Die Wunde, die mit der Parole von der „Delegitimierung des Staates“ in mein staatsbürgerliches Denken gerissen wurde, will einfach nicht wieder verheilen. Pochende Schmerzen, die mich tags begleiten und nachts nicht schlafen lassen, verlangen nach mehr als nur einem betäubenden Schmerzmittel. Den Arzt, der diese Wunde zu heilen verstünde, habe ich nicht gefunden. Nun bin ich dabei, mich selbst zu therapieren, Selbstheilungskräfte zu aktivieren, die Wunde zu säubern, keimfrei zu halten und regelmäßig den Verband zu wechseln.
Die medizinisch-biologische Betrachtungsweise hätte zwar viele beeindruckende Analogien zu bieten, doch führt dies leider auch weg vom eigentlichen Problem, das ein ganz und gar mentales Phänomen ist, nämlich der reflexhaft eingeübte Irrtum, über den Iwan Petrowitsch Pawlow 1905 unter der Bezeichnung „Konditionierung“ als Erster berichtete. Sein Konzept, im zeitlichen Zusammenhang mit der Präsentation von Futter ein Glöckchen erklingen zu lassen, bis das Glöckchen alleine den bis dahin nur mit dem Futter verbundenen Speichelfluss beim Hund auslöste, gehört heute zum Allgemeinwissen.
Leider kommen nur die wenigsten Menschen auf die Idee, aus dieser Episode aus dem Leben des russischen Forschers weiterführende Schlüsse zu ziehen. Die Betriebssysteme von Menschen und anderen Säugetieren ähneln sich nicht nur sehr stark, sie sind in weiten Teilen identisch. Seriöse Hirn- und Verhaltensforscher werden das bestätigen. Wer will, findet dies allerdings auch durch einfache Alltagsbeobachtungen heraus. Es muss gar nicht das Extrembeispiel jener Frau sein, von der ich berichten kann, die als Kind die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs in München erlebte und noch fünfzig Jahre später beim Ertönen der Sirenen, selbst wenn es sich um einen angekündigten Probealarm handelte, von Panikattacken geschüttelt wurde. Es genügt, Ängste und Abneigungen seiner Mitmenschen zu registrieren und den Versuch zu unternehmen, das prägende Ereignis aufzudecken, um den Wirkungsmechanismus der Konditionierung zu verstehen. Auch daraus sollten weiterführende Überlegungen hervorgehen, nämlich mit der Frage,
ob es neben den „natürlichen“ Konditionierungen, wie im einfachsten Fall der Angst vor der Wespe, die ja erst nach dem ersten schmerzhaften Stich entstanden ist (vorher war die Wespe für das Kind ja nur ein interessantes Objekt, das es zu erhaschen versuchte),
eben auch gezielt von Menschen für Menschen entwickelte Konditionierungen geben könnte, und wie diese sich auf den freien Willen der Menschen auswirken.
Damit komme ich zum Titel dieses Kommentars, denn darin verbirgt sich eine mächtige Konditionierung, nämlich die der vermeintlich unüberwindlichen Trennungslinie zwischen dem Staat, der als Macht, oft als unberechenbare Macht, zu existieren scheint, und dem Volk, das diesem Staat ausgeliefert und unterworfen ist.
Wir sprechen vom Staat, und meinen die Polizei, die Gerichte, die Parlamente, die Regierenden. Immer noch, wenn auch seltener, bringen wir das Land, das Staatsgebiet, mit dem Staatsbegriff in Verbindung, aber fast nie realisieren wir, dass zum Staat unabdingbar auch das Staatsvolk gehört, und dass überhaupt erst aus Staatsgebiet, Staatsvolk und staatlicher Ordnung ein Staat gemacht werden kann.
Es ist vielleicht am einfachsten, sich den Staat wie ein Haus vorzustellen.
- Grund und Boden, das Staatsgebiet, als Fundament, auf dem alles aufbaut.
- Die hochgemauerten Geschosse als das Volk, das sich – vom Fundament getragen – eingerichtet hat.
- Darüber das Dach, vom Volk errichtet, als Schutz und Ordnungsrahmen: die Verfassung und die Verfassungsorgane.
Nur das Ganze ist der Staat,
und damit mehr als die Summe seiner Teile.
Volk und Staat bilden kein Gegensatzpaar. Dies würde den Staatstorso aus Staatsgebiet und Ordnungsrahmen sinnlos und wirkungslos alleine stehen lassen. Wie töricht wäre es, ein Konstrukt zu errichten, das lediglich aus Dachstuhl und Fundament bestünde?
Betrachten wir das, was viele schon für den Staat erachten, nämlich den Ordnungsrahmen, den sich das Staatsvolk entweder gegeben hat, oder den es als sinnvoll, zweckmäßig und gerecht betrachtet, nun etwas genauer.
In der Analogie zum Haus, heißt es vom Poeten, das Dach ruhe auf den Mauern. Der Statiker sieht das anders. Er ist überzeugt, das Dach lastet auf den Mauern. Beide habe auf ihre Weise recht, nur: Was sagen die Mauern dazu?
Bei den üblichsten Dachkonstruktionen, dem Sparrendach und dem Kehlbalkendach, sind es die gegenüberliegenden Außenmauern des Gebäudes, die nicht nur den seitlichen Abschluss des Gebäudes bilden, sondern auch die Last des Daches aufzunehmen haben. Relativ zum Betrachter gesehen also die linke und die rechte, bzw. die vordere und die hintere Außenmauer.
Manchem mag die Analogie zu weit gehen, bzw. an den Haaren herbeigezogen erscheinen, ich verwende sie dennoch: Nähme man einem Haus eine seiner tragenden Außenmauern weg, das Dach, seines Haltes beraubt, würde wegkippen und einstürzen.
Nun wird kein Dach in der Lage sein, eine tragende Außenmauer zu schleifen, so wie auch ein einmal geschaffener Ordnungsrahmen nicht in der Lage wäre, einen Teil des Staatsvolks durch Einengung dieses Rahmens aus dem Staatsvolk auszuschließen. Es können nur die Bewohner des Dachgeschosses auf die Idee kommen, die Mauer, die sie trägt, zu zerstören, und es sind die politisch aktiven Personen, denen die Pflege des Ordnungsrahmens überantwortet wurde, die Kritik an ihrem durchaus nicht unumstrittenen Handeln dadurch unterbinden wollen, dass Kritiker – unter Veränderung des allgemein akzeptierten Ordnungsrahmens – aus dem Staatsvolk ausgegrenzt und als „rechts“ markiert werden. Das funktioniert natürlich mit „links“ auch, findet allerdings derzeit nicht statt.
Der gegenwärtig allseits beliebte Kampf gegen rechts entspricht dem Versuch, eine tragende Außenmauer wegzunehmen und stattdessen im Inneren, wo bisher offene Räume verfügbar waren, eine Brandmauer einzuziehen, unter der die bisherige Qualität des Wohnens im Haus erheblich leidet, ja sogar manche Räume unbenutzbar werden, weil sie nur noch über Fenster und Balkone erreicht werden können.
Das Dach findet allerdings auf der neu errichteten Brandmauer keinen ausreichenden Halt. Konstruktionsbedingt stützt es sich weiter auf den beiden Außenmauern ab und gerät umso mehr in Schieflage, je weniger von „rechts“ übrig bleibt. Dass „links“ dabei entlastet wird, sollte kein Grund zur Freude sein, auch nicht für die Linken, sondern Grund zur Sorge um das Haus, um den Staat als Ganzes, der unter der asymmetrischen Belastung kollabieren muss, wenn die belastbare Konstruktion nicht wieder hergestellt wird.
Demokratie versucht das Ideal des Interessenausgleichs innerhalb des Volkes dadurch zu erreichen, dass Rechte und Pflichten einigermaßen gleichmäßig verteilt werden. Das heißt: Wo eine Mohammed-Karikatur als Ausdruck der Meinungsfreiheit angesehen und mit allen rhetorischen Mitteln verteidigt wird, muss dies auch für eien Papst-Karikatur gelten und erst recht für eine profane Karikatur mit der ein Politiker, gleich welcher Partei, der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Wo die Kommunen verpflichtet werden, Unterkünfte für Flüchtlinge, Wirtschaftsmigranten und sonstige Zuwanderer bereitzustellen, muss diese Verpflichtung auch für die Wohnraumbeschaffung der schon länger hier Lebenden geltenden. Wo Hinz sich für die deutsche Beteiligung am Ukraine-Krieg aussprechen darf, muss sich Kunz auch gegen jede Hilfe für die Ukraine aussprechen dürfen. Es gäbe der Beispiele mehr, doch besteht keine Not, all die offenkundigen Schieflagen hier aufzuzählen, bei denen auch noch die subtilste Kritik an der Regierung mit der Einordnung als „rechts“ geahndet wird und unangenehme Folgen nach sich zieht.
Doch, doch! Glauben Sie mir. Es geht bereits um die subtilste Kritik.
Die Grüne Lisa Paus, derzeit Bundesfamilienministerin, hat es uns ebenso wissen lassen, wie Thomas Haldenwang, der bundesoberste Schutzherr des Grundgesetzes.
Originalton Paus: „Wir wollen dem Umstand Rechnung tragen, dass Hass im Netz auch unter der Strafbarkeitsgrenze vorkommt. Viele Feinde der Demokratie wissen ganz genau, was auf den Social-Media-Plattformen gerade noch so unter Meinungsfreiheit fällt. Wir als Bundesregierung werden da, wo nötig, Gesetze überprüfen und bei Bedarf auch nachjustieren.“
Thomas Haldenwang, während einer Pressekonferenz zum Thema „Aktuelle Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus: „Ja, es ist richtig, das hat keine strafrechtliche Relevanz, es ist aber trotzdem staatswohlgefährdend.“
Und während Sie diesen Text lesen, sind spezialisierte Anwälte dabei, im Internet nach Meinungen zu suchen, aus denen sich eine Beleidigungsklage oder eine Anzeige nach einem jener neuen Gesetze zum Schutz der Demokratie ableiten ließe, die seit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz in unseren Ordnungsrahmen eingefügt wurden. Während Sie das lesen, ist eine von mir nicht mehr überschaubare Zahl von Meldestellen bereit, die Aussagen so genannter Whistle Blower anzunehmen, die glauben Munition für den Kampf gegen rechts entdeckt zu haben, und mit dem neuen EU-ropäischen Digital Services Act sind es nun die staatlich lizenzierten „Trusted Flagger„, deren Löschbegehren die Sozialen Medien sofort nachzukommen haben.
Ich habe, um es wenigstens einmal so hart zu formulieren, von diesen „strafrechtlich nicht relevanten Verfolgungsgründen“ die Schnauze voll.
Was heißt dass denn, strafrechtlich nicht relevant?
Das heißt, vom bestehenden Recht nicht zu beanstanden.
Wo Staatsorgane aber gegen Staatsbürger vorgehen, ohne dafür eine rechtliche Grundlage zu haben, handelt es sich um Rechtsbruch, und weil dieser Rechtsbruch die staatliche Ordnung insgesamt verletzt, handelt es sich auch um Verfassungsbruch.
Wenn Frau Paus daraus die Notwendigkeit ableitet, Gesetze zu überprüfen und nachzujustieren, was seit Jahren zur Absicherung einer offiziell noch unbenannten Ideologie dient, ich nenne es einmal den „Grünen Merkelsozialismus“, dann steht ihr diese Möglichkeit zweifellos offen. Sie muss sich aber die Frage gefallen lassen, ob sie damit noch fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht und ob danach (unter anderem) von Artikel 5, Meinungsfreiheit, mehr übrig bleibt als dieses legendäre Zitat, das Franz-Josef Strauß zugeschrieben wird:
„Jeder darf hier meine Meinung sagen“?
Wo, wie beim neuen Digital Services Act der EU, für den Urheber gelöschter Beiträge nicht einmal mehr ein begehbarer Rechtsweg zu erkennen ist, kann nur noch von einem staatlich festgesetzten und jederzeit weiter einengbaren Meinungskorridor gesprochen werden, der eben nicht nur die aktive Äußerung missliebiger Meinung zuverlässig unterbindet, sondern eben auch das passive Recht, sich aus öffentlich zugänglichen Quellen zu informieren, ad absurdum führt, weil die staatlich privilegierte, privatisierte Zensur bestimmt, was öffentlich zugänglich ist und was nicht.
Ich habe weder im Dritten Reich noch in der DDR gelebt, kann daher nicht feststellen, welche Unterschiede im Ausmaß der Zensur gegenüber der Bundesrepublik im Spätherbst 2024 bestanden haben mögen, dass wir heute diesbezüglich in einem Zustand leben, den sich die Väter des Grundgesetzes nicht zum Ziel gesetzt hatten, das meine ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erkennen zu können.
Als ich diesen Text gestern Abend fertiggestellt hatte, fand ich das neueste Video von „Achtung Reichelt“. Julian Reichelt beklagt den gleichen Zustand, deckt dabei ein grünes Netz der Zensur auf, das wirklich erschreckend ist, und er macht das so gut, dass Sie sich dieses Viedeo unbedingt ansehen sollten.