Am nächsten Morgen.

 

„So, Sabine. Stell‘ uns mal einen Kaffee ins Besprechungszimmer. Zeit für unser erstes Brainstorming!“

„OK, Boss. In zehn Minuten ist alles fertig. Flipchart steht schon drin. Ein paar Eddings habe ich auch gefunden. Kann also losgehen.“

Tatsächlich versammeln sich Wilbrecht Wille, Wunnibald Wunsch und Sabine Gnadenlos-Hempel wenige Minuten später im Besprechungszimmer. Wille hat die Cognacflasche aus seinem Büro mitgebracht und drei große Schwenker, in die er jetzt großzügig eingießt. Dann erhebt er sein Glas und sagt:

„Dann woll’n wir mal! Auf den chancenlosesten Kandidaten aller Zeiten! Prost!“

„Ahhhhh! Der tut gut!“, grinste Sabine, und nach einer kleinen genießerischen Pause, den Aromen von  Sandelholz, Wacholder und Vanille im Abgang nachschmeckend, ergriff sie wie immer als Erste die Initiative.

„Ich habe ja das Wichtigste mitgehört. Kanzler will er also auf keinen Fall werden. Das ist gar nicht gut. Was er sonst will, weiß er auch nicht. Das ist auch nicht gut, erklärt aber, warum er nicht Kanzler werden will.“

„Ja, stimmt“, warf Wunnibald ein. Er braucht jemanden, der eine Idee hat, damit er den und seine Idee niedermachen kann.“
„Kannst du dich ja zur Verfügung stellen, Wunni“, grinste Wilbrecht Wille.

„Halte ich für Quatsch. Wo hat er denn in den letzten drei Jahren jemanden, der eine Idee hatte, niedergemacht?“

„Nun ja, Sabine, das kann natürlich auch daran gelegen haben, dass in dieser Koalition in den letzten drei Jahren niemand eine Idee hatte …“

Sabine runzelte kurz die Stirn. „Das heißt, dass wir nicht einmal wissen, ob er überhaupt in der Lage ist, a) eine Idee zu erkennen, und b) jemanden, der eine Idee hat, niederzumachen. Das scheint mir sehr riskant. Schließlich haben wir keine Chance, das zu überprüfen, bevor Union und Grüne ihre Kandidaten ausgekungelt haben. Dann aber ist es zu spät. Das wird schwer. Das wird sehr schwer mit dem. Das sage ich euch!“

„So kommen wir nicht weiter.“ Wille nahm einen zweiten Schluck. „Ist dir sonst noch was in Erinnerung geblieben, Sabine?“

„Sein Vergleich mit der Miss-Wahl. Der war richtig gut. Entblößen und zur Schau stellen, statt bedeckt halten. Und kein dummes Zeug reden, statt viel dummes Zeug reden. Das kam bei ihm aus dem Herzen. Das war ein Aufschrei! Er ist überzeugt, wenn er sein dürfte, wie er ist, wenn er das Mäntelchen des Biedermannes ablegen dürfte, wenn er auch mal eine intelligente Rede halten dürfte, ohne Rücksicht auf alle, die sich im Schatten seiner überragenden Intelligenz und Eloquenz diskriminert fühlen …“

„Stimmt. Das war stark. Da war er voll emotional. Das könnten wir ausbauen. Das hat Potential.“

„Nein, Wunni, das können wir nicht ausbauen“, entgegnete Wille. „Wenn wir das nämlich ausbauen, und wenn er das so rüberbringt, dann schwebt er in höchster Gefahr, die Wahl zu gewinnen – und genau das soll ja vermieden werden.“

Sabine schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann fragte sie in die Runde: „Na und? Wo ist das Problem? Vielleicht kommt er ja auf den Geschmack, wenn die Umfragwerte hochgehen, wenn er merkt, dass er ankommt?“

„Du bist eine Hexe, Sabine.“ Wunnibald Wunsch gefiel die Idee. „Nach gefühlt 200 Jahren CDU Vorherrschaft tritt Wunsch & Wille auf den Plan und erschafft den Wechsel, mit dem niemand mehr gerechnet hat, und das mit einem Kandidaten, den niemand auf dem Zettel hatte! Grandios.“

Nun trat Stille ein. Wilbrecht schwieg zu dieser Idee. Schweigen, so die Regel bei Wunsch & Wille, bedeutet „Nichtzustimmung“. Nichtzustimmung ist weniger als Ablehnung, aber mehr als Enthaltung. Es hatte keinen Zweck, weiter zu reden, wenn Wilbrecht schwieg. Also schwiegen auch Sabine und Wunnibald, vermieden es dabei aber strikt, Wilbrecht fragend anzuschauen. Das brachte ihn a) in Rage und b) ganz und gar aus dem Konzept, wenn er sich gedrängt fühlte, und von fragenden Blicken fühlte er sich gedrängt. Das war sein wunder Punkt. Da brach seine Hülle aus Souveränität und Gelassenheit zusammen. Und wenn das geschah, konnte er sich hoffnungslos besaufen und tagelang nicht im Büro erscheinen. Das konnte man sich jetzt, zum Auftakt der Kampagne nicht leisten.

Endlich eine Regung. Wille stand auf, ging ans Fenster, schaute lange hinunter auf die Straße, kam dann zurück und verkündete:

„Nein. Da lassen wir die Finger von. Wir machen unseren Job wie vereinbart. Keine Widerrede!“

Energisch schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte, griff dann nach dem Cognacschwenker, trank das Glas aus und schenkte sich noch einmal nach. „Wollt ihr auch noch einen?“
Da sich keine Widerspruch regte, schenkte er auch Sabine und Wunnibald einen kräftigen Schluck nach, prostete den beiden zu und rief dann ernsthaft zur Ordnung.

„Wir haben nicht soviel Zeit, um uns in Wunschträumen zu verzetteln. Ich schlage vor, dass wir unsere bewährte Methode anwenden und erst einmal aus dem politischen Personal einen Typen auswählen, nach dessen Bilde wir unseren Kandidaten erschaffen wollen. Wer fällt euch da ein? Ich schreibe mit. Und wie immer gilt: Spinnen ist erlaubt – Kritik erst, wenn uns nichts mehr einfällt.“

„Dann schreib‘ doch gleich mal Willy Brandt hin“, eröffnete Wunnibald Wunsch das Brainstorming.

Nach einer Viertelstunde sah das Ergebnis so aus:

(Bild 1 – Flipchart 1)

 

(Bild 2 – Flipchart 2)

 

„So Leute“, verkündete Wilbrecht Wille, „jetzt schlägt die Stunde der Demokratie. Freie, gleiche und geheime Wahl! Jeder nimmt sich einen Zettel und schreibt drei von diesen Namen drauf. Die Reihenfolge spielt keine Rolle. Der Name mit den meisten Stimmen hat gewonnen. Abgabe – sagen wir in zehn Minuten. Ich muss mal.“

Als Wilbrecht den Besprechungsraum in Richtung „M“ verlassen hatte, fragte Sabine: „Wollen wir uns abstimmen? Ein bisschen Spaß reinbringen? Ich nehme den Gauland, und du nimmst auch den Gauland, dann hat der schon mal zwei Stimmen. Was hältst du davon?

„Gnadenlose Hempel! OK, ich bin dabei. Und jetzt still, er kommt schon wieder zurück …“

Wilbrecht nahm Platz, zückte seinen Stift und schrieb stumm seine drei Namen auf. „Seid ihr auch fertig? Dann her mit den Zetteln!“

Die Auszählung brachte ein überraschendes Ergebnis:

3 Stimmen für Willy Brandt
3 Stimmen für Alexander Gauland
1 Stimme für Joe Biden

1 Stimme für Angela Merkel
1 Stimme für das Mittelding aus Trump und Biden

„OK. Stimmengleichheit für Brandt und Gauland. Dazu 1,5 Stimmen für Biden, 1 Stimme für Merkel und eine halbe für Trump. Ein verrücktes Ergebnis. Aber das kommt halt raus, bei der Demokratie. Schreiten wir zur Stichwahl. Bringst du uns die Würfel, Sabine?“

(Fortsetzung hier)