Das hätte eine Satire werden sollen.
Es ist ja nicht so, dass ich Stimmen höre. Aber wenn ich mich in bestimmte Gehirne hineinversetze, dann schnappe ich doch so manchen Gedanken auf. Das wiederum lässt mich verstehen, was geschieht. Obwohl ich kein Verständnis habe, für das, was ich auf diese Weise zu verstehen lerne, will ich Sie daran teilhaben lassen. Vielleicht geht es Ihnen wie mir. Sie verstehen, und je besser Sie verstehen, desto mehr geht jegliches Verständnis verloren.
Die Mühlen des Staates mahlen langsam. Die hochgefährlichen Worte des Norbert Bolz, volle sechs an der Zahl, also doppelt so viel, wie Höcke brauchte, um sich als staatsgefährdendes Element zu outen, wurden vor mehr als anderthalb Jahren in eine Tastatur getippt.
Doch nun ist der Fall endlich an der Reihe.
Die Sachlage ist klar, wie sie klarer nicht sein kann. Bolz hat zwar nicht seinen Personalausweis auf X (vormals Twitter) vergessen, wo sich das Verbrechen abspielte, aber er hat seinen Klarnamen hinterlassen. Das ist nicht verboten, aber das erhöht die Schwere der Schuld, denn er ist ja in gewissen Kreisen wohlbekannt und seine Stimme hat dort eine prägende Wirkung. Das darf man bei alledem, was jetzt gezetert wird, nicht vergessen.
Da wird auch immer ganz unschuldig gefragt, weshalb denn bei einer so klaren Sachlage eine Hausdurchsuchung angeordnet wird.
Mein Gott! Wie naiv kann man denn sein?
So eine Anklage muss doch wasserdicht sein. Sonst schaut der Richter den Staatsanwalt ganz komisch an und fragt, ob er nicht vielleicht doch noch etwas mehr in der Hand hätte.
Die Behörden wissen doch – und Sie könnten das auch wissen – dass es heutzutage gar nicht einfach ist, nachzuweisen, dass jemand einen Tweet wirklich selbst abgesetzt hat. Das ist ja nicht wie beim Blitzerfoto, auf dem der Verkehrssünder in der Regel deutlich zu erkennen ist. Wie viele haben schon behauptet, für den Tweet nicht verantwortlich zu sein. Hacker hätten sich Zugangsdaten gestohlen oder gekauft, gibt’s ja alles. Alles schon dagewesen.
Zur Beweissicherung ist die Hausdurchsuchung unumgänglich. Wenn man erst einmal sämtliche Rechner, samt Tastaturen, die Laptops und Tablets, die sich in einem so Hause finden lassen, samt den Smartphones konfisziert hat, kann man in aller Ruhe nach Fingerabdrücken suchen. Hat man die gefunden, ist der Beweis doch schon halb geführt. Der Mensch, der diese Fingerabdrücke hinterlassen hat, muss es gewesen sein. Selbstverständlich muss man auch die Dateien untersuchen, die gesamte elektronische Korrespondenz. Es ist doch üblich, dass, wer solche Taten verübt, seine Gesinnungsfreunde davon auch in Kenntnis setzt, damit sie die Schandtat selber auf Twitter oder X auffinden und sich daran delektieren können. Selbst wenn da nur an einen Freund gemailt worden sein sollte, und das im fraglichen Zeitraum von Januar 2024 bis heute, mit einem Text wie dem folgenden: „Schau doch mal auf X!“, dann mag das vom Verfasser für noch so unverdächtig gehalten worden sein, offenbart aber doch nur das Wissen um die Strafbarkeit und den Willen, seinen Tweet zu verbreiten.
Damit aber nicht genug. Ein schneller Blick über die Buchreihen in den Regalen verrät viel über den Besitzer. Ein halbes Dutzend Bände, von denen man meinen könnte, sie stünden auf dem Index, werden vorsichtshalber auch beschlagnahmt und einer näheren Prüfung unterzogen. Es können ja auf jeder Buchseite handschriftlich gekritzelte Notizen gefunden werden, aus denen weitere wertvolle Hinweise abgeleitet werden können und müssen. Es geht ja nicht nur darum, den Täter zweifelsfrei zu überführen, sondern auch darum, alle das Strafmaß beeinflussenden Tatsachen festzustellen, und da wird sich etwas finden, wenn man nur sucht.
Es gilt aber auch, entlastendes Beweismaterial zu sammeln. Da reicht es oft, auch gleich den Apothekenschrank mitzunehmen. Welche Medikamente nimmt er regelmäßig, können diese das kognitive Vermögen beeinträchtigen? Welche Kräutlein und Pülverchen sind in der ganzen Wohnung versteckt? Stand er womöglich unter dem Einfluss halluzinogener Substanzen?
Nur wenn da nichts, wirklich absolut nichts gefunden wird, kann er sich vor Gericht nicht auf Unzurechnungsfähigkeit herausreden. Von daher sind diese Fragen vordringlich zu klären.
Wie halboffiziell überliefert wurde, sollen die jungen Beamten, welche die Hausdurchsuchung durchführten, allerding sehr nett zu Herrn Bolz gewesen sein. Ich kann mir nur vorstellen, dass der immerhin 72-jährige Täter*) dies in altersbedingter Naivität und seniler Milde so wahrgenommen hat. Jedenfalls muss auch das untersucht werden, damit ggfs. eine Rüge ausgesprochen und eine Beförderungssperre verhängt werden kann, sollten sich die Beamten quasi mit dem Delinquenten verbrüdert haben.
*) hier stand anfangs „77-jährig“, das war falsch, wie mir ein Leser mitteilte. Ich bitte um Entschuldigung.
Schließlich geht es hier um eines der scheußlichsten Verbrechen, dessen sich ein Deutscher schuldig machen kann, nämlich die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Paragraf 86 a, StGB.
Was Bolz sich da geleistet hat, meine Herrn!, das war schon der Hammer, ach was, der Oberhammer. Dagegen ist die Strafandrohung von bis zu drei Jahren Knast ja geradezu lächerlich.
Natürlich kann ich seine Aussage hier nicht wiederholen, will es auch gar nicht noch einmal breittreten. Es waren zwei so genannte „Buzz-Wörter“, von denen jedes für sich harmlos ist, wie es auch oft bei chemischen Substanzen vorkommt. Man darf sie nur nicht zusammenbringen. Ich habe hier ein anschauliches Beispiel für Sie verlinkt.
Das eine Buzz-Wort ist, wie so oft „Deutschland“. Wer sich nicht ganz genau auskennt, mit den toxischen Wechselwirkungen, die im Zusammenhang mit anderen Buzz-Wörtern auftreten können, sollte „Deutschland“ besser aus seinem Sprachschatz tilgen. Das kann sehr viel Ärger ersparen. Wer sich aber auskennt, und „Deutschland“ gar nicht in den Mund nimmt, macht sich damit ebenfalls verdächtig, wie alle, die immer wieder versuchen, hart an der Strafbarkeitsgrenze zu agitieren und Grundrechte bis an den äußersten Rand auszuschöpfen.
Das andere Buzz-Wort ist dem, was die Polizisten im Morgengrauen wahrscheinlich gerufen haben, um sich Einlass zu verschaffen ohne die Haustür zu beschädigen, sehr ähnlich. Da könnte es geheißen haben: „Aufwachen, Herr Bolz. Aufwachen und aufmachen. Hier ist die Polizei!“
Für Herrn Bolz war das wahrscheinlich ein böses Erwachen. Er selbst meinte ja wohl im Nachhinein, er hätte die Realität erlebt, und sie sei so gewesen, wie sie ihm bisher nur aus Berichten und Schilderungen bekannt war. Aber eben richtig real. Aug in Aug mit den Vollstreckern. Das sei noch einmal etwas ganz anderes gewesen als das, was man so liest.
Ja. So soll es sein. Die Konfrontation mit dem staatlichen Gewaltmonopol muss einen bleibenden Eindruck hinterlassen, den der Täter nicht so schnell wieder vergisst.
Kontraproduktiv war da natürlich auch die Reaktion der „netten“ Beamten, die Herrn Bolz doch tatsächlich geraten haben sollen, künftig vorsichtiger zu sein. Was soll das denn heißen? Wo führt diese Empfehlung denn hin? Soll Herr Bolz so weitermachen, wie bisher, bloß vorsichtiger, um nicht mehr erwischt zu werden. Das grenzt ja schon an Strafvereitelung im Amt – und auch das ist strafbar.
Unfassbar auch, was inzwischen Schritt für Schritt ans Tageslicht gekommen ist:
Herr Bolz wurde überaus schonend behandelt. Es war nicht halb sechs, als das Durchsuchungskommando bei ihm läutete, sondern fast schon neun. Kein Wunder, dass es kein Foto von Herrn Bolz im Morgenmantel gibt! Außerdem, und das lässt mich wirklich sprachlos zurück, wurde nichts, nicht der kleinste USB-Stick, kein Smartphone, schon gar kein Rechner beschlagnahmt. Herr Bolz durfte den Laptop, auf dem er den Tweet abgesetzt hat, vorzeigen und den Tweet noch einmal öffnen, und dann hat die Polizei diesen Laptop mit dem Tweet einfach nur
f o t o g r a f i e r t !
Nein. Das geht gar nicht. Solche, wie der Bolz, die gehören eingesperrt – und das im Zweifel immer wieder. Natürlich hat der gewusst, was er da schreibt. Schließlich ist er alt genug. Er wäre ja fast noch selbst dabeigewesen. Da muss er gar nicht gewusst haben, dass das strafbar ist. Alleine die Gesinnung, die er da zum Ausdruck gebracht hat, genügt doch, um nur noch Verachtung zu empfinden.
Es läuft übrigens noch eine Prüfung, ob er sich nicht auch eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht schuldig gemacht hat. Schließlich wurden „Wachturm“ und „Erwachet“ beim Patentamt als Wortmarken eingetragen. Zwar nicht zu Gunsten der „Wachtturm Bibel‑ und Traktat‑Gesellschaft der Zeugen Jehovas, e. V.“, aber was Bolz da getweetet hat, war dem dann doch vielleicht schon zu ähnlich, um nicht in einen Zivilprozess verwickelt zu werden.
Sie mögen sich nun fragen, was an diesem Text Satire sein soll, weil er doch gar nicht lustig ist. Ich sage Ihnen, Satire kann gar nicht mehr lustig sein, in diesen Tagen in unserer Demokratie. Man muss schon froh sein, wenn man beim Lesen nicht in tiefe Depression verfällt.
Sie erinnern sich an Pastor Niemöller?
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.