Polsprung im Links- und Rechtsempfinden

PaD 17 /2025 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad17 2025 Polsprung im Links- und Rechtsempfinden

Die jüngsten Umfragen sehen die AfD in der Pole-Position, also ganz vorne in der Wählergunst. Gleichzeitig ist jedem halbwegs Interessierten klar: Das hätte, selbst wenn morgen Wahlen wären, überhaupt keine Bedeutung. Die AfD bliebe in der Opposition, bekäme keinen stellvertretenden Bundestagsvorsitzenden, keinen größeren Fraktionssaal und selbstverständlich erst recht keinen Sitz im Parlamentarischen Kontrollgremium.

Dies ist zu einem kleinen Teil darauf zurückzuführen, dass die Parteien der demokratischen Mitte, wie sie sich selbst gerne bezeichnen, das Recht und die Geschäftsordnung auf ihrer Seite haben, dass sie mit ihrem Verhalten also recht haben, zum weitaus größeren Teil aber darauf, dass dies von einer großen Mehrheit der Wahlberechtigten als richtig und gerecht empfunden wird.

Das war nicht immer so. Es hat etwas stattgefunden, das die Verhältnisse umgekehrt hat. So wie ein Polsprung die Umkehr des Magnetfeldes der Erde bewirkt und den magnetischen Südpol zum magnetischen Nordpol macht, und umgekehrt. Die Kompassnadel zeigt dann nicht mehr zum geografischen Nordpol, sondern zum geografischen Südpol. Kurz: Die Dinge stehen total auf dem Kopf.

Es sieht sogar so aus, als habe der über Jahrzehnte gültige Sinnspruch: „Wer mit zwanzig nicht links ist, hat kein Herz. Wer mit vierzig immer noch links ist, hat keinen Verstand“, seine Gültigkeit eingebüßt. So viele Menschen über vierzig ohne Verstand kann es doch gar nicht geben!

 

Was da in Deutschland in Bezug auf die politische Grundausrichtung passiert ist, lässt sich relativ leicht beschreiben, die Ursachen zu ergründen ist weitaus schwieriger und bleibt vorläufig noch auf Mutmaßungen und Spekulationen angewiesen. Auch der genaue Zeitpunkt, zu dem die rechts-links-Umkehr stattgefunden hat, lässt sich nicht bestimmen. Man kann nur so viel mit Gewissheit sagen: Die Umkehr hat irgendwann während der 16 Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls begonnen und war etwa in der Mitte der 16 Jahre der Kanzlerschaft Angela Merkels abgeschlossen.

Vorher war Deutschland bis auf die Knochen konservativ, und so mancher damalige Politiker aus den Unionsparteien würde heute vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden. Gleichzeitig war alles was links war, einschließlich der SPD, geradezu verrufen und des Kommunismus verdächtig, dessen Wirken gleich hinter dem Stacheldraht in der SBZ zu besichtigten war. Wem etwas nicht passte, am Kurs von CDU und CSU, dem hat man höhnisch nachgerufen: „Geh‘ doch rüber!“, und die Kinder hat man gewarnt, nicht mit den Schmuddelkindern aus den SPD-verseuchten Arbeitervierteln zu spielen.

Vor allem aber war eines vollkommen klar: Die Konservativen hatten die Wahrheit gepachtet. Dagegen war nicht anzukommen. Kein Argument, das die Sozis vorbrachten, das nicht im Handumdrehen gegen sie gewendet worden wäre. Die Lufthoheit über den Stammtischen war gesichert. Die Bauern waren bei der Union, all die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden waren bei der Union, die Kirchenleute waren bei der Union und verkündeten, zumindest sinngemäß, wer sich mit den Sozis abgibt, den wird dereinst der Teufel holen. Die Chefs der mittelständischen Unternehmen waren sowieso bei der Union und redeten unentwegt davon, die Sozis würden die Wirtschaft ruinieren und wollten alle enteignen, und die Vorstände der Aktiengesellschaften und die Aufsichtsräte und die Aktionäre kannten überhaupt nur die Union. Wie in Gegenwart eines großen Magneten richteten sich die Menschen aus, waren für die Rechten, die im Parlament den Ton angaben, und gegen die Linken, von denen man wusste, dass sie es nicht können. Die Linken selbst, die ganz Radikalen ausgenommen, blieben still und verbargen ihre Gesinnung, um keine Nachteile zu erleiden. Trotzdem erkannte man sie und wurde nicht müde, sie mit Sticheleien aus der Reserve zu locken.

Dies änderte sich noch nicht wirklich, als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde, es änderte sich auch nicht, als Helmut Schmidt seine Nachfolge antrat. Ein erster Knacks in der politischen Polung war festzustellen, als Helmut Kohl im Deutschen Bundestag das konstruktive Misstrauensvotum gewonnen hatte. Nicht, dass jemand ein Wunder erwartet hätte, es waren die Fernsehbilder, die jene Sekunden festhielten, in denen erst Helmut Schmidt und dann Willy Brandt sich in aufrecht demokratischer Haltung auf den Weg zu Kohls Platz machten, ihm die Hand reichten, gratulierten und Glück wünschten. Diese Szene hat Eindruck gemacht, nicht nur bei den Sozialdemokraten, aber auch nicht nur wegen Schmidt und Brandt, sondern auch wegen Kohls Haltung, der in seiner nonverbalen Kommunikation eben nicht nur die Freude über das Gelingen, sondern auch jene Spur von Überheblichkeit ausgedrückt hat, die vielen unangemessen erschienen ist.

Die Sensibilität der Deutschen für solche kleinen Signale in Mimik und Gestik war damals ziemlich hoch. Das Gesehene genügte, um eine skeptische Distanz zum neuen Kanzler aufzubauen und die Gewissheit, die Union habe in allem was sie tut und lässt immer recht, hatte einen hauchdünnen Riss bekommen. Doch es war noch genug davon übrig, um Oskar Lafontaines Vorschläge zum Vorgehen bei der „wirtschaftlichen Wiedervereinigung“ lächelnd in die Tonne zu treten.

Selbst Gerhard Schröder, der Helmut Kohl nach langen Jahren nachfolgte, konnte sich noch darauf verlassen, dass konservative Politik sogar von den Gewerkschaften goutiert werden wird, als er mit der Agenda 2010 unter Mithilfe der Bertelsmann Stiftung und des VW-Personalvorstands Peter Hartz seinen alles andere als sozialen Kahlschlag der deutschen Sozialsysteme inszenierte. Dies war wahrscheinlich der zweite Knacks und der zweite Haarriss, denn ein Sozi hatte den Mut gefunden, den Kohl vorher nicht gefunden hatte, das zu tun, was von allen Kommentatoren als zwingend notwendig gepriesen wurde. Der SPD haftete von da an ein Hauch von Wirtschaftskompetenz an und die Mär, dass auch Linke einmal das Richtige tun können, machte überall die Runde.

Dann kam Merkel. Die Union hatte sich dem linken Gedanken angeschlossen, dass auch Frauen in der Politik eine wichtige Rolle spielen müssen, und irgendwie war sie da auch noch „Kohls Mädchen“. Die Wähler trauten ihr nichts Böses zu. Rückblickend kann man sagen, sie war weder rechts noch links. Sie war die Sphinx. Sehr schnell hat sie es geschafft, ihre Konkurrenten aus der Union auf Abstand zu halten, um im Blick auf die Wählerstimmen das zu tun, wovon sie sich, bei der entsprechenden medialen Begleitung, größtmöglichen Zuspruch versprach. Freundin Friede Springer war dabei sicherlich ausgesprochen hilfreich. Weil der Zeitgeist grün war, beschloss sie den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie, und weil der Zeitgeist links war, begründete sie die deutsche Willkommenskultur, weil der Zeitgeist grün war, beschritt sie den Weg zur großen Transformation mit Energiewende und Mobilitätswende. Der Beifall, den sie dafür erntete, war so groß, dass die gesamte Parteienlandschaft ihr nacheiferte und ihre einstigen Kernkompetenzen unter einem dicken Patchwork-Mantel aus linksgrünen Programmfetzen versteckte.

Damit war der Polsprung vollendet.

Deutschland war jetzt in der Wolle rot-grün eingefärbt. Gleichzeitig war alles was rechts war, einschließlich der konservatien Kreise in der Union (Mittelstandsvereinigung, später auch die Werte-Union) geradezu verrufen und des Nationalsozialismus verdächtig. Wem etwas nicht passte, am Kurs der sich schnell formierenden demokratischen Mitte, den hat man mitleidlos in die rechte Ecke gestellt.

Vor allem aber war eines vollkommen klar: Das linksgrüne Milieu hatte nun die Wahrheit gepachtet. Dagegen war nicht anzukommen. Kein Argument, das Konservative vorbrachten, das nicht im Handumdrehen gegen sie gewendet worden wäre. Die Lufthoheit über den Sozialen Medien wurde durch strafbewehrte Löschverpflichtungen der Betreiber gesichert. Die kleinen Bauern stellten um auf Bio, all die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden bemühten sich um linksgrüne Kundschaft, die Kirchenleute verbreiteten linksgrüne Weltrettungsideen als gottgefällig und verkündeten, zumindest sinngemäß, wer sich mit der AfD abgibt, den wird dereinst der Teufel holen. Die Chefs der mittelständischen Unternehmen rühmten sich ihrer Anstrengungen, ihre Betriebe klimaneutral zu machen und redeten unentwegt davon, die Rechten würden den Sozialstaat ruinieren und wollten alle enteignen. Selbst die Vorstände der Aktiengesellschaften und die Aufsichtsräte und die Aktionäre stellten sich als linksgrün dar und kauften im CO2-Ablasshandel Beteiligungen an nicht existenten chinesischen Aufforstungsprogrammen. Wie in Gegenwart eines großen Magneten richteten sich die Menschen aus, waren für die Linken und Grünen, die im Parlament den Ton angaben, und gegen die Rechten, von denen man wusste, dass sie nur Unheil anrichten können. Die Rechten selbst, die ganz Radikalen ausgenommen, blieben lange still und verbargen ihre Gesinnung, um keine Nachteile zu erleiden. Trotzdem erkannte man sie und wurde nicht müde, sie mit Sticheleien aus der Reserve zu locken.

Faszinierend!

Als einer, der diese ganze Geschichte einigermaßen wach und interessiert über die letzten 60 Jahre verfolgen konnte, kann ich nur sagen: Faszinierend!

Nicht weil mir gefällt, wie sich Deutschland in den letzten 30 Jahren entwickelt hat. Weißgott nicht. Fasziniert bin ich davon, wie schnell und vollständig es gelungen ist, diese 180 Grad Wende in den Köpfen zu verankern. 

Gut. Es sind nicht mehr die gleichen Köpfe. Von jenen, die 1960 dreißig Jahre und älter waren, gibt es heute nicht mehr viele. Selbst diejenigen, die 1980 zwanzig Jahre alt waren, und wenigstens noch Jugenderinnerungen an bessere Zeiten in sich tragen, sind inzwischen in Rente und wundern sich über das üppige Altersruhegeld, das ihnen zugeteilt wird.

Gerne wird die Erfindung der Schrift dafür gerühmt, dass es damit gelungen sei, Wissen und Erfahrungen festzuhalten und für nachfolgende Generationen zu bewahren. Das mag einmal so gewesen sein. Heute sieht es anders aus. Geschrieben wird zwar mehr als je zuvor, aber was wird noch gelesen, von dem, woraus sich Lehren ziehen ließen?

Da zieht ein ganzes Land sehenden Auges in den Untergang – und die Apologeten dieser Reise sind überzeugt, damit das einzig Richtige zu tun. Widerspruch wird, wo er sich regt, verfolgt, bestraft und verboten.

Da kommt doch unweigerlich die Frage auf,
wer davon einen Nutzen hat.

Der ganz normale, einfache Bürger, der nur noch Angst hat, Miete und Heizung nicht mehr bezahlen zu können, den Job zu verlieren, einem Messermann zu begegnen, der hat nichts davon, dass die Grenzen offen sind, dass die Deindustrialisierung fortschreitet, dass die Energie bewusst verteuert wird und sich der Bau von Wohnungen nicht mehr rentiert.

Der Einzelhandel hat nichts davon, der Handwerker hat nichts davon, wenn die Kundschaft sparen muss. Die kleinen und mittleren Unternehmen aller Branchen haben nichts davon und müssen froh sein, wenn ihnen nicht die Insolvenz ins Haus steht.

Die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst? Die sind zwar bisher kaum betroffen, sollten sich aber ausrechnen können, dass ihre Gehälter von den Steuerzahlern erwirtschaftet werden müssen. Sie können nicht ernsthaft den Ast absägen wollen, auf dem sie sich komfortabel niedergelassen haben.

Die Anteilseigner der Großkonzerne? Nicht wirklich. Internationale Unternehmen, die ihre Produktion und ihre Märkte sowieso längst im Ausland haben und das Geschäft auf dem deutschen Markt nur noch als Folklore betrachten, haben keinen Nutzen davon, aber mit ein bisschen Geschick auch keinen Schaden.

Der EU droht ein erheblicher Schaden, wenn es mit Deutschland weiter bergab geht, während dem absolut kein Nutzen gegenübersteht.

Wen haben wir jetzt noch nicht?

Eigentlich fehlen nur noch die politisch Verantwortlichen, also die Mitglieder der gewählten Regierung. Die haben aber auch keinen Nutzen davon, jedenfalls keinen, den sie mit einer anderen Politik nicht auch hätten haben können. Auch wenn der Gedanke naheliegt, ein Beweis dafür, dass es ihnen egal ist, was sie tun, lässt sich daraus nicht ableiten.

Faszinierend!

Wenn ein ganzes Volk sich in demokratischen Wahlen dafür entscheidet, einen offenkundig in die Irre führenden Weg immer weiter zu gehen, und jeden auszugrenzen, der eine Umkehr fordert, dann ist das Auftauchen gewisser Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit dieses Volkes nicht verwunderlich. Sollte es so sein, dass die Anführer es besser wüssten, aber aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden, lieber auf dem falschen Weg weiter vorangehen, dann wäre dies ein Anlass, die Demokratie als solche grundsätzlich in Frage zu stellen.

Vermutlich ist es aber nur eine deutsche Besonderheit, im Laufe der Zeit immer wieder von einem Extrem ins andere zu fallen. Das lässt zumindest hoffen, auch wenn die in Betracht kommenden Zeiträume sich – bezogen auf die menschliche Lebensspanne – doch ziemlich lange hinziehen. Misst man die Dauer der Schwingungen des Pendels in der jüngsten Vergangenheit, dann lässt sich schließen:

2081 bis 2114 könnte wieder eine sehr gute Zeit für Deutschland werden.

Gibt es irgendein Mittel, um den Erkenntnisprozess zu beschleunigen, haben wir nicht seit 1784 den Aufruf Kants im Ohr: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen? Warum funktioniert das nicht?

War Immanuel Kant, der große Sohn Königsbergs, der allzu vernünftige Verstandesmensch, vielleicht doch nur ein romantisierender Idealist, wenn er erklärte:

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des
Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.

Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Natürlich ist „Verstand“ besser als „Unverstand“ und viel Verstand besser als wenig Verstand. Doch muss bezweifelt werden, ob es überhaupt möglich ist, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Johann Gottfried Herder, der Kants Vorlesungen lauschte, formulierte dies so:

„Mit dankbarer Freude erinnere ich mich aus meinen Jugendjahren der Bekanntschaft und des Unterrichts eines Philosophen, der mir ein wahrer Lehrer der Humanität war […] Seine Philosophie weckte das eigne Denken auf, und ich kann mir beinahe nichts Erleseneres und Wirksameres hierzu vorstellen, als sein Vortrag war.“

Isaac Newton sagte in aller Bescheidenheit: „Wenn ich weiter als andere gesehen habe, dann nur deshalb, weil ich auf der Schulter von Giganten stand.“ Und Albert Einstein sah sich auf den Schultern Newtons stehen.

Da verschwimmen die Grenzen der Aufklärung zwar noch nicht. Newton und Einstein bedienten sich ihres eigenen Verstandes, dies aber auf einem bewährten und gefestigten Fundament, das große Geister vor ihnen gelegt hatten.

Aber was ist es, wenn das Fundament eher einer treibenden Eisscholle gleicht und sich nun jemand seines eigenen Verstandes bedient und zu dem Schluss kommt, seine Generation sei die letzte überhaupt und dieses Schicksal könne nur gewendet werden, indem er sich fest entschlossen und mit dem Mut von sieben Berglöwen mit Pattex am Asphalt festklebt? Oder wenn einer sich seines eigenen Verstandes bedient und zu dem Schluss kommt, er müsse sein Land kriegstüchtig machen, weil es in vier, spätestens fünf Jahren von den Russen überfallen wird? Oder wenn einer sich seines eigenen Verstandes bedient und überzeugt ist, kein Unternehmen müsse insolvent werden, es genüge doch, wenn Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufhören zu produzieren?

Es ist der „Zeitgeist“, der sich wandelt, und nicht nur die Modedesigner beeinflusst, sondern das Denken, Dichten und Trachten ganzer Völker. Wo er entsteht, vor allem aber, warum er auf fruchtbaren Boden fällt und die Massen mit sich fortreißt, ist nicht wirklich zu ergründen. Sich ihm vollständig zu entziehen oder zu verweigern, ist unmöglich. Wer es dennoch versucht, wird entweder Zuflucht in der Vergangenheit suchen und bestrebt sein, den Zeitgeist aufzuhalten, die Zeit zurückzudrehen, oder vorausdenken und sich die wahrscheinlichen Folgen ausmalen und ebenfalls versuchen, den Strom aufzuhalten oder umzulenken. Das Ergebnis ist vorhersagbar. Die einen werden als Ewiggestrige verhöhnt und ausgegrenzt, die anderen wird man als Leugner und Ketzer brandmarken und ebenfalls verhöhnen und ausgrenzen. Da ziehen sich viele rote Fäden durch die Geschichte: Von Galileo Galilei bis zu Sucharit Bhakdi, von Spartacus bis zu den Geschwistern Scholl.

Der Mut, sich mit dem eigenen Verstand gegen den Zeitgeist zu stellen, wird nur dann belohnt, wenn der Zeitgeist bereits im Niedergang befindlich ist, entweder, weil die Massen feststellen, dass der Zeitgeist nur Leid und Not über sie gebracht hat, oder weil die Massen satt und träge geworden sind und sich langweilen.

Immanuel Kant möge mir verzeihen, dass ich seinen wohl wichtigsten Appell an die Menschheit hier in Frage gestellt habe. Nicht um Kant zu widerlegen, sondern um zu zeigen, was geschehen kann, wenn der Aufruf sich des eigenen Verstandes zu bedienen, auf den fruchtbaren Boden jener geistigen Schlichtheit trifft, die dem jeweiligen Zeitgeist entspricht.