
PaD 40 /2025 – Hier auch als PDF verfügbar: Pad40 2025 Offener Brief an Klaus +
Elsendorf, 16. Oktober 2025
Lieber Klaus,
wo anfangen, wenn doch alles mit allem zusammenhängt?
Vielleicht an dem Punkt, an dem gewöhnlich alles beginnt. Das ist immer der Punkt, an dem sich aus der Zufriedenheit heraus das Gefühl erhebt, dass nicht mehr alles gut ist. Ein Gefühl, dass mit der Ahnung einhergeht, man werde, sollte das so weitergehen, etwas tun müssen. Diese Ahnung, verbunden mit der Abneigung vor der Anstrengung, etwas zu verändern, kann ausreichen, um dieses ungute Gefühl zu verdrängen. Der Rheinländer sagt dann: „Et hätt noch emmer joot jejange.“
Wir beide wissen, dass diese Einstellung hoch gefährlich ist, gleichzeitig fällt es uns ebenso leicht, diese Gefahr bei anderen zu erkennen, wie es uns schwer fällt, den Balken im eigenen Auge zu sehen, weil eben dieser das recht zuverlässig verhindert.
Dem kann nur durch unbeirrbares, systematisches Vorgehen begegnet werden. Zu beginnen ist dabei grundsätzlich mit einer Art Inventur, der Feststellung des IST-Zustandes. Dabei darf man, so weh es auch tun mag, nicht schon gleich zu Beginn ein bisschen mogeln oder beschönigen, weil man ja überzeugt ist, dass sich die negativen Aspekte von selbst in Kürze wieder umkehren werden. Nein. Bei der Inventur muss man ehrlich bleiben. Sonst ist die Arbeit für die Katz.
Denn nach der Inventur beginnt das Vergleichen. Einerseits, so weit möglich, der Periodenvergleich. Wie hat das vor einem Jahr, vor drei Jahren, vor zehn Jahren ausgesehen? Was hat sich verändert? Was zum Positiven, was zum Negativen?
Dann der horizontale Vergleich. Wie ist das beim Nachbarn, beim Konkurrenten gelaufen? Steht der heute genauso da, wie ich? Geht es ihm besser oder schlechter?
Schließlich gilt es, die Veränderung der Umgebungsvariablen zu betrachten. Was hat mir, was hat den Nachbarn und der Konkurrenz genützt, was geschadet?
Was man für den eigenen privaten Haushalt tun kann – und sogar hin und wieder tun sollte, was man sich als Unternehmer zwingend regelmäßig, mindestens einmal pro Quartal vornehmen sollte, ist zweifellos auch ein vernünftiger Weg, um die Qualität von Staat, Regierung und Volkswirtschaft auf den Prüfstand zu stellen.
Nun, diese Qualität misst man nicht an den freundlichen Gesichtern von Kanzler und Ministern, auch nicht an ihren Worten, die uns über TV und Printmedien vermittelt werden, ebenso nicht an der harschen Kritik der Opposition im Parlament, sondern an den Fakten. Die Fakten wiederum umfassen genau das, wofür der Staat zuständig ist, wofür wir Rechte an ihn abgetreten haben und Steuern bezahlen.
Das lässt sich mit wenigen Stichworten vollständig beschreiben:
- Wahrung der äußeren Sicherheit durch Diplomatie und Verteidigungsfähigkeit,
- Herstellung eines Rahmens der staatlichen Ordnung und deren Durchsetzung zur Wahrung der inneren Sicherheit,
- Herstellung und Unterhalt der gemeinschaftlichen Infrastruktur,
- Sicherung der Freiheit aller Bürger gemäß der Grundrechtecharta der Vereinten Nationen, was auch die wirtschaftliche Freiheit einschließt,
- Schutz und Hilfe für jeden Bürger, der unverschuldet in Not gerät.
Mehr ist das nicht. Mehr muss das nicht sein. Kann man so ähnlich auch bei Friedrich August von Hayek nachlesen. Oder neuerdings bei Milei.
John Maynard Keynes sieht die Hauptaufgabe des Staates hingegen auf einem Feld, das Hayek gar nicht explizit benennt, nämlich darin, Vollbeschäftigung herzustellen, indem er mittels antizyklischer Politik aktiv in die Steuerung der Wirtschaft eingreift.
Da wir Deutschland betrachten wollen, ist also auch der bei uns durchaus stark ausgeprägte Staatsdirigismus mit zu berücksichtigen, dessen zarte Wurzeln schon bei Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack zu erkennen waren, indem die Marktwirtschaft als Soziale Marktwirtschaft neu gestaltet und die Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg soweit politisch gefördert wurde, dass daraus ein starker Binnenmarkt entstehen konnte und aus dem starken Binnenmarkt ein allgemeines Wohlstandswachstum.
Die Soziale Marktwirtschaft ist in Deutschland weitgehend wieder verschwunden. Das erkennt man zum Beispiel am Schwinden der so genannten „Tariftreue“. Der Staatsdirigismus hingegen ist ins Uferlose gewachsen und mit dem Staatsdirigismus notwendigerweise die Bürokratie. Aber ich greife vor.
Bringen wir also, wie eingangs als Notwendigkeit angesprochen, mit einem unbeirrbaren, systematischen Vorgehen die Fakten ans Licht.
Zur äußeren Sicherheit
Die deutsche Außenpolitik präsentiert uns eine Sicherheitslage, in der Russland als größte und akute Gefahr für Deutschland die Hauptrolle spielt. China, als möglicher Verbündeter Russlands wird zumindest als Feind angesehen, der mittels feindseliger Handelspolitik zur Räson gebracht werden soll. Die USA haben sich unter Trump zu einem unzuverlässigen Partner entwickelt, dem mit Misstrauen begegnet werden muss, obwohl es sich nicht vermeiden lässt, auf die von dort vorgetragenen Forderungen einzugehen. Innerhalb der EU spielt Deutschland die Rolle des Zahlmeisters, ohne dabei im Gegenzug die Berücksichtigung unserer nationalen Interessen einzufordern. Die Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien sind von wechselnder Qualität.
Die eigene Verteidigungsbereitschaft bewegt sich zwischen schwach und desolat. Der Chef des Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, hat das im April 2025 an nur einem Beispiel drastisch erläutert: „Stell dir vor, es ist Krieg, aber die Panzer springen nicht an – weil der Brennstoff fehlt.“
Das Heer bräuchte, um seine Aufgaben erfüllen zu können, rund 1.000 Tanklastwagen. Vorhanden sind 70 – und die sind inzwischen fast alle in Litauen, bei der einzigen Brigade, die voll funktionsfähig sein soll.
Zur Personalsituation weiß Oberst Wüstner: „Wir haben heute schon mehr U-Boote als vollständige Besatzungen.“
Fazit:
Die Sicherheitslage ist unbefriedigend. Diplomatie und Verteidigungspolitiker haben versagt.
Zur inneren Sicherheit
Das US-Außenministerium gibt für Reisen nach Deutschland auf seiner Website folgende Hinweise: „Terroristische Gruppen und Einzeltäter sind in Deutschland und Europa nach wie vor eine ständige Bedrohung. Sie greifen Menschen an öffentlichen Orten mit Messern, Kleinwaffen, rudimentären Sprengsätzen und Fahrzeugen an. Solche Angriffe können mit wenig oder gar keiner Vorwarnung und ohne Ziel erfolgen.“ Ähnliche Warnungen kommen aus Kanada, Australien und sogar aus der Schweiz.
29.000 Messerangriffe in Deutschland im Jahr 2024 (80 pro Tag) und 13.000 Fälle von Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen weist die deutsche Kriminalstatistik aus.
Aufgrund alleine dieser Bedrohungslage werden Volksfeste, Weihnachtsmärkte, ja sogar harmlose Martins- und Karnevalsumzüge entweder in Hochsicherheitszonen verwandelt oder gänzlich abgesagt, weil die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen von den Veranstaltern nicht mehr bezahlt werden können.
Auch in anderen Deliktbereichen sind die Fallzahlen hoch. 2024 war ein leichtes Absinken der polizeilich registrierten Straftaten auf „nur noch“ 5,83 Millionen Fälle zu beobachten, wobei hier die Legalisierung von Cannabis den Ausschlag gegeben hat. Ohne die gesetzlich aufgehobene Strafbarkeit hätte sich auch 2024 ein weiterer Anstieg der Fälle ergeben. Alleine die Gewaltkriminalität hat 2024 gegenüber dem Vorjahr um 3.178 Fälle auf 217.277 Fälle zugenommen.
Die Aufklärungsquote liegt, über alles betrachtet, bei 58 Prozent, bei Gewaltdelikten immerhin bei 77,2 Prozent.
In der Weltrangliste der Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohnern liegt Deutschland mit 0,9 Fällen vor Polen, Portugal und Spanien (je 0,7), Norwegen und Slowenien (je 0,6), Island, Italien und VR China (je 0,5), aber noch deutlich hinter den USA (5,8).
Fazit
Die Sicherheitslage in Deutschland ist noch einigermaßen tragbar, aber vom Optimum bereits deutlich entfernt. Ein fortschreitendes Versagen der Innenpolitik kann nicht mehr übersehen werden.
Zur Infrastruktur
Die Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Lebensmitteln, Bekleidung und Gegenständen des täglichen Bedarfs ist in Ordnung. Punktuell ergeben sich Probleme durch die Schließung von Einzelhandelsgeschäften, Bäckereien und Metzgereien, doch ist noch ausreichend Redundanz vorhanden. Auch die Infrastruktur zur Abwasser- und Müll-Entsorgung funktioniert.
Die Verkehrsinfrastruktur, sowohl was die Straße, als auch was die Schiene betrifft, ist in einem stark vernachlässigten Zustand. Bei der Bahn führen schadensbedingte Langsam-Fahrstrecken, teils veraltete Stellwerke und chronischer Personalmangel zu Problemen, während auf den Straßen abgenutzte Fahrbahndecken und vor allem einsturzgefährdete Brückenbauwerke im Verein mit einem Netz von Ausbesserungsbaustellen zu Staus führen und Umwege erzwingen.
Die Kommunikations-Infrastruktur im Bereich Mobilfunk und Breitband-Internet-Versorgung ist gegenüber anderen Staaten – vor allem auf dem flachen Land – noch rückständig.
Die Infrastruktur der Versorgung mit elektrischer Energie ist durch den massiven Zubau nicht regelbarer Einspeisekapazitäten fragil geworden. Die Bundesnetzagentur warnt bereits vor notwendigen Netzabschaltungen (Brownouts), sollte der Zubau von Reservekraftwerken noch weiter verzögert werden.
Die Infrastruktur der medizinischen Versorgung ist im Rückbau befindlich. Das trifft sowohl die Möglichkeiten der stationären Behandlung, wo praktisch im Monatstakt ganze Kliniken verschwinden, als auch die Kapazitäten der niedergelassenen Fach- und Allgemeinärzte, wo teils neue Patienten nicht mehr aufgenommen werden und die Wartezeiten für einen Facharzttermin mehrere Monate betragen können.
Auch in anderen Bereichen, z.B. Polizei oder Bargeldversorgung, sind Lücken und Engpässe entstanden.
Fazit
Im Bereich der Infrastruktur besteht in vielen Bereichen dringender Handlungsbedarf.
Zur bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheit
Die Corona-Pandemie hat vielleicht am deutlichsten und für sehr viele Bürger erkennbar gezeigt, wie leicht „der Staat“ in seinem derzeitigen Selbstverständnis dazu neigt, sich über die Grundrechte seiner Bürger hinwegzusetzen. Der Trick, Schutzrechte der Bürger gegen den Staat als Schutzpflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern auszugeben, denen der Staat notfalls eben mit Gewalt und uneinsichtiger Härte nachzukommen hat, lassen auch für die Zukunft nichts Gutes erwarten, zumal die Aufarbeitung dieser „Staatskatastrophe“ faktisch nicht stattfindet.
Die Tendenz, immer mehr Meinungsdelikte ausfindig zu machen und ggfs. vorsorglich durch Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Rechnern und Smartphones oder Kontensperrungen zu bestrafen, obwohl sich in der Mehrzahl der Fälle herausstellt, dass eine Strafbarkeit nicht gegeben war, hat bedrohlich zugenommen.
Der staatliche Handlungsrahmen für die Wirtschaft ist zu einem Korsett geworden und lässt dem Unternehmer kaum noch Luft zum Atmen. Seit die Einhaltung eines willkürlich gesetzten Zielwertes für die Weltdurchschnittslufttemperatur in der Priorität der Staatsziele unangefochten den ersten Platz einnimmt und als Allheilmittel die Dekarbonisierung verordnet worden ist, findet ein Prozess der Deindustrialisierung statt, der sich in Betriebsschließungen, Insolvenzen und Verlagerungen an ausländische Standorte immer schneller Bahn bricht. Damit einher gehen wachsende Arbeitslosigkeit und zwangsläufig Verluste an Steuer- und Beitragseinnahmen, bei gleichzeitiger Belastung der Sozialsysteme, die nur durch höhere Zuschüsse aus der Steuerkasse am Leben erhalten werden.
Zu den Rahmenbedingungen für bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit gehört letztendlich auch eine stabile Währung, die sowohl die Kaufkraft der Einkommen wahrt als auch den Wert der Vermögen erhält. Der steile Anstieg der Kosten für Energie und für das Wohnen weisen in die gegenteilige Richtung.
Fazit
Der Staat versteht sich nicht mehr Diener seiner Bürger, sondern als deren Dienstherr, wobei manche Regierungsmitglieder dazu neigen, ihr Amt eher nach Gutsherrenart auszuüben. Freiheit steht unter Vorbehalt und kann jederzeit entzogen werden.
Zum Sozialstaat
Die staatliche reglementierten Sozialleistungen sind bei stark gestiegenen Kosten aus den Erträgen der schwächelnden Wirtschaftsleistung nicht mehr bezahlbar. Momentan wird ein Ausweg gewählt, der sich schon bald als Irrweg herausstellen wird, dass nämlich die zusätzlichen Belastungen, die auf den Bundeshaushalt zukommen, um die Renten, die Gesundheitskosten, die Arbeitslosigkeit und die Pflege zu finanzieren, sowie ein Heer von nicht erwerbstätigen Zuwanderern zu alimentieren, durch forcierte Neuverschuldung gedeckt werden.
Die Notwendigkeit, hier einen echten, großen Schnitt anzusetzen, wird von einer Regierungsperiode auf die nächste verschoben, was erkennbar nur dazu führt, dass sich die Lage der Sozialsysteme immer weiter verschlechtert.
Fazit
Der schon heute schuldenfinanzierte Sozialstaat steht mehr als alles andere im Lande am Abgrund. Am Sozialstaat hängen aber nicht nur die Transferleistungsempfänger, sondern auch der Einzelhandel, die Vermieter, die gesamte Ärzteschaft, nicht zu vergessen die 113.000 Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit und vieles andere mehr.
Soviel, lieber Klaus,
in höchst komprimierter Form zum IST-Zustand, wie ich ihn erkenne.
Um systematisch weiter vorzugehen, sollte nun ein Vergleich mit dem Zustand der Vorperioden stattfinden. Sicherlich habe ich dabei gegenüber dir den Vorteil, gut zwanzig Jahre weiter zurückblicken zu können, aber – ich sage es mal so – von ungefähr 1990 an solltest du auch über Erinnerungen und Vergleichswerte verfügen, obwohl da der Aufschwung und die Zukunftsfreude in Deutschland schon kaum mehr zu erkennen waren, wohl aber noch die Erfolge und Erträge der vorangegangenen 45 Jahre als Polster in Form von Geld, anderem Vermögen, vor allem aber auch als Knowhow zur Verfügung standen.
Die ostdeutschen Länder waren gerade der Bundesrepublik beigetreten, wir alle wurden mit dem Solidaritätszuschlag zur Kasse gebeten, die Inflation hat angezogen, und dennoch war alles noch besser als das, was wir heute im IST vorfinden.
Der Kalte Krieg war zu Ende, die NATO, eigentlich obsolet geworden, wusste nicht mehr, wozu sie gut ist. Über die Bundeswehr brach die Friedensdividende herein, man mottete Waffen und Munition ein und schickte rund 60 Prozent der Soldaten und Zivilbediensteten nach Hause. Russland lieferte preiswertes Erdgas in jeder benötigten Menge und der Strom kam zu etwa einem Viertel aus den Kernkraftwerken. Es drohte kein Krieg, China war keine Gefahr und keine ernstzunehmende Konkurrenz auf den Weltmärkten.
Es gab zwar auch damals schon 2,6 Millionen gezählte Arbeitslose, wovon eine Million erst durch die Wiedervereinigung in die gesamtdeutsche Statistik geraten sind, aber diese 2,6 Millionen waren eben noch nach den damaligen Statistik-Kriterien gezählt, die ja im Rahmen der Agenda 2010 vom Gespann Schröder/Hartz stark verändert wurden, um die Zahl der ausgewiesenen Arbeitslosen deutlich zu reduzieren. Außerdem gab es noch viel höhere und viel länger gezahlte Lohnersatzleistungen für die Arbeitslosen, die eben nicht nach einem halben Jahr in Hartz-IV gestürzt wurden.
Zehn Jahre später kam der Euro. Den Deutschen von Briten und Franzosen als Preis der Wiedervereinigung aufgezwungen, um nie wieder unter der starken D-Mark leiden zu müssen, und überhaupt, um das neue große Deutschland in Fesseln zu legen.
Der Schuss ging nach hinten los, denn Deutschland hat fortan versucht, den Rest des Währungsraumes nieder zu konkurrieren, in dem die deutsche Arbeiterschaft nicht mehr im gewohnten Maße am Produktivitätsfortschritt beteiligt wurde, sondern, ganz im Gegenteil, noch versucht wurde, in Deutschland einen neuen, großen Niedriglohnsektor zu etablieren, in der Absicht, Löhne und Gehälter von der Basis her zu erodieren. Das ist für geraume Zeit recht gut gelungen und hatte zur Folge, dass sich die Weichwährungsländer des europäischen Südens, einschließlich Frankreich, mit dem Euro zu günstigen Konditionen verschuldeten und dies in einer für ihre vorherigen Verhältnisse starken Währung.
Fast zehn Jahre später, am 1.1.2009 trat der Vertrag von Lissabon in Kraft. Die EU, die ein Staat werden wollte, aber kein Plazet für die schon geschriebene Verfassung erhalten hat, ersetzte die Verfassung durch Verträge weitgehend gleichen Wortlauts und saugte begierig Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten in die Brüsseler Kommission, die weder im herkömmlichen Sinne demokratisch legitimiert war, noch einer echten parlamentarischen Kontrolle unterlag, woran sich bis heute nichts geändert hat.
Die EU ist ein Klüngel von Staats- und Regierungschefs, im steten Kuhhandel begriffen, und mit der Lizenz, an den nationalen Parlamenten vorbei neues Recht zu setzen und verbindliche Vorschriften zu erlassen. Geschützt von einem Gerichtshof, der ausschließlich pro EU zu urteilen pflegt, und garniert mit einem Parlament, das ungefähr über so viele und mächtige Befugnisse verfügt, wie die Volkskammer der ehemaligen DDR, ist diese EU gegen Kritik aus der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten praktisch unangreifbar. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Kurz vorher war die Subprime-Krise der USA nach Europa übergeschwappt und hat die Euro- und Bankenkrise ausgelöst in der hunderte Milliarden Euro geopfert wurden, um den Euro zu retten. Hier müsste ich eigentlich über unser Geldsystem sprechen, das auf den finalen Crash hin konzipiert ist, doch das schenke ich mir. Die Ausstattung von Banken und Staaten mit frischem Geld (aus dem Nichts) getarnt nur durch den Schleier des Ankaufs wertlos gewordener Papiere, gedeckt durch Staatsbürgschaften, hat ja nicht die Währung gerettet, sondern lediglich das System. Jedenfalls hat der Euro (in Deutschland) seit seiner Einführung nach offizieller Statistik bereits 61 % an Wert verloren.
Dennoch waren es um 2010 herum immer noch ruhige Zeiten. Es gab die meiste Zeit nur ein einziges herausragendes Aufreger-Thema und dabei immer noch die Hoffnung, es würde sich schon eine gangbare Lösung finden, auch wenn der Weg, der dann gegangen wurde, nicht immer als der jeweils optimalste angesehen werden konnte. Es war „Durchwursteln“ – und das erschien am Ende des Tages doch immer noch besser als nichts.
Es ist nicht so geblieben.
Nach 2010 gab es zwei Paukenschläge. Der Erste eher noch leise und verhalten, als Bernd Lucke, Ökonomieprofessor aus Hamburg, im April 2013 die AfD gründete, mit dem Ziel, Deutschland wieder aus der Währungsunion herauszulösen. Der Zweite laut und donnernd, als Angela Merkel im September 2015 die Grenzen öffnete,
Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen ist seither gewaltig gewachsen. Union, SPD, Grüne und LINKE halten immer noch an der Politik der offenen Grenzen fest, die AfD ist immer noch um den Ausstieg aus dem Euro und um eine Neustrukturierung der EU bemüht, hat aber in der Migrationspolitik der so genannten Altparteien ein neues Feld der Profilierung gefunden und dafür inzwischen bundesweit erheblichen Zuspruch gewonnen. Aktuelle Umfragen sehen die AfD schon knapp vor der Union.
Aber das war ja nicht alles. Das hast du selbst noch frisch in Erinnerung. Nur ein paar Stichworte:
Die Klima-Thematik brach mit Wucht über uns herein. Dem Atomausstieg sollte der Kohleausstieg folgen, dem Kohleausstieg die vollständige Dekarbonisierung, also auch der Verzicht auf Erdgas und Erdöl, was zwingend zur Mobilitätswende und zum Heizungsgesetz des Robert Habeck führen musste.
Zwischenzeitlich raste ein Virus um die Welt, das die halbe Welt zum Stillstand brachte, weil es eine unerkannt bleibende Regie so wollte. Kaum war die Pandemie zum Erliegen gekommen, brach der heiße Krieg in der Ukraine aus und Deutschland avancierte flugs zum zweitgrößten Spender an Geld und Waffen nach den USA. Um Russland zu schaden, wurde der Gasbezug eingestellt, irgendwer sprengte dann auch noch die Pipeline in der Ostsee, damit auch ja nichts mehr kommt, und an der Küste wurden flugs LNG-Terminals errichtet.
Die Ampel ist zerbrochen, eine neue schwarz-rote Koalition wurde gewählt, auf die viele – auch ich – die Hoffnung gesetzt hatten, dass Friedrich Merz, der Wahlgewinner, seine Wahlversprechen einlösen würde.
Nichts davon steht heute noch auf seiner Agenda. Statt Schuldenbremse die Ermächtigung für eine Billion + X neuer Schulden. Statt Beerdigung des Heizungsgesetzes wird weiter am Netto-Null-Ziel der Dekarbonisierung festgehalten. Statt das Verbrenner-Aus zu kippen, bleibt es und wird allenfalls per „Technologie-Offenheit“ minimal aufgeweicht.
Statt „Links ist vorbei“ ermahnt Merz seine Mannen heute, den SPDler Klingbeil nicht so sehr zu kritisieren, da dieser schließlich sehr sensibel sei – und, statt, vom ersten Tage an die Grenzen dicht zu machen, bleiben sie weitgehend offen, und es werden immer noch Migranten auf Staatskosten eingeflogen, während die selten eingesetzten Abschiebeflieger weitgehend leer bleiben.
Vieles von dem, was vorne in der IST-Aufnahme zu finden ist, haben weitsichtige Kritiker vorhergesagt. Auch ich habe einiges prognostiziert, was dann eingetroffen ist. Manches kam mir ziemlich früh in den Sinn, manches auch erst, wenn schon die ersten Schäden eingetreten waren, aber noch etwas zu retten gewesen wäre. Ich will mich nicht mit allzu viel Eigenlob bekleckern, aber, dass ich, als der Entwurf der Europäischen Verfassung auf dem Tisch lag, einige Tage damit verbracht habe, dieses „Machwerk“ durchzuackern und im Ergebnis – als einer der ganz Wenigen, die das wagten – im Oktober 2004 den hier verlinkten Artikel „Europa in schlechter Verfassung“ geschrieben habe – das will ich mir auf die Fahnen schreiben. Dass ich 2007 über die Finanzkrise geschrieben habe, die heute meist auf 2008/2009 datiert wird, unter dem Titel „Das Beben der Märkte“, kann ich ebenfalls nicht unerwähnt lassen. Jüngeren Datums sind meine beiden Bücher „Wollt ihr das totale Grün?“ (auf Basis des Wahlprogramms der Grünen) und „Links abgebogen“ (auf Basis des Koalitionsvertrages der Ampel). Vieles würde ich darum geben, wären meine Prognosen nicht eingetroffen, doch die Fakten und die auf den Tisch gelegten Absichten ließen einfach keine anderen Schlüsse zu.
Nun, lieber Klaus, stehen wir vor der Frage, ob die Politik der letzten 25 Jahre für Deutschland eher positive oder eher negative Auswirkungen gehabt hat. Natürlich kann man das von unterschiedlichen Standpunkten aus beurteilen. Man kann der Auffassung sein, dass es gut ist, wenn Deutschland endlich wieder kriegstüchtig wird, weil Putin den Westen spätestens in vier Jahren angreifen wird. Man kann der Auffassung sein, dass es gut ist, wenn Energie in Deutschland um den Faktor drei teurer ist als in den USA, weil der hohe Preis das wirksamste Mittel ist, sparsam damit umzugehen und unnötige CO2-Emissionen zu vermeiden. Man kann der Auffassung sein, dass es gut für Deutschland ist, dass die Schuldenbremse weiter gilt, dass gleichzeitig aber auch zwei gigantische Sondervermögen geschaffen wurden, mit denen Investitionen (1/3 für zivile Belange, 2/3 für die Rüstung) gestemmt werden können. Man kann der Auffassung sein, dass sich die Demokratie nur bewahren lässt, wenn die Brandmauer steht und der Kampf gegen rechts nur entschlossen genug geführt wird.
Man kann allerdings auch zu gegenteiligen Schlüssen gelangen. Man kann Kriegstüchtigkeit als die Vorstufe zum heißen Krieg ansehen und sich die Frage stellen, ob es nicht auch diplomatische Wege gäbe, um die Beziehungen zu Russland zu entschärfen und zu normalisieren. Man kann die Politik der teuren Energie als verheerend für die deutsche Industrie ansehen, die damit sowohl an Wettbewerbsfähigkeit als auch an Umsatz und Rendite verliert, was bereits in einen Prozess der Deindustrialisierung geführt hat. Man kann auch der Auffassung sein, dass die sogenannte Klimapolitik und das so genannte Klima zwei Dinge sind, die nichts miteinander zu tun haben und, dass inzwischen nicht nur Indien und China, sondern auch die USA fleißig ihren CO2-Ausstoß erhöhen, ohne dass dafür Strafsteuern fällig würden, dass die Sorge um die Erderhitzung also offenbar sehr ungleich über die Welt verteilt ist, und sich Deutschland vielleicht doch einmal klar machen müsste, dass es nicht hunderte Geisterfahrer sind, die uns entgegenkommen.
Es gibt dazu noch ein unterstützendes, marktwirtschaftliches Argument: Wenn es nämlich so toll wäre, nur noch auf Erneuerbare zu setzen, dann müssten gerade jene Länder mit hohem Energiebedarf doch auf diese Technologien setzen und ihre konventionellen Kraftwerke reihenweise vom Netz nehmen, wie wir es tun. Tun sie aber nicht.
Man kann der Auffassung sein, dass auch die massivsten Investitionen in die Rüstung Konsumausgaben sind, noch dazu solche, die zu einem erheblichen Anteil an ausländische Lieferanten abfließen, während der Konjunktur-Impuls im Inland zwangsläufig zum Inflationstreiber werden muss, wie in wenigen Jahren auch die wachsenden Zinslasten nur über die Inflation getragen werden können. Inflation ist aber nicht nur Lohn-Preis-Spirale, sondern auch Vermögensentwertung.
Man kann auch der Auffassung sein, das der Kampf gegen rechts, symbolisiert durch die Brandmauer, im Grunde nichts anderes sei als eine Ausprägung des Prinzips „Teile und herrsche!“, und, um dies zu verifizieren, versuchen, einen eigenen Blick hinter diese Brandmauer zu werfen.
Zum Letzten will ich noch sagen, dass ich immer neugierig war und es heute auch noch bin, dass ich mich von Vorurteilen nicht daran habe hindern lassen, mir ein eigenes Bild zu verschaffen. Ich gebe zu, dass mir das speziell in den letzten 25 Jahren auch leicht gefallen ist, weil ich mir die Zeit dafür nehmen und einteilen konnte.
Ich habe mich nicht gescheut, Kontakte in die LINKE hinein zu pflegen, ich habe mich nicht gescheut, mich mit Grünen auszutauschen. Ich weiß auch, wo die Schwerpunkte von Sarah Wagenknecht liegen, und ich habe die AfD in ihrem zehnjährigen Bestehen interessiert beobachtet.
Natürlich ist der AfD das Gleiche passiert, was auch den Grünen passiert ist. Alle möglichen Figuren haben versucht, dort anzudocken. Bei den Grünen endete das nach vielen Jahren mit der Trennung zwischen Fundis und Realos, was der Partei übrigens nicht nur gutgetan hat. Bei der AfD ist der „gärige Haufen“ inzwischen auch weitgehend zur Ruhe gekommen, was weniger der Verfolgung durch den Verfassungsschutz und die politischen Gegner geschuldet ist, sondern einer großartigen, hochintelligenten Frau, der es gelungen ist, die ungeduldigen radikalen Stimmen zu beruhigen, und wo das nicht gelingen wollte, diese aus ihren innerparteilichen Funktionen oder ganz aus der Partei auszuschließen. Dass Alice Weidel dabei alle Kernforderungen der AfD bewahren konnte, zeugt von bewundernswertem Geschick als Führungskraft.
Ich kann mir natürlich vorstellen, und habe Verständnis dafür, dass es dir kaum einmal gelungen sein dürfte, einer mehrstündigen Bundestagsdebatte zu folgen. Für mich gehören zumindest die Haushaltsdebatten zum Kanzleretat zur Pflichtübung, doch ich schalte mit den Phönix auch dann einmal ein, wenn besondere Vorhaben zur Abstimmung stehen. Ich weiß, du wirst dafür keine Zeit haben. Dir müssen 60 oder 90 Sekunden Zusammenschnitt in der Tagesschau genügen.
Deswegen lade ich Dich ein, jetzt, hier und heute, wenigstens eine Rede von Alice Weidel, gehalten am 17. September 2025 in der Generaldebatte zum Haushalt, anzuhören. Etliches von dem, was sie anspricht, wird dir vermutlich vollkommen neu sein, etliches wird spontanen Unwillen erzeugen. Tu dir das aber trotzdem einmal an, mach dir Notizen und frage dich, wenn die 16 Minuten um sind, wo Frau Weidel falsch liegt, wenn man ihre Rede von originären deutschen Interessen her beurteilt.
Darüber können wir uns bei Gelegenheit noch einmal austauschen. Ist eine alte Kommunikations-Technik, erst einmal die Übereinstimmungen abzuhaken und dann die verbleibenden Punkte auf der so gefundenen Basis sachlich weiter zu behandeln.
Aber, das weißt du ja.