Taurus und der Kriegseintritt

Es ist keine Frage der Rechtslage.

Zwischen Staaten gilt am Ende die Rechtsauffassung des Siegers. Da können sich die Experten im stillen Kämmerlein oder bei Lanz in der Talkshow vorher noch so schöne juristische Argumentationen einfallen lassen: Ob die nachher noch von Belang sind, ist vollkommen offen.

Das gilt übrigens schon für die Einordnung des Konflikts. Es kann sich am Ende um eine erfolgreiche „Militärische Sonderoperation“ gehandelt haben, aber ebenso um die siegreiche Verteidigung gegen einen „Völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“, oder, um auch das nicht außer Acht zu lassen, um einen Krieg, in dem die Ukraine stellvertretend für den Westen für eine maßgebliche Schwächung Russlands sorgt, um einer anderen, größeren Auseinandersetzung vorzubeugen oder sie möglich zu machen.

Das alles ist noch nicht festgeschrieben, die Seiten in den Geschichtsbüchern sind noch leer.

In den Kriegstagebüchern dürften auf beiden Seiten hohe Verluste an Menschen und Material verzeichnet sein, und in der Fortschreibung von Geländegewinnen und Verlusten ein inzwischen relativ deutlicher Vorteil für die russischen Streitkräfte. Zudem ist dort abzulesen, dass sich die wesentlichen Kampfhandlungen auf den inzwischen Russland beigetretenen Gebieten der der „ehemaligen Ukraine“ und deren näherem Umfeld abspielen, wobei es in größerem Umfang luftgestützte russische Angriffe auf Anlagen der Energieversorgung, Waffenfabriken und militärische Logistikeinrichtungen im ukrainische Hinterland und in kleinerem Umfang luftgestützte ukrainische Angriffe auf Flugplätze, Raffinerien, Tank- und Munitionslager im russischen Hinterland gibt.

Russland bezieht Waffen und Munition überwiegend aus eigener Produktion, zum Teil von befreundeten Staaten. Die Ukraine bezieht Waffen und Munition überwiegend von westlichen Staaten und in geringem Umfang aus eigener Produktion. Die Ambitionen der jeweiligen befreundeten Staaten dürften sich ziemlich ähnlich sein. Es gilt, der Waffenindustrie Gewinne aus Exportgeschäften zu ermöglichen. Die Unterschiede finden sich in der Finanzierung. Westliche Waffenlieferungen werden im Wesentlichen aus den Staatskassen (vor-) finanziert, um der Ukraine nach ihrem Sieg die Rechnungen zu präsentieren, die Rechnungen für Waffenlieferungen an Russland werden von Russland in Form von Geld und/oder Naturalien selbst beglichen.

Die bisherige, gegenseitige Einschätzung dieser Waffengeschäfte sieht so aus, dass man die Lieferungen für den Gegner zähneknirschend zur Kenntnis nimmt und gelegentlich Drohungen gegen die Lieferanten ausstößt, aber in den Lieferungen noch keine aktive Teilnahme am Krieg sehen will. Dieses „Nicht-so-sehen-Wollen“ wird insbesondere von Russland gepflegt, wobei durch die schrittweise Zurücknahme so genannter roter Linien auch ganz klar demonstriert wird, dass Russland an einer Ausweitung des Konflikts kein Interesse hat, sondern (noch) überzeugt ist, die eigenen Kriegsziele trotz der massiven westlichen Unterstützung der Ukraine erreichen zu können.

Diese russische Siegesgewissheit konnte auch durch die Lieferung britischer und französischer Marschflugkörper der Typen Storm Shadow und SCALP (300 km Reichweite), sowie durch ATACAMS-Raketen (165 bis 300 km) und HIMARS-Werferraketen (bis 80 km) der USA nicht gebrochen werden. Auch die Tatsache, dass diese Waffen von der Ukraine ohne die Zuarbeit ausländischer Spezialisten bei der Zielbestimmung und -Programmierung nicht sinnvoll eingesetzt werden können, hat Russland nicht dazu bewegt, Großbritannien, Frankreich und die USA als aktive Kriegsteilnehmer anzusehen.

Dies ist insoweit leicht nachvollziehbar, als Kriegshandlungen Russlands gegen einen dieser Staaten zur Ausrufung des Bündnisfalles der NATO führen würden, womit Russland einer Übermacht gegenüberstünde, derer es sich nur noch durch den Einsatz von Atomwaffen erwehren könnte, wollte es nicht als Besiegter unter die Herrschaft der NATO-Allianz geraten.

Ob Russland die Lieferung von Taurus Marschflugkörpern immer noch ebenso beurteilen wird, muss unabhängig von den verbalen Reaktionen Moskaus auf die diesbezüglichen Zusagen von Friedrich Merz betrachtet werden.

Das erste Argument, Deutschland unterliege nach wie vor der Feindstaatenklausel der UN und dürfe daher ohne Zustimmung der UN von seinen ehemaligen Kriegsgegnern angegriffen werden, sollte es sich feindselig benehmen, fällt unter die oben erwähnte Irrelevanz der Rechtslage. Selbstverständlich würde ein russischer Angriff auf Deutschland von der NATO massiv beantwortet werden. Lediglich in einem kleinen Graubereich, wenn also z.B. nur ein einmaliger Warnschuss oder Vergeltungschlag – womöglich die Zerstörung der Taurus Produktionsstätte bei Schrobenhausen – erfolgen sollte, dem – angekündigt – keine weiteren Aktionen gegen Deutschland folgen, könnte auch die NATO zu dem Schluss kommen, diesen Schlag hinzunehmen, ohne die Eskalationsspirale in Gang zu setzen. Doch ist dies keineswegs sicher. Es gibt überall die Falken, die nur auf die Provokation warten, um das Signal zum Angriff zu geben.

Das zweite Argument, der Taurus könne nur mit Hilfe deutscher Soldaten programmiert und nur mit deutschen Flugzeugen mit deutschen Piloten auf den Weg gebracht werden, was keinen Zweifel am Kriegseintritt Deutschlands lasse, ließe sich von deutscher Seite zwar bestreiten, aber kaum glaubhaft widerlegen. Es ist jedoch irrelevant. Der Marschflugkörper kann vom Trägerflugzeug außerhalb der Reichweite der russischen Luftabwehr auf den Weg gebracht werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Flugzeuge, bzw. einer der Piloten Russland in die Hände fällt, ist ausgesprochen gering. Feststellbar wird am Ende nur sein, dass ein Taurus irgendwo in Russland ein Ziel erreicht und zerstört hat. Darauf zu reagieren, wäre ein Paradigmenwechsel, denn unabhängig von der unbeweisbaren Vermutung, dass Deutschland maßgeblich an der Führung dieses Schlags beteiligt war, würde Russland Deutschland als Hersteller und Lieferant nach den Regeln der Produkthaftung in Anspruch nehmen, bzw. Vergeltung üben.

Das dritte Argument, Angriffe mit dem Taurus, der von der Ukraine aus Moskau erreichen könnte, würden eine „kritische Bedrohung für die Souveränität der Russischen Föderation“ darstellen und eine nukleare Antwort nach der derzeitigen russischen Nukleardoktrin rechtfertigen, sollte meines Erachtens als das obere Ende einer Eskalationsskala betrachtet werden, die abgestuft über eine „erhebliche Bedrohung für die Sicherheit“, bis zur „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Versorgungslage“, den Einsatz weitreichender, nichtnuklearer Waffen geboten erscheinen lässt. Die Taurus Systeme der Bundeswehr können nämlich von der verfügbaren Stückzahl und der möglicherweise zu erzielenden Schadwirkung her noch keine kritische Bedrohung für die Souveränität der Russischen Föderation darstellen, also auch keinen Nuklearschlag begründen, wohl aber tatsächlich den Punkt darstellen, an dem Russland jeder weiteren Eskalation durch den Westen mittels einer angemessenen Vergeltung ein deutliches Stoppschild zeigt.

Die Situation ist nicht so einfach, wie Merz, Kiesewetter und Wadepuhl dies dem deutschen Volk suggerieren.

Sich hinzustellen und einfach zu behaupten, ja nichts anderes zu tun, als der Ukraine zu helfen, sich eines Angreifers zu erwehren, damit aber doch nicht Kriegspartei zu werden, also auch für nichts verantwortlich zu sein, was mit dem Taurus geschieht, trifft den Kern der Angelegenheit nicht. Selbst dann nicht, wenn die UN-Vollversammlung sich dieser Sichtweise mit 192 von 193 Stimmen anschließen würde.

Die Entscheidung darüber, ob Deutschland mit dem Einsatz deutscher Taurus-Marschflugkörper gegen Ziele in Russland Kriegspartei sein wird, liegt ebensowenig in der Hand der Bundesregierung, wie beim Papst oder beim NATO-Generalsekretär. Darüber entscheidet ausschließlich Russland. Russland entscheidet auch ganz alleine über seine Reaktion, und verfolgt dabei, auch in der Abwägung möglicher Konsequenzen, alleine die Interessen Russlands.

Gäbe es Indizien dafür, dass die Entscheidung über die Taurus Lieferung, auch in der Abwägung aller möglichen Konsequenzen, alleine im Interesse Deutschlands erfolgen wird, ich würde mich in der Gewissheit, dass weiterhin kein Taurus in die Ukraine gelangt, weitaus wohler fühlen.