
PaD 46 /2024 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad 46 2024 Wie lange kann Putin noch
Der Vergleich mag stark hinken, doch Putins Agieren erinnert mich – nicht im Detail, wohl aber per Saldo – an Mahatma Gandhis gewaltfreien Widerstand, zu dem allerdings auch dieses Zitat gehört, das nicht vergessen werden sollte:
Wo man nur die Wahl hat zwischen Feigheit und Gewalt,
würde ich zur Gewalt raten.
(Mahatma Gandhi)
Bislang zeichnete sich Putins Präsidentschaft dadurch aus, dass er immer wieder einen Ausweg außerhalb der vielen Dilemmas gefunden hat, in denen der Westen ihn grillen wollte. Der Aktualität halber sei erinnert, dass es Putin war, der Syrien vor elf Jahren vor dem Einmarsch westlicher Verbände bewahrt hat, indem er eine friedliche Lösung zur Entschärfung von Assads Chemiewaffen gefunden hat, dass er es war, der dann 2015 den Islamisten in Syrien Einhalt geboten hat, was seinerzeit den USA bis zur grotesken Lächerlichkeit einfach nicht gelingen wollte.
Nun aber hat Putin Syrien verloren und mit Syrien auch seine Marinebasis am Mittelmeer.
Wenn auch Schiffe in der modernen Kriegsführung unter in etwa ebenbürtigen Partnern zu sehr verletzlichen Waffen geworden sind, weil sie groß und langsam und schwer zu verstecken sind, also für Präzisionswaffen leichte Ziele darstellen, ist dieser Verlust von nicht zu unterschätzender strategischer Bedeutung. Der Tatsache, dass die neuen Machthaber in Syrien angeblich über den Verbleib der russischen Marine verhandeln wollen, ist keine allzugroße Bedeutung beizumessen. Der/die/das HTS ist kein eigenständig agierender Machtfaktor und zu solchen Entscheidungen nicht befugt.
Es stellt sich im Nachhinein noch einmal die Frage, warum Putin seinerzeit nicht vollends aufgeräumt hat. Warum er die Islamisten und Djihadisten nicht auch aus ihrer Hochburg Idlib vertrieben hat, von wo aus sie nun unter der Fahne einer neuen Kriegerkoalition (HTS) in wenigen Tagen ganz Syrien überrollten. Es stellt sich die Frage, warum er es geduldet hat, bzw. Assad hat dulden lassen, dass die USA im Nordosten des Landes einen Militärstützpunkt eingerichtet und unter dessen Schutz syrisches Erdöl gefördert und auf eigene Rechnung verkauft haben.
Es stellt sich aktuell die Frage, warum er nicht ein zweites Mal den Islamisten Einhalt geboten und damit die Okkupation syrischer Gebiete durch die Türkei und Israel unterbunden hat. So, wie alles abgelaufen ist, war es ein abgekartetes Spiel, an dem auch die Führung der syrischen Streitkräfte beteiligt war, und wahrscheinlich hintergangen wurde, denn das syrische Militär wurde, kaum dass die Gotteskrieger Damaskus eingenommen hatten, von Israel innerhalb von zwei oder drei Tagen durch massive israelische Luftschläge auf alle militärischen Einrichtungen radikal entmannt, womit den Generälen, die an diesem Putsch insofern beteiligt waren, als sie sich durch Untätigkeit auszeichneten, jede weitere gestalterische Möglichkeit genommen wurde. Es gibt keine syrischen Streitkräfte mehr.
Das war Falle Nummer 1 – und die ist zu.
In der gleichen Falle sitzen zudem die Gotteskrieger, die durchaus annehmen durften, sollten sie das Assad-Regime vom Sockel stürzen, könnten sie die syrische Armee samt aller Waffen und Munition übernehmen und so zumindest gegenüber der Nachbarschaft in der Region ernsthaft wehrhaft erscheinen. Nun sitzen sie mit dem, was sie aus der Türkei mitgebracht haben, in Syrien, und sind auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen Erdogans ausgeliefert, der wiederum nicht einschreiten wird, wenn Netanjahu vom Süden her eine neue Grenzlinie ziehen wird. Nicht vergessen: Die „Sieger“ des Blitzkrieges sind Araber und quasi bereits die neuen „Palästinenser“, die es einzuhegen gilt. Es sind letztlich nur gewaltbereite, aber gegen überlegene Militärtechnik wehrlose Terroristen, die sich, wenn es zweckmäßig erscheint, auch wieder zusammentreiben lassen, wie einst von den Russen.
Das war Falle Nummer 2 – und die ist ebenfalls zu.
Christen, Aleviten, Kurden und Jesiden sitzen ebenfalls in der Falle – tiefer denn je zuvor. Erdogan und Netanjahu werden sich nicht selbst die Hände schmutzig machen, sondern es weitgehend den Gotteskriegern überlassen, wo der Platz der Minderheiten im islamischen Gottesstaat sein wird und wieviel Freiheit ihnen an diesem Platz noch bleiben wird.
Das war Falle Nummer 3 – Beifang zwar nur, aber dafür umso fester geschlossen.
Erdogan wird nun alles daran setzen, die drei Millionen syrischen Flüchtlinge,
die sich in der Türkei aufhalten, weil es diesen Milliardendeal mit Deutschland und der EU gab, sie an der Weiterreise zu hindern,
nach Syrien abzuschieben und wieder sich selbst, bzw. den Herren Gotteskriegern und der Scharia zu überlassen.
Am Rande: Dass deutsche Politiker dem deutschen Volk weißmachen wollen, die eine Hälfte der Million Syrer, die wir aufgenommen haben, würde bereits auf gepackten Koffern für die Heimreise sitzen, während die andere Hälfte wegen Wegfall der Aufenthaltsgründe zurückgeschickt werde, ist nicht mehr als ein lustiger Wahlkampf-Gag. Ich gehe davon aus, dass wir froh sein müssen, im Laufe der nächsten zwölf Monate nicht noch eine Million Syrer dazu zu bekommen.
Das ist Falle Nummer 4 – die gerade beginnt, sich zu schließen.
Über all dies werden im Wertewesten genüsslich Kommentare verbreitet, in denen die Schwäche Russlands thematisiert wird. Das reicht vom russischen Geheimdienst, der wieder einmal gar nichts mitbekommen hat, bis zur Häme über die Auszehrung des russischen Militärs durch den Ukraine-Krieg, die es unmöglich gemacht habe, auch noch in Syrien einzugreifen. Dazu kommen die Erzählungen über einen zögernden und zaudernden Präsidenten, der die Chance der militärtechnischen Überlegenheit, die für kurze Zeit bestanden hat, aber nicht mehr lange bestehen wird, nicht zu nutzen wagt.
Das ist Falle Nummer 5 – und die soll noch genauer betrachtet werden.
In dieser Falle sitzen prominent Wladimir Putin und sein in Dauerschleife Vergeltung androhender Medwedew, die nicht verhindern können, dass weiterhin von der Ukraine aus abgefeuerte westliche Raketen und Langstreckendrohnen aus wahrscheinlich ukrainischer Eigenproduktion, strategisch wichtige Raffinerien, Muntionslager, Flugplätze und weitere kritische Infrastruktur treffen und mehr oder minder erfolgreich demolieren.
War im Zweiten Weltkrieg die Weite Russlands noch ein überragender Vorteil für die Verteidiger, erweist sie sich jetzt als Nachteil. Es muss nicht mehr marschiert werden, um die wirtschaftlichen und politischen Zentren zu erreichen. Es genügt – nach einiger Vorarbeit – ein Knopfdruck, um weitreichende, treffsichere Waffen ins Ziel zu bringen. Da hilft es auch nichts mehr, dass wichtige Einrichtungen weit verstreut im Land angeordnet sind. Es sind alle jederzeit, ggfs. auch gleichzeitig zu erreichen. Im Gegenteil: Konzentration an wenigen, gut geschützten Orten, käme mit einem Bruchteil der Luftverteidigung aus, die Russland heute bräuchte, aber offenkundig nicht einmal da wirksam zusammenziehen kann, wo die ATACMS und Storm Shadows und die Langstrecken-Drohnen ihre Ziele suchen.
Wenn auch die russische Propaganda versucht, diese Attacken nach Kräften herunterzuspielen und Berichte über das Ausmaß der Verluste zu unterdrücken: Der Krieg ist in Russland angekommen, und je länger er dauert, je mehr Gefallene zu beklagen sind, desto mehr wächst die Beunruhigung der Bevölkerung, desto mehr schwindet das Vertrauen in die Führung im Kreml. Das zwingt zu wachsenden Repressionen gegenüber so genannten „Defätisten“, was wiederum die Stimmung in der Bevölkerung verschlechtert. Die Tatsache, dass Russland sich erfolgreich gegen die westlichen Sanktionen stemmt, dass die Wirtschaft wächst, statt zu schrumpfen, hat andererseits jedoch eine starke Inflation, nahe der 30-Prozent-Marke ausgelöst, zu deren Abwehr die Zinsen massiv erhöht werden mussten, was wiederum zur Beunruhigung der Bevölkerung beiträgt.
Dem stellt der Kreml Berichte über seine Hyperschall-Wunderwaffen gegenüber.
Solche Berichte wären durchaus geeignet, Siegesgewissheit zu vermitteln, gäbe es denn dazu auch die Berichte über ihren kriegsentscheidenden Einsatz. Die fehlen aber. Was es gibt, sind Berichte über einzelne, erfolgreiche Nadelstiche mit diesen Waffen, die aber gegenüber der Tatsache verblassen, dass dieser Krieg – wie im ersten Weltkrieg bei Verdun – an einer sich kaum verändernden Frontlinie mit Artillerie und Infanterie entschieden werden wird. Das einzig Neue dabei sind die Drohnen, die jedoch von beiden Seiten mit ähnlichem Erfolg zum Einsatz kommen, ohne den Schwerpunkt der Kampfhandlungen am Boden verändern zu können.
Für den nicht erfolgenden, kriegsentscheidenden Einsatz der Hyperschall-Raketen kann es durchaus unterschiedliche, wenn auch ähnliche Gründe geben:
- Die verfügbaren Stückzahlen sind zu gering, um damit den Sieg über die Ukraine erzwingen zu können. Das ist m.E. die wahrscheinlichste Erklärung, die sich auch aus dem ersten Test-Einsatz der neuen Mittelstreckenrakete mit ihren hyperschallschnellen Wiedereintrittskörpern ableiten lässt. Es war möglicherweise die erste und vermutlich einzige bereits fertiggestellte Waffe dieses Typs, deren Einsatz mehr „Bluff“ als wirkliche Demonstration der Stärke gewesen sein könnte, und es war ein Einsatz, mit dem Zugleich die Bestände an Kinshal und Zirkon Raketen geschont wurden.
- Die verfügbaren Stückzahlen wären zwar ausreichend, um den Sieg über die Ukraine zu erzwingen, die Arsenale wären dann aber leergeschossen, sollte sich die NATO entscheiden, direkt in den Konflikt einzugreifen. Das ist m.E. die zweit-wahrscheinlichste Erklärung. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Putin diese Waffen erst vor sechs Jahren offiziell vorgestellt hat. Man muss sich klar machen, dass es sich um ein hochkomplexes System handelt, dessen Produktion vor allem zeitaufwändig ist und wahrscheinlich auch von der Verfügbarkeit von Elektronik-Elementen abhängt, die westlichen Sanktionen unterliegen und nur unter Schwierigkeiten auf Umwegen und zu sehr hohen Kosten beschafft werden können. Man muss bedenken, dass auch die Produktionszeiten und Kapazitäten westlicher Waffenschmieden bei High-Tech-Waffen einen nicht zu unterschätzenden Engpass für die Versorgung der Truppe darstellen.
- Die Stückzahlen sind kein Problem, das Problem sind die Ziele. Hyperschallwaffen sind teuer und sollten nicht für Ziele eingesetzt werden, die weitaus billiger wiederbeschafft werden können und deren Schadwirkung im Einsatz vergleichsweise gering ist. Träfe diese Vermutung zu, wäre darin eine eklatante Schwäche der russischen Aufklärung zu erkennen, der es nicht gelingt, mehr lohnende Ziele zu identifizieren als die wenigen, die bisher mit überlegenen Waffen getroffen wurden. So ist es für mich immer noch ein Rätsel, warum die Nachschublinien für westliche Militärgüter offenbar seit Kriegsbeginn ungestört funktionieren. Es ist richtig, dass Straßen und Eisenbahngleise relativ schnell wieder repariert werden können, doch was hindert Russland daran, Eisenbahnzüge, mit denen Munition und Waffen transportiert werden, anzugreifen, bevor der Nachschub auch nur in die Nähe der Front gelangt? Einzige Erklärung: Die Informationen fehlen. Dies wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Fähigkeiten russischer Spionage-Satelliten, die eigentlich den Weg von z.B. Abrams-Panzern vom Verladen an der US-Küste bis zum Eintreffen an der Kontaktlinie nahezu lückenlos verfolgen können sollten.
- Es gibt kein Problem mit Zielen oder Stückzahlen, es ist der strategische Ansatz, den Krieg so lange niederschwellig zu führen, also ohne die NATO zu direktem Eingreifen zu provozieren, bis im Bodenkrieg jene Fakten geschaffen sind, die von Anfang an geschaffen werden sollten. Die NATO tut jedoch ihrerseits alles, um diese Strategie zu sabotieren, indem die USA unter einem nicht mehr wirklich handlungsfähigen Präsidenten ATACMS Raketen ohne Reichweiten- bzw. Zielbeschränkung liefern, während Frankreich, unter einem nicht mehr wirklich handlungsfähigen Präsidenten und Großbritannien unter einem nicht mehr wirklich handlungsfähigen Premierminister Storm Shadow Marschflugkörper beisteuern, während es der nicht mehr wirklich handlungsfähige Bundeskanzler wahrscheinlich erst aus den Nachrichten der Tagesschau erfahren würde, sollten die ersten Taurus Marschflugkörper in Moskau eingeschlagen sein. Letzteres halte ich für ein absolut nicht auszuschließendes Szenario. Das Militär ist in keinem Land der Erde wirklich zu kontrollieren, und der Regierung Scholz bliebe letztendlich nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, die Lieferung also nachträglich als eigene, geheim gehaltene Entscheidung zu verkaufen.
Was auch immer die wahren Ursachen sein mögen, der Effekt der zögerlichen Kriegsführung bleibt bestehen und steigert sich mit jedem Tag, mit jedem gefallenen russischen Soldaten und mit jedem Treffer der Ukraine im russischen Hinterland. Gerade meldet RT wieder einen Angriff der Ukraine mit ATACMS-Raketen auf einen Militärflugplatz in Taganrog – und wieder hören wir, die Militärbehörde habe eine „Antwort“ angekündigt. Ankündigungen reichen aber nicht mehr.
Da kann auf der BRICS-Bühne in Kasan noch so viel Normalität demonstriert werden, es droht die Vereinigung der Falken in der russischen (Militär-) Führung mit einer aufgebracht-besorgten Bevölkerung gegen die strategische Linie des Präsidenten, die auch durch eine Verschärfung der Repressionen gegen die Kritiker nicht mehr eingefangen werden kann.
Die Frage, wie lange Putin noch so weitermachen kann, wage ich heute so zu beantworten:
Putins Uhr tickt.
Um die Situation noch zu beherrschen, wird er sich sehr bald, spätestens bis zum Frühsommer 2025, entweder auf Friedensverhandlungen einlassen und Trumps Vorstellungen dabei weitgehend entgegenkommen müssen, oder stattdessen die Strategie ändern und unter Einsatz aller Ressourcen die Niederlage der Ukraine schnellstmöglich herbeizuführen versuchen.
Im ersten Fall ist das Überleben Russlands und einer Ukraine mit fortbestehenen NATO-Beitritts-Ambitionen gesichert, der Konflikt mit dem Westen also nur vertagt,
im zweiten Fall wird die Ukraine untergehen, während die russische Föderation in Gefahr schwebt, als souveräne politische Kraft von der Weltbühne zu verschwinden.
Lässt Putin diese Frist verstreichen, dürfte sich seine Zeit im Kreml rapide dem Ende nähern, ohne dass sich an der grundsätzlichen Entscheidungssituation für die russische Führung etwas ändert, nur, dass die Entscheidung dann schon getroffen sein wird.