München. Mutmaßlich.

Es gab einmal den Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung.

Dieser Rechtsgrundsatz beruhte auf der strikten Trennung zwischen der Tat, egal wie offenkundig sie vollzogen wurde, egal wie eindeutig der Täter identifiziert werden konnte, und der Schuld, die nur von einem Gericht unter Würdigung aller relevanten Umstände festgestellt werden konnte. Es sollte damit nicht nur der (medialen) Vorverurteilung  und der Lynchjustiz ein Riegel vorgeschoben werden, sondern auch und vor allem der Leumund des Rechtsstaats vor dem Versuch der Delegitimierung geschützt werden. Schön und gut.

Es durfte folglich jemand, der einen anderen Menschen umgebracht hat, so lange nicht „Mörder“ genannt werden, wie dieser nicht wegen Mordes verurteilt worden war. Es hätte sich schließlich auch als bloßer Totschlag oder als Körperverletzung mit Todesfolge herausstellen können, wenn nicht gar vom Gericht festzustellen gewesen wäre, dass der Täter aufgrund einer psychischen Störung zum Zeitpunkt der Tat vollends schuldunfähig war, also – im Zweifelsfall trotz Geständnis – als ebenso unschuldig anzusehen sei, wie ein Neugeborenes kurz vor dem ersten Schrei.

Für manche schwer nachvollziehbar, ja, aber dennoch einer der wichtigsten Grundsätze im Rechtsstaat.

Es hat sich eingebürgert, bis zum rechtskräftigen Urteil stets nur von mutmaßlichen Tätern zu sprechen. Durch diesen Kunstgriff, mit „mutmaßlich“, also dem Konstrukt der unbewiesenen Vermutung zu arbeiten, konnte über Straftaten gesprochen und berichtet werden, ohne den Schutz der Unschuldsvermutung zu durchbrechen. Auch wenn dies – vor allem im Boulevard – vom Tenor her gerne im Stil einer Vorverurteilung vorgetragen  und auch so aufgenommen wurde: Formaljuristisch war alles in guter Ordnung.

Medien und Politiker haben nun aber ganz massiv begonnen, die Unschuldsvermutung, die, wie vorstehend ausgeführt, nur für den Täter gelten kann, auf die Tat als solche zu übertragen.

Plötzlich ist – und das habe ich gestern mindestens zwanzig Mal gehört – von einem „mutmaßlichen“ Anschlag die Rede.

Da war nichts  mutmaßlich, gestern in München.

Da hat ein Mann, wie sich bald herausstellte war es ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber, einen Pkw der Marke „Mini“ mit hoher Geschwindigkeit in eine Menschengruppe gesteuert und dabei eine Vielzahl von Menschen verletzt.

Für die plakativ-populistische Sprache, derer man sich gerne bedient, ist dieser den Vorgang beschreibende Satz jedoch viel zu lang. Man kann zwar in jedem zweiten Satz statt „die Bürger“ zu sagen, die an den Sermon von „Risiken und Nebenwirkungen, Ärztin, Arzt und Apotheke“ erinnernde Pflicht-Feministinnen-Floskel „die Bürgernnn und Bürger“ verwenden, aber für eine klare Beschreibung einer fürchterlichen Tat reichen weder Zeit noch Druckerschwärze. Da muss ein griffiger Begriff her, und da fragt man sich, was es denn gewesen sein könnte.

„Bluttat“ klingt für woke Ohren viel zu martialisch. Das kann man nicht sagen. Mit „Massaker von München“ ist man gleichermaßen schlecht bedient, das wäre ja geeignet, Teile der Bevölkerung zu verunsichern und damit den Falschen in die Hände zu spielen. „Terrorakt“? Bloß nicht. In Deutschland herrscht innere Sicherheit. Wie soll es da zu einem Terrorakt kommen?

Also wählt man das harmloseste Wörtchen, das zur Verfügung steht, und spricht von einem Anschlag. Evangelische Christen mit vertieften Glaubenskenntnissen denken da an Martin Luther, der seine 95 Thesen an die Tür der Klosterkirche zu Wittenberg angeschlagen hat. Andere denken an die Kollegin, die trotz grippalem Infekt zur Arbeit erschienen ist und dabei schon ziemlich angeschlagen wirkte.

Nun wird Anschlag alleine aber immer noch von vielen als Synonym für „Attentat“ verwendet, was selbst den weichgespülten „Anschlag“ noch problematisch macht, weil damit ja die Absicht, bzw. der Vorsatz untrennbar verbunden ist.

Das führt dann zum mutmaßlichen Anschlag.

Damit ist von der Tat nichts mehr übrig, außer eben einer unbewiesenen Vermutung. Das hat schon fast den Rang einer Verschwörungstheorie, und ich mutmaße, dass dies auch die Absicht ist.

Die Verletzten und Schwerverletzten, die in München vom afghanischen Minilenker niedergemäht wurden, sind vom Radar verschwunden. Es war ja nur mutmaßlich irgendetwas los, da am Stiglmaierplatz. Nichts Genaues weiß man nicht.

Dann tauchte das Gerücht auf, der mutmaßliche Täter des mutmaßlichen Anschlags sei eben nicht nur langjährig abgelehnter Asylbewerber, sondern auch noch polizeibekannt. Huch! Das geht ja auch nicht. Und schon wurde abgewiegelt. Polizeibekannt, das will ja nichts heißen. So schlimm war der doch gar nicht. Verurteilt sicherlich auch noch nie. Es fehlte nur noch die Feststellung, dass „polizeibekannt“ doch nicht in jedem Fall bedeutet, dass es schon einmal zu einer Hausdurchsuchung gekommen wäre. Nein, nein.

Bernd Zeller, der ungemein produktive Großmeiser der treffsicheren Pointe hat in seinem Online-Satireblatt „Zeller Zeitung“ dazu sinngemäß angemerkt:

Um den Vorurteilen entgegenzuwirken, die jetzt schon wieder gegen Afghanen aufgebaut werden, sollten jetzt schnell und gezielt viele Menschen aus Afghanistan nach Deutschland geholt werden, die nicht polizeibekannt sind und noch nichts auf dem Kerbholz haben.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Hier finden Sie das Original in der Zeller Zeitung.