Über die Arschlöcher

Nichts für zarte Gemüter

Wer das Wort „Arschloch“ noch nie über die Lippen gebracht hat, der werfe den ersten Stein.

Natürlich gibt es auch Menschen, die das Wort nur gedacht, aber sich verkniffen haben, es auszusprechen. Die sollten mit dem Steinewerfen ebenfalls vorsichtig sein.

Wahr ist, dass „Arschloch“ das im deutschen Sprachraum wohl am häufigsten genutzte Schimpf- und Schmähwort ist, und das nicht zufällig, sondern weil es sich um eine sehr präzise Beschreibung handelt, die zumindest im Augenblick, in dem sie genutzt wird, absolut zutreffend ist. Denn es kommt damit zum Vorschein, was ebenfalls mit einem Wort bezeichnet wird, das womöglich noch öfter benutzt wird als „Arschloch!“, nämlich das, was das Arschloch anrichtet: Scheiße!

Nein, nein, nein! Scheiße lässt sich nicht so leicht durch mildere Bezeichnungen ersetzen.

Es ist nicht Unfug, nicht Dummheit, nicht nur ein Schaden oder ein Zeitverlust, es ist einfach nur scheiße, meist als Adjektiv gedacht und kleingeschrieben. Hier ist es nicht wie bei Henne und Ei, sondern eindeutig: Das Arschloch hat die Scheiße in die Welt gesetzt. Umgekehrt geht nicht.

Natürlich kommt es vor, dass, wer einen Blödsinn veranstaltet hat und mit dem unerwünschten Ergebnis konfrontiert wird, selbst mehr oder minder geknickt ausruft: „Scheiße!“, und sich damit selbst als Arschloch erkennt. Die Fälle, in denen jemand anderes die Scheiße verursacht, dürften jedoch weitaus häufiger anfallen, einfach weil es mehr „Andere“ gibt, denen man nicht immer ausweichen kann.

Ich erinnere mich an ein Ereignis aus meinem Berufsleben. Ich war gut in meinem Job. Ausgesprochen gut. Zudem waren die Ergebnisse meiner Arbeit ausgesprochen wichtig für den Fortschritt eines gigantischen Projekts. Da kam von außerhalb ein neuer Chef dazu, dessen Vorstellungen von der Arbeit eines Projektmanagers mit den tatsächlichen Anforderungen soviel zu tun hatten, wie Theresia Prelogs „Melodische Klavierübungen für Anfänger“ mit Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll.

Dieser Herr kam also daher und erklärte mir, wie ich – unter seiner Führung – zu arbeiten hätte. Ich erklärte ihm, was ich tue, wie ich es tue, und dass ich nicht beabsichtige, nach seinem Notenblatt zu spielen, weil ich dieses nämlich kenne und schon lange als nicht mehr zeitgemäß und vor allem in keiner Weise der Aufgabe angemessen betrachte. Wir haben eine Stunde lang mit wachsender Lautstärke gestritten. Als er dann keine Lust mehr hatte und nur noch triumphierend erklärte: „Ich will das aber so!“, war meine Antwort, mit annhähernd 120 dBA gebrüllt: „Sie sind ein Arschloch, Herr N.!“

Der Erfolg: Ich habe weitergearbeitet wie gewohnt, und das war gut so, und Herr N. hat sich von  mir ferngehalten. 

Ich bin auch heute noch der Überzeugung, dass es sich hier nicht um eine Meinungsäußerung gehandelt hat, auch nicht um eine Beleidigung, sondern um eine absolut zutreffende Tatsachenbehauptung. Natürlich gestehe ich, dass ich mich in diesem Augenblick nicht unter Kontrolle hatte, doch soll dies nicht als Entschuldigung dienen. Ich war bis aufs Blut gereizt und der Satz entsprach vollständig dem, was sich im Laufe des Streitgesprächs zur Erkenntnis verdichtet hatte.

Heute, 40 Jahre später, begegnen mir fast täglich in den Medien Menschen, deren Überzeugungen und Pläne ich für noch weniger zielführend halte als die Klavierübungsstücke des Herrn N., dies noch dazu in einer Penetranz, die weit über die des Herrn N. hinausgeht. Menschen, dumm und boshaft dazu, verbohrt und ignorant, voller Dünkel und resistent gegen jegliches Argument, das nicht in ihr Weltbild passt.

Und was tue ich, statt sie als Arschlöcher zu betiteln?

Ich verschwende meine Zeit damit, lange und umständliche Formulierungen zu ersinnen, diese mit aufsteigendem Brechreiz in den Konjunktiv zu heben, dem Ganzen mit einem Fragezeichen die Aussagewirkung zu rauben, in der Hoffnung, meine Leser würden schon verstehen, und meine Überwacher fänden den Punkt nicht, an dem der archimedische Hebel anzusetzen wäre, um meine Artikel über die Strafbarkeitsgrenze zu wuchten.

Entschuldigung, aber das ist scheiße.

Natürlich war das immer schon so. Nur eben anders.

Das „Arschloch!“ am Stammstisch oder auf der Fußballtribüne wurde entweder ignoriert, weil jeder wusste, wie es gemeint war, oder es endete in einer Prüglei und schlimmstenfalls in einer nicht enden wollenden Familienfehde, nahe an der Blutrache. Mit dem „Arschloch!“ in der Politik war es ähnlich. Entweder wurde es unter derengleichen ignoriert („Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub.“ Joschka Fischer adressiert an den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen), oder es geht als Beleidigung vor Gericht. (Weitere Fälle bitte selbst googeln)

Aber es ist ja heute nicht mehr nur das Arschloch. Es ist auch längst nicht nur die Beleidigung oder die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung  der Repräsentanten des Staates. Das Minenfeld ist inzwischen prinzipiell über das gesamte Feld der Kritik  an der Innen- und Außenpolitik gespannt und wird von vermutlich inzwischen tausenden nichtstaatlichen Organisationen betreut,  von denen viele allerdings ohne Geld aus den Haushalten des Bundes, der Länder und der EU kaum lebensfähig wären. Die Kanone, mit der da auf Spatzen geschossen wird, trägt den schönen Namen „Desinformation“, und Desinformation darf nicht sein, weil Desinformation an den Grundfesten der Demokratie nagt.

Natürlich sollte man diese Organisationen nicht beim Namen nennen, wenn man sich an ihrem Treiben und ihrer Finanzierung stört. Da könnte ganz schnell eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ins Haus flattern. .Natürlich darf man auch nicht sagen: „alle“, weil sich da schnell jemand eingeschlossen und beleidigt fühlt. Man darf auch nicht sagen, man dürfe überhaupt nichts mehr sagen, weil das ein direkter, desinformativer Anschlag auf  Artikel 5 des Grundgesetzes wäre, und das Wenige, was man nicht sagen dürfe, eben dort schon ausgeführt ist. 

Mir geht schon lange die Frage durch den Kopf, was denn wohl mit dieser Republik geschehen würde, wenn wirklich jeder alles sagen, schreiben und senden dürfte, was ihm so durch den Kopf geht. Durchaus auch Beleidigungen, nur eben keine üble Nachrede (Verleumdung) und keine falschen Tatsachenbehauptungen. Selbstverständlich sollte man auch sagen dürfen, dass Lilli ein Mann ist und voriges Jahr noch Willi hieß, wenn das wahr ist.

Ich will keine weiteren Beispiele anführen. Ich will meine Vision von Meinungsfreiheit ausbreiten. Die ist ganz, ganz einfach:

Es würde sich fast nichts ändern.

  • Die großen, meinungsbildenden Medien würden unverdrossen weitermachen wie bisher und der Großteil der Deutschen würde ARD, ZDF, BILD, ZEIT und SPIEGEL weiterhin ihr Vertrauen schenken. 
  • Die großen Social Media Plattformen würden ihre Algorithmen nicht verändern und weiterhin die guten Inhalte nach oben und die schlechten nach unten schieben, sie würden nur nicht mehr nach zu löschenden Inhalten fahnden, weil die Löschpflicht entfallen ist.
  • Die alternativen Medien würden die neue Freiheit genießen und durchaus etwas pointiertere Ausdrucksformen finden, auch jene, deren Betreiber bisher fürchten mussten, im Bademantel keine gute Figur zu machen.
  • Die Faktenchecker werden weiterhin Faktenchecken und dafür irgendwie honoriert. Was sie herausklamüsern wird weiterhin von den großen, meinungsbildenden Medien veröffentlicht oder als Basis für deren eigene Berichte genutzt.
  • Die allenthalben aus dem Boden geschossenen Meldestellen werden weiter existieren, weil die Stellen in den Meldestellen nun einmal geschaffen sind und weil weiterhin Meldungen eingehen, die selbstverständlich weiterhin weitergeleitet werden, halt nicht mehr an die Social Media Plattformen, sondern nur noch an staatliche Stellen, wo sie letztlich summarisch zur Beschreibung der Bedrohungslage in den Berichten der Verfassungsschutzämter und des BKA zu finden sein werden.
  • Spezialisierte Abmahnanwälte werden sich flugs ein anderes Betätigungsfeld suchen. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, werden eine gewisse Entlastung feststellen. 
  • „Beleidigte“ und „Delegitimierte“ werden sich ganz schnell damit abfinden, dass ihr Gemütszustand niemanden ernstlich interessiert und sich teils nützlichen, teils unnützen anderen Beschäftigungen hingeben.

 

Ist es das wert, dafür die Meinungsfreiheit vollinhaltlich wieder herzustellen?
Wer hat denn etwas davon, außer vielleicht ein paar Tausend Spinner?

Irgendwie ist es wie mit der Sommerzeit. Es waren bestimmt keine begnadeten Wissenschaftler, die diesen Zirkus in die Welt gesetzt haben, angeblich oder vermeintlich um Energie zu sparen. Aber wenn solche Gesetze und Regelungen erst einmal in der Welt sind, findet sich immer ein Grund, sie für alle Ewigkeit beizubehalten. Die Sommerzeit wurde 1996 von der EU einheitlich für alle Mitgliedsstaaten beschlossen. Schon 22 Jahre später, 2018, hat die EU beschlossen, die Sommerzeit wieder abzuschaffen, aber geschafft hat die EU das nun seit sieben Jahren nicht, und ich wette, sie wird es auch in den nächsten sieben Jahren nicht schaffen. 

So lange in Deutschland jene Mehrheit erhalten werden kann, die von der Enge ihres Käfigs keine Ahnung hat, weil man sich, wie das gutmütige Vieh auf der Weide, gar nicht erst – igittigitt – in die Nähe des Elektrozauns begibt, der das Ende der ihnen zugestandenen Freiheit weit vor dem Wirksamwerden von Kants Kategorischem Imperativ markiert,  so lange wird sich zum Guten und Besseren nichts mehr ändern. Es funktioniert doch immer noch.

Wie der Hund den Stein zu beißen, der ihn am Kopf getroffen hat, ist töricht. Nicht der Polizist, nicht der Staatsanwalt, nicht der Richter sind es, die sich ausgedacht haben, zu tun, was sie tun.

Es ist Unsere Demokratie, die das hervorgebracht hat.

Ursache und Wirkung. Henne und Ei.