossen wurde.“

„Du kannst doch wohl den Bürgerkrieg im Sudan nicht mit der Lage in Deutschland vergleichen“, empörte sich Fräulein Gnadenlos-Hempel.

„Tu ich ja auch gar nicht. Die UNO wird das tun, wenn es soweit ist. Schließlich gibt es ein Menschenrecht darauf, ordentlich regiert zu werden, vor allem, wenn zugleich eine epidemische Lage von nationaler Tragweite herrscht.“

„Und wer soll dann in Deutschland einmarschieren?“

„Da braucht niemand einmarschieren, es muss ja nur die Regierungsgewalt wieder hergestellt werden. Dazu wird Antonio Guterres bei Ursula von der Leyen anrufen und ihr, als Kommissionspräsidentin anempfehlen, die EU-Kommission möge dergestalt intervenieren, dass die EU als Sachwalter und Vormund die Reste der Souveränität Deutschlands von Amts wegen einzieht und zum Schutz der Menschenrechte der Deutschen Karl Lauterbach – Kraft ihrer Kommissionspräsidentschaft – zum Bundeskanzler auf Lebenszeit ernennt. Nicht auf seine, auf die Lebenszeit der Seuche natürlich, bis die 7-Tage-Inzidenz nachhaltig bei null oder darunter liegt.“

„Ach du Sch…! Der testet sich die Inzidenzen doch herbei, wie er sie braucht.“

„Liebe Sabine, wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann lass in Zukunft solche defätistischen Äußerungen. Am besten, du denkst sie gar nicht mehr. Karl Lauterbach ist für Größeres ausersehen. Inzidenz hin, Inzidenz her – sein Job wird es sein, die dauerhafte Abwesenheit der Grund- und Menschrechte durch die Vergabe individueller Privilegien an treu ergebene staatstragende Elemente für diese erträglich werden zu lassen. Ganz im Sinne des Titels seines Buches: ‚Gesund im kranken System‚! Bedenke: 99,99 % der nicht inhaftierten Chinesen finden das Social Credits System sehr gut. Und das kann weit über die epidemische Notlage von nationaler Tragweite hinaus eingesetzt werden. Schließlich stehen wir zugleich in einer klimatischen Notlage von nationaler Tragweite und in einer feministisch-rassistisch-genderistischen Notlage von nationaler Bedeutung und in einer Black-Facing Notlage und in einer Stromversorgungs-Notlage und in einer Mietpreis-Notlage und in einer Schul- und Bildungsnotlage, in einer Innenstadt-Sterbens-Notlage, in einer Insolvenz-Wellen-Notlage, alles von nationaler Tragweite, alles im Kern schon von menschenrechtsverletzender Natur, und ein Ende der noch herbeiführbaren Notlagen ist nirgends in Sicht.“

„Und warum soll das alles ausgerechnet von Karl Lauterbach vertreten werden?“

„Weil er das alles doch längst verinnerlicht hat, Sabine. Liest du denn gar keine Nachrichten mehr? Er hat es doch schon Ende letzten Jahres bei der WELT zu Protokoll gegeben. Hier, lies! Ganz unten!“

Zur Bewältigung des Klimawandels sind Schritte nötig, die analog zu Einschränkungen der persönlichen Freiheit wegen der Pandemie sind.

 

Na dann, gute Nacht!

(Fortsetzung hier)