Sumpfgebiete der Demokratie

PaD 9 /2025 – vorgezogen auf Mittwoch, 26.2.2025
Hier auch als PDF verfügbar: Pad9 2025 Sumpfgebiete der Demokratie

Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein!
Was darüber ist, das ist vom Übel.

Matthäus 5, 37

Es mag an der Luther’schen Übersetzung liegen, dass ausgerechnet dieses Wort aus der Bergpredigt, mit dem Jesus sich klar gegen jegliches Geschwurbel wendet und das Hohelied der klaren, unzweideutigen Aussage anstimmt, von Friedrich Merz in einer Weise interpretiert wird, die man aus dem Gänseblümchen-Zupfen kennt:

„Er liebt mich – er liebt mich nicht – er liebt mich – er liebt mich nicht – er liebt mich – er liebt mich nicht …“

Die Bibel wäre verständlicher, hätte Luther übersetzt: Eure Rede sei entweder „Ja, ja“ oder „Nein, nein“. Hat er aber nicht.

Nun muss das C in CDU nicht unbedingt so gelesen werden, dass es in deren Politik ein Primat der christlichen Glaubenslehre gäbe. Das erlaubt den Schluss , dass die permanente Polumkehr des Friedrich Merz nicht auf einer Missinterpretation der Bergpredigt beruht, sondern lediglich darauf, dass seine Bereitschaft und Freude daran, Entscheidungen zu treffen, viel zu groß ist, um länger als einen Tag bei einer einmal getroffenen Entscheidung zu bleiben.

Für Freunde der einfachsten Elektrotechnik: Mir kommt Merz vor wie ein „Wagner’scher Hammer“. Für alle, die damit nichts anzufangen wissen: Der Wagner’sche Hammer ist ein Stromkreis, der sich permanent selbst unterbricht und wieder schließt, was einen kontinuierlichen Stromfluss unmöglich macht. (mehr)

Obwohl es in diesem System nur zwei Zustände gibt, nämlich Strom oder kein Strom, ja oder nein, 1 oder 0, hat das mit Digitalisierung im derzeit gebräuchlichen und auch von Merz propagierten Sinne nichts zu tun.

Wohl aber gibt es eine gerade Linie, die vom Wagnerschen Hammer über Friedrich Merz direkt zu den beiden Spielarten der Demokratie führt.

Spielart 1 – Die Abstimmung

Für ein konkretes Problem gibt es einen Lösungsvorschlag. Dieser wird per Abstimmung entweder mehrheitlich angenommen oder abgelehnt. An dieser Entscheidung ist nicht zu rütteln. Sie ist klar und eindeutig.

Spielart 2 – -Die Wahl

Eine große Zahl von Vertretern unterschiedlicher Interessen bewirbt sich darum eine große Zahl von Problemen mit unterschiedlichsten Maßnahmen lösen zu dürfen.
Nach der Wahl steht eine etwas kleinere, aber immer noch große Zahl von Vertretern unterschiedlicher Interessen mit unterschiedlichsten Lösungsansätzen vor einer großen Zahl von Problemen und der Aufgabe, eine Mehrheit zu finden, die zu allen Problemen jene Maßnahmen beschließt, die den Interessen dieser Mehrheit am nächsten kommen. Nur in einem reinen Zwei-Parteien-System ist das Ergebnis der Wahl klar und eindeutig und entspricht den Interessen der Mehrheit der Wähler. Im Gegensatz zur Abstimmung steht es der gewählten Mehrheit jedoch immer noch frei, Maßnahmen zu beschließen, die sich gegen den Willen der Mehrheit der Wähler richten. Damit öffnet sich der Blick auf die Sumpfgebiete der Demokratie.

 

Demokratie in Deutschland

Volksabstimmungen auf Bundesebene sind ein vom Grundgesetz vorgesehenes Element der Demokratie. Die demokratischen Parteien konnten die Anwendung dieses Instrumentes bis heute allerdings zuverlässig verhindern. Selbst da, wo es um die Grundlagen der Staatlichkeit selbst gegangen wäre, also zum Beispiel als sich die EU eine Verfassung geben wollte, oder im Zuge der Wiedervereinigung, als sich das deutsche Volk sogar eine Verfassung hätte geben können, war an die Durchführung einer Abstimmung nicht zu denken.

Einer Abstimmung  sehr ähnlich wäre die Direktwahl des Staatsoberhauptes und/oder des Regierungschefs. Keine dieser beiden Funktionen wird über eine Direktwahl besetzt. Damit ist keiner der Amtsinhaber einer Mehrheit der Wahlberechtigten für sein politisches Handeln verantwortlich.

Bereits damit beginnt der feste Grund der Demokratie unter den Füßen nachzugeben.

Da treten Personen, die von Parteien dafür ausersehen wurden, als „Kanzlerkandidaten“ an und versprechen, wie jüngst Friedrich Merz, den Wählern „das Blaue vom Himmel herunter“, was zufällig mit dem Blauen vom Himmel der Blauen bis aufs Detail übereinstimmt, und suggerieren den Wählern, wenn sie nur die richtige Partei wählen, werde der Kandidat zum Kanzler mutieren und dann die Richtlinien der Politik ganz und gar im blauen Sinne festlegen.

Ein – ggfs. erst in der Stichwahl – direkt gewählter Kanzler stünde seinen Wählern gegenüber in der Pflicht, seine Wahlversprechen einzulösen. Das wäre bei komplizierten Mehrheitsverhältnissen im Parlament nicht immer einfach, aber eben darin würde sich politisches Geschick und echtes Engagement beweisen können.

Ein Kanzlerkandidat mit einem Ergebnis von 28,5 Prozent für die beiden Parteien, von denen er aufgestellt wurde, steht keinem einzigen Wähler gegenüber in einer Pflicht. Will er mit diesem Ergebnis tatsächlich Kanzler werden, muss er sich stattdessen anderen Parteien als Koalitionspartner anbieten und kommt nicht umhin, ganz schnell zu sagen: „Nein, nein. Niemand hat gesagt, dass wir die Grenzen schließen werden …“ Ein Verhalten, das durchaus an Prostitution erinnert. Nicht weil Prostitution eine Möglichkeit zum Gelderwerb ist, sondern weil es für eine anständige Frau eine Frage der Ehre ist, nicht mit jedem, der bereit ist, dafür zu bezahlen, ins Bett zu steigen.

Aufschrei der demokratischen Mitte:

Frechheit!

Es ist im Gegenteil eine Frage der Ehre
und heilige Pflicht aller Demokraten,
mit einander ins Bett zu steigen,
stets koalitionsfähig zu sein,
wenn es das Staatswohl erfordert.

Es wurde möglicherweise einmal für eine gloriose Idee gehalten, dass Demokraten, wenn keiner eine eigene Mehrheit hat, sich halt auf einen Kompromiss-Kurs einigen müssen, den die Kontrahenten unter Aufgabe eigener Maximalpositionen mitzugehen bereit sind. Das würde nicht nur die Regierungsfähigkeit herstellen, sondern auch größere Teile der Wählerwünsche erfüllen.

In einer Schönwetter-Demokratie und in guten, ruhigen Zeiten mag dies vielleicht angehen, wenn es den Beteiligten wirklich in erster Linie um das Wohl von Volk und Staat geht.

Von diesem Ideal sind wir jedoch weit entfernt.

Schon in den ersten Stunden nach der Wahl ist zu erkennen, dass die SPD kein Interesse daran hat, daran mitzuwirken, die schnelle Bildung einer stabilen Regierung zu ermöglichen. Lars Klingbeil hat sinngemäß gesagt, dass es nicht gesagt ist, dass die SPD für eine Regierung unter Merz zur Verfügung steht und dass es Monate dauern könne, bis es – wenn überhaupt – zu einer Koaltionsvereinbarung kommt.

Es  eilt ja auch nicht. Olaf Scholz kann so lange weiterregieren, bis eine neue Mehrheit im Bundestag einen neuen Kanzler wählt. Annalena Baerbock, Nancy Faeser, Karl Lauterbach, Robert Habeck …, alle, alle können weitermachen als wäre nichts geschehen. Und wenn es Friedrich Merz eilig haben sollte, ja dann muss er halt noch schneller und noch mehr nachgeben. Ob das dann schon reicht, das entscheiden Saskia Esken und Lars Klingbeil.

Es gibt schon erste Spekulationen dahingehend, es könnte das Ziel der SPD sein, in diesem Jahr noch einmal Neuwahlen zu veranstalten. Dies passt zu den Gerüchten, dass Nancy Faeser und Thomas Haldenwang (der ja nun doch nicht im Bundestag sitzen wird) mit größter Intensität daran arbeiten, mit allen Mitteln des Verfassungsschutzes an neue Beweise für ein AfD-Verbotsverfahren zu gelangen.

Solche Gerüchte und Spekulationen hat es in der ersten Woche nach einer Bundestagswahl, so weit ich mich erinnern kann, noch nie gegeben. Der demokratische Grund, auf dem wir glaubten, stehen zu können, verwandelt sich nun tatsächlich in Sumpf und Morast. Es ist noch kein Moor, in dem an ohne Hoffnung auf Rettung vollends untergehen würde, aber es ist ein Gelände, in dem es kaum noch möglich ist, überhaupt einen Schritt vorwärts zu kommen.

Die Tatsache, dass ernsthaft daran gearbeitet wird, noch vor dem Zusammentreten des neuen Bundestages mit den Mehrheiten des alten Bundestages das Grundgesetz zu ändern, um entweder die Schuldenbremse zu „reformieren“, was Friedrich Merz momentan wieder ablehnt, oder das Sondervermögen Bundeswehr (GG Art. 87 a) von hundert auf dreihundert Milliarden Euro aufzustocken, wozu Friedrich Merz momentan zu neigen scheint, sieht dabei aus wie die letzte Anstrengung, mit beiden Beinen tief im Morast steckend, doch noch Pflöcke für die Ewigkeit einzuschlagen.

Es wäre, um im Spekulativen zu bleiben, der eiligst vorgezogene Plan B, für den Fall, dass Neuwahlen nicht zustande kommen, der aber auch nach nochmaligen Neuwahlen willkommene Spielräume eröffnen würde, auch wenn es wieder nicht für eine 2/3 Mehrheit reichen sollte.

Dass Merz vor der Wahl mit seinen Bundestagsabstimmungen zur Migration mit sehr lichtstarken Lampen unübersehbar rechts geblinkt hat, nur um nach der Wahl scharf links abzubiegen, könnte eines Tages als größter Wahlbetrug in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik in die Annalen eingehen.

1,81 Millionen Wähler, die 2021 ihre Stimme noch der SPD gegeben hatten, dürften diesmal hauptsächlich die Union gewählt haben, weil sie hofften, eine Wende in der Migrationspolitik herbeiführen zu können, auch ohne die ihnen immer noch suspekte AfD wählen zu müssen. Hinzu kamen 1,3 Millionen Stimmen von ehemaligen FDP-Wählern, vermutlich aus dem gleichen Grund. 1,04 Millionen Nichtwähler witterten Morgenluft, und selbst 390.000 Grünenwähler wanderten zur Union.

Ohne diese Zuwanderung von Wählern hätte die Union nicht 28,5 Prozent der Stimmen eingefahren, sondern nur 19,5 Prozent!

Natürlich ist nicht mit Sicherheit festzustellen, was ausschlaggebend für diese Wählerwanderungen war, dass aber die Attentate von Magdeburg und Aschaffenburg stark emotionalisierten und Merz gnadenlos auf diesen Zug aufgesprungen ist und sein Bundestagsspektakel mit Einladung an die AfD, mitzustimmen, den Eindruck erweckt haben dürfte, Merz wolle Merkels Grenzöffnungsgeist nun vollständig aus der CDU vertreiben, kann niemand ernsthaft bestreiten.

Nach der Wahl so schnell von den starken Sprüchen abzuweichen, man erinnere sich:

„Ich werde im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen“,

und stattdessen zu verkünden, dass niemand die Grenzen schließen wollte, ein solches grandioses Umkippen ohne jegliches Scham- oder Schuldgefühl und ohne den Versuch, auch nur den Ansatz einer Begründung zu liefern, ist einfach nur dreist.

Dass es mit dieser Masche gelungen ist, bis zu neun Prozent der Wähler in den Sumpf zu locken, wo sie nun womöglich vier Jahre lang feststecken, mag sich Friedrich Merz als Erfolg ans Revers heften.

Mich kotzt das dermaßen an, dass ich mir tatsächlich wünsche, die SPD könnte tatsächlich die zweite Neuwahl noch in diesem Jahr anstreben.