Montag, 18. Januar 2021

Sabine Gnadenlos-Hempel schließt gegen neun Uhr fünfzehn das Büro auf, wirft die Kaffeemaschine an, prüft den Wasserstand der Hydro-Kulturen, reißt die Fenster auf, zum Lüften, und lässt sich nach getaner Arbeit zufrieden in ihren Stuhl sinken. Das Blinken am Anrufbeantworter hindert sie daran, in jene wohlig-nachdenklich-meditative Stille zu versinken, aus der sie jeden Morgen die Kraft schöpft, dem Tag ihren Stempel aufzudrücken.

Missmutig drückt sie die Wiedergabetaste.

„Servus Wille! Aldes Haus“, tönt es blechern aus dem Lautsprecher. „Ich bins, der Markus. Ich bräuchert an Dermin für ein konschbiradives Dreffen. Am besden du rufst bei der Huml an. Die is ja jedzd Segredärin bei mir. Als dann, ersdens, zweidens, driddens – wie immer.“

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, entfuhr es Fräulein Gnadenlos-Hempel. „Der jetzt auch noch. Kompliziert, kompliziert. Interessenkonflikt, so weit das Auge reicht. Aber der Wilbrecht wird sich die Kohle von der bayerischen Staatskanzlei nicht entgehen lassen. Phhh – jetzt wirds lustig!“

Kaum vom Schreck erholt, klingelt erneut das Telefon.

„Planungsbüro Wunsch und Wille, Sie sprechen mit Fräulein Gnadenlos-Hempel, was können wir für Sie tun?“

„Jaa – ich bin, also Sie wissen schon, tut ja auch nichts zur Sache. Ich hab‘ ja heute wieder Termin bei den Herren Wille und Wunsch …“

„Ja. Sicherlich. Und …?“

„Ob sich der verschieben ließe, unter Umständen?“

„Das ist bei uns wie mit den Corona-Regeln. Nur mit triftigem Grund. Haben Sie einen, also einen triftigen Grund?“

„Nun, ja. Könnte man so sagen. Weil, das wird ja doch nichts mehr. Der Laschet, der ist ja jetzt durch – und mehr als die halbe Partei steht hinter ihm? Wer steht denn hinter mir? Und wenn da jemand steht, dann ist das doch wie bei Dyonis, dem Tyrannen, Sie  wissen schon, die Saskia mit dem Dolch im Gewande …“

„Das ist von triftig so weit entfernt, wie die Erde vom Pferdekopfnebel. Machen Sie sich jetzt bloß nicht die Hosen voll, werter Herr. Wir haben die ganze Woche hart für Sie gearbeitet. Ihr Termin steht, und sollten Sie nicht erscheinen, dann wird die Konventionalstrafe fällig. Sie wissen doch, was Sie unterschrieben haben!“

„Also …, wie reden Sie denn mit mir, Fräulein?“

„Gnadenlos. Wie mein Name schon sagt. Wir erwarten Sie punkt 14 Uhr. Ende.“

Inzwischen war auch Wunnibald Wunsch eingetroffen, hatte der telefonierenden Sabine kurz zugenickt und war in seinem Büro verschwunden. Sabine beschloss, die Neuigkeiten, die bei ihr aufgelaufen waren, erst zu verkünden, wenn auch Wille erschienen sei.

Gelangweilt verschaffte sie sich bei Google News einen Überblick über die Nachrichtenlage, doch außer Laschet, Laschet und noch einmal Laschet sowie den üblichen Pandemie-Rekorden aus dem RKI war da nichts. Gut, Joe Biden hatte wohl verkündet, innerhalb seiner ersten 10 Tage im Amt das niederzureißen, was Trump in vier Jahren aufgebaut hatte, aber das würde man abwarten können. Auch das Wetter sollte nach der kalten Nacht trüb bleiben in Berlin. Man würde sich dem Kandidaten ungestört widmen können.

„Guten Morgen, Wilbrecht“, flötete Sabine, als der Chef endlich auftauchte.

„Moin, Sabine. So gut gelaunt am Montag? Gibt es denn Neuigkeiten?“

„Gleich zwei.“

„Lass hören.“

„Beide unter dem Motto: Laschet turns the world around. Der Markus Söder hat wohl schon am Samstag auf den AB gesprochen. Er bittet um einen Termin. Du sollst bei der Huml anrufen. Die ist jetzt seine Sekretärin, sagt er. Ich fürchte, wir haben einen zweiten Kandidaten unter Vertrag,“

„Schön. Und die zweite Neuigkeit“

„Der erste Kandidat hat schon wieder die Hosen voll und wollte absagen. Ich habe ihn an die Konventionalstrafe erinnert und für punkt 14 Uhr einbestellt. Irgendwie kommt er mir so vor, als sehnt er sich nach Lack, Leder und Peitsche. Ich hab ihm verbal die Domina gegeben. Er wird da sein.“

„Gut. Dann machst du heute da weiter, wo du am Telefon aufgehört hast. Wunni und ich werden nur guten Tag sagen und uns dann wieder verdrücken. Vermutlich wird er seine ihm zugedachte Rolle leichter akzeptieren, wenn sie ihm von harter weiblicher Hand aufgedrückt wird.“

„Und es bleibt wirklich bei Gauland? Sollen wir nicht doch noch einmal ernsthaft darüber nachdenken und vielleicht lieber den Willy Brandt nehmen?“

„Nein. Die Würfel sind gefallen. Als Brandt wäre er nur ein schwacher Abklatsch des großen Vorsitzenden. Als Gauland aber, muss er sich vollkommen neu erfinden, und ich wette, das wird ihm viel Freude machen. Da wird er sich reinsteigern. Du darfst halt bloß nicht auf die Idee kommen, ihm zu verraten, dass er ausersehen ist, dem gärigen Haufen SPD den Gauland zu machen. Der Name würde ihn trotz Konventionalstrafe  flüchten lassen, wie der Teufel vor dem Weihwasser flieht. Aber das Gehabe, das Grundsätzliche, die Entrückheit des Alters, da findet er sich rein – und so lange nicht AfD draufsteht, kommen ja auch die Absichten gut an bei den Wählern. Er ist Wachs in deinen Händen, Sabine. Knete ihn zurecht. So dass er der Welt, wie er es wünscht, selbt im Scheitern noch als großer Mann in Erinnerung bleibt.“

 

Der Zeiger der Uhr rückte voran. 14 Uhr nahte unerbittlich, und damit auch der Kandidat. Sabine hatte sich noch einmal intensiv auf ihre Aufgabe konzentriert und war jetzt bereit. Der Kandidat wirkte verwirrt, als sich Wunsch und Wille nach einer kurzen Begrüßung schleunigst wieder verabschiedeten, ließ sich von Sabine dann aber willig in das Besprechungszimmer führen.

„Sie haben in der letzten Woche einen bemerkenswerten Satz abgesondert. Mein Lieber, mein Lieber“, begann sie mit dem Kandidaten-Coaching.

„Wir müssen das Wir wieder mehr in die Mitte stellen“, zitierte sie genüsslich. „Was genau, bitte, soll ich mir darunter vorstellen? Würden Sie dazu bitte drei Minuten lang aus dem Stegreif eine überzeugende Begründung abliefern. Stehen Sie auf, fangen Sie an, die Uhr läuft.“

Der Kandidat erhob sich, begab sich an das Kopfende des Tisches, räusperte sich ausführlich und begann:

„Es ist doch zweifellos so, und wer interessiert beobachtet, wird das bestätigen können, dass mit der Mitte etwas nicht mehr stimmt. Der Mitte fehlt etwas, und das was der Mitte fehlt, sind weder Verstand noch Courage, weder Geld noch  Frauenquote, der Mitte fehlt, und ich sage das offen und ehrlich, nichts als das Wir. Dieses Wir, das aus Freiheit, Gleicheit und Brüderlichkeit, Liberté, Égalité und Fraternité aus dem Kampf unserer französischen Genossen hervorgegangen ist und sich in unserer Hymne in der Form von Einigkeit und Recht und Freiheit wiederfindet, also eigentlich direkt nur in der Einigkeit, die aber ohne Recht nicht funktionieren kann, während ein Zuviel an Freiheit wiederum das Wir zerstört, ein Zuwenig es überhaupt nicht entstehen lässt, also darum geht es und wenn wir das Wir nicht in die Mitte stellen, dann bleibt es eben außen, wo unsere politische Konkurrenz …!

„Hören Sie auf, Mann!  Das hält ja keine alte Sau aus. Und wie stehen Sie überhaupt da?“

Sabine war in Hochform.

„Das können Sie vielleicht als Essay in der ZEIT unterbringen, der di Lorenzo würde Ihnen den Gefallen sicherlicht tun. Aber bei mir kommen Sie damit nicht durch. Ich will wissen, was es bedeuten soll, dass das eine Wir das andere Wir in die Mitte stellen muss, und zwar mehr in die Mitte. Ist das dann mitterer, oder schon das Mitterste, wo das Wir hin soll? Und Sie sollen es mir so erklären, als wäre ich ein Bierzelt voller SPD-Wähler, die Sie überzeugen wollen, ausgerechnet Sie zu wählen, sagen wir mal, zum Parteivorsitzenden. Auf geht’s. Neuer Versuch!“

Der Kandidat mühte sich, die Schultern hinten, den Kopf hoch und die Stimme sonor zu halten.

„Wie ich bereits ausführte …“

„Entschuldigung! Was haben Sie bereits ausgeführt? Die Frau Gemahlin? Ich sagte: Neuer Versuch. Ganz neuer Versuch. Keine Fortsetzung. Also, bitte!

Der Kopf des Kandidaten senkte sich, die Schultern rundeten sich, seine Hände umklammerten die Lehne des Stuhles, hinter dem er stand. „Also gut. Ich versuch’s noch mal, Frau Gnadenlos-Hempel!“

„Fräulein!“, brüllte Sabine. Mein individuell selbstgewähltes Geschlecht ist Fräulein. Akzeptieren Sie das gefälligst!“

„Also gut, Fräulein Gnadenlos-Hempel. Also gut, ich versuch’s noch mal.“

„Und denken Sie daran. Sie müssen ein ganzes Bierzelt voller Leute überzeugen. Los jetzt, die Uhr läuft wieder!“

„Liebe Genosssnnen und Genossen! Die Zeit ist reif für die Mitte, die Zeit ist reif für uns. Und daher müssen wir das Wir wieder mehr in die Mitte stellen.  Als das Rad erfunden wurde, haben sie ja auch versucht, die Nabe, also das, worum sich alles dreht, in die Mitte zu bringen. Wenn die Nabe des Rades nicht in der Mitte sitzt, dann eiert das, dann ist das unwuchtig. Wir aber wollen wuchtig sein und mit Wumms wollen wir sein. Bringen wir also das Wir wieder mehr in die Mitte, denn das Wir, das sind Wir, die SPD, wir sind die Nabe am exzentrischen Rad Deutschlands. Darum rumpelt es beim Fahren. Deshalb fliegen uns immer wieder Teile um die Ohren. Machen wir Schluss damit! Ein für alle Mal! Schleifen wir den Kreis so lange ab, bis die Nabe wieder in der Mitte steht. Das heißt vor allem: Kampf gegen rechts. Und daher frage ich euch jetzt: Wollt ihr gegen die Unwucht aufstehen, wollt ihr, dass Deutschland wieder rund läuft, wollt ihr die totale Mitte?“

„Sind Sie fertig, Herr Kandidat?“

„Ja.“

„Was glauben Sie, wie wohl das Bierzelt auf diese Passage Ihrer großen Rede reagiert haben mag? Ich will es Ihnen sagen. Außer den Leuten von der Presse, die darüber was schreiben müssen, hat Ihnen niemand zugehört. Im Gegenteil, die hoffen alle, dass es bald zu Ende ist und die Musik wieder spielt.“

„Ja, aber …“

„Nix aber! Auch wenn Sie gar nicht gewinnen wollen, eine gute Figur wollen Sie doch dennoch machen und einen unvergesslichen Wahlkampf hinlegen. Da kann man nicht einfach immer nur den alten Käse wiederkäuen. Da braucht es neue Ideen, neue Parolen, auch neue Figuren. Da darf nicht einer vorne stehen im königsblauen Anzug, mit weißem Hend und – wie langweilig – parteifarbener Krawatte und einfach nur um Mitleid bitten für die älteste Partei Deutschlands.“

„Ja, aber …“

„Schon wieder aber?“

„Ja, muss sein. Die CDU hat doch jetzt den Laschet zum Vorsitzenden gewählt. Von Siegern soll man lernen, heißt es. Und der Laschet macht es doch ganz genau so. Immer den alte Käse wiederkäuen, immer versichern, dass er und Merkel schon heute nicht mehr zu unterscheiden sind. Dass es mit ihm – und da wärmt er den Adenauer auf – keine Experimente geben wird. Die Leute wollen das doch. Kontinuität. Bloß nichts Neues, Fremdes. Merz, der alles anders machen wollte, ist doch krachend gescheitert. Röttgen lag so dazwischen, trutzig demütige Haltung gegenüber Merkel. Warum also soll ausgerechnet ich nicht den Laschet kopieren?“

„Sie können den Laschet nicht kopieren, weil Sie sein Grinsen niemals hinbringen. Nicht für eine halbe Stunde – und Laschet trägt dieses Grinsen seit Jahrzehnten im Gesicht. Das ist sozusagen sein Logo und sein politischer Markenkern  zugleich. Das mögen die Leute. Was er sagt, dass ist den Leuten egal, denn die wissen: Wer so fröhlich grinst, der kann nichts Böses im Schilde führen. Merken Sie sich: Der Herausforderer muss sich deutlich unterscheiden, und damit nicht genug, er muss sich abheben, er muss der grobe Pflasterstein sein, mitten im blankgebohnerten Parkett. Sie gehören nicht dazu, Sie machen sich nicht gemein mit Hinz und Kunz. Sie blicken verächtlich herab auf die Laschets und Baerbocks und Ramelows dieser Welt Sie haben eine Vision, und Sie folgen nicht dem Rat Helmut Schmidts, mit Ihrer Vision zum Arzt zu gehen! Sie verkünden sie – und wenn die SPD darüber in mehr Flügel zerfallen sollte als Steinway je gebaut hat. Sie gehen Ihren Weg. Sie sind gerecht und streng, Sie werden Deutschland aus dem Sumpf der ewigen großen Koalitionen herausführen und dem Volk sein Land zurückgeben. Verstehen Sie?“

„Ja, die Rede hör ich wohl. Allein, mir fehlt der Glaube. Bin ich doch geworden, was ich bin, weil ich es immer verstanden habe, ganz unauffällig meinen festgesetzten Platz im Parkett einzunehmen. Ich werde über Ihre Empfehlung nachdenken. Es heißt ja schließlich nicht zu Unrecht, das Planungsbüro Wunsch und Wille sei die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Aber dem Volk sein Land zurückgeben. Wie Trump? Das, finde ich, geht zu weit. Abgesehen davon, dass das Volk ja gar nicht wüsste, was es mit dem Land anfangen sollte.“

„Hören Sie, Ihre Stunde ist gleich um. Wir sehen uns am nächsten Montag wieder, um 14 Uhr. Ich will Sie nicht mehr im königsblauen Anzug sehen. Auch nicht in Jeans. Kleiden Sie sich wie ein Mann aus dem Volk. Ihr Hemd wird nicht mehr weiß sein, wenn wir uns wiedersehen. Der Kragen bleibt offen. Frisurmäßig ist bei Ihnen ja wohl nichts mehr zu machen, daher möchte ich gerne sehen, wie Sie mit einem Sieben-Tage-Bart aussehen. Also: Nicht rasieren, bis nächsten Montag! Nun noch zu Ihrer Hausaufgabe. Sie schreiben als Gastautor einen furiosen Aufsatz für die Passauer Neue Presse und bereiten eine kurze Rede mit dem gleichen Tenor vor. Titel: Warum die SPD das alles nicht mehr mitmacht. Rechnen Sie erbarmungslos ab mit Ihrem Koalitionspartner, mit den Grünen, den Linken. Verwenden Sie darin mehrmals die Merkel-Reizworte „Volk“, „Vaterland“, „Deutschland“, „Deutsche“, „EU-Diktatur“, „Euro-Krise“ und „Impfwahnsinn“! Den Artikel schicken Sie mir spätestens am Samstag per E-Mail. Die Rede werden Sie nächsten Montag in diesem Raum frei halten. Wir machen eine Video-Aufzeichnung. Und nun wünsche ich Ihnen eine gute Woche. Auf Wiedersehen!“

(hier geht es weiter)