Moloch Metropolis – München frisst das Umland auf

Es ist lange her, dass ich aus München endgültig weggezogen bin. Im guten, nicht luxussanierten Altbau bekam man damals noch für 8 bis 9 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter eine Wohnung. Wenn man Glück hatte. Wenn man kein Glück hatte, bekam man keine Wohnung.

Es ist auch lange her, dass ich das Mega-Stummfilm-Opus „Metropolis“ in einer restaurierten Fassung mit Klavierbegleitung in einer zum Liebhaber-Kino ausgebauten alten Scheune gesehen habe.

Die Elite von Metropolis hatte sich noch die Mühe gemacht, die für den Betrieb der Stadt notwendige Arbeiterschaft tief unter der Stadt in riesigen Stollen und Kavernen, zusammen mit der großen Maschine unterzubringen, die die Stadt mit Energie versorgte.

Heute, da man „woke“ und „human“ geworden ist, macht man es sich einfacher. Sollen sich die Leute doch eine Wohnung suchen. Wo? Wo ist uns egal. Hauptsache sie erscheinen pünktlich zur Arbeit und machen ihren Job bis zum Feierabend.

Wo aber soll eine Einzelhandelsverkäuferin, die sich tagsüber in einem Laden in Sendling oder Solln für 1600 Euro netto im Monat die Beine in den Bauch steht, zur Nacht ihr müdes Haupt zur Ruhe betten?  Für 500 Euro Kaltmiete lassen sich 15 bis 20 Quadratmeter finden. Wenn man Glück hat. Wohnungssuchende mit schmalem Budget haben in München aber schon lange kein Glück mehr.

Da sucht man dann eben nicht mehr in der Stadt, sondern im Landkreis München. Da soll zuletzt in Brunnthal eine Wohnung mit 15,27 Euro Kaltmiete vermietet worden sein. Entfernung zum Stadtzentrum 15 Kilometer. Kein Problem, gibt ja den MVV und das Deutschland-Ticket. Da kann man mit 500 Euro doch schon 30 Quadratmeter bezahlen. Falls eine 30-Quadratmeter-Wohnung angeboten wird und nicht schon weg ist, wenn man, wie jeden Abend nach der Arbeit im Internet die Angebote durchsucht.

Bis vor ein paar Jahren waren auch noch Wohnungen in Augsburg, Ingolstadt und Rosenheim für München-Pendler zu finden. Aktuell liegt die durchschnittliche Kaltmiete für den Quadratmeter in Augsburg bei 14,24 Euro, bei 14,30 Euro in Ingolstadt und 14,66 in Rosenheim. Da kann man mit der Bahn in vollen Zügen nach München pendeln und sich auf 35 Quadratmeter behaglich ausdehnen.

Doch dieser Tage habe ich den Eindruck gewonnen, dass Augsburg, Ingolstadt und Rosenheim, samt der umliegenden Dörfer inzwischen auch voll sind.

Wie ich darauf komme?

Meine private Altersvorsorge steckt in einer zur Hälfte selbstgenutzten, zur Hälfte vermieteten Immobilie, hier in Elsendorf.

München kann man an guten Tagen in einer Stunde per Autobahn erreichen. Dazu kommt die individuelle Fahrzeit in München selbst, je nachdem, wohin man muss. Oft kommt man auch in einer guten Stunde wieder von München nach Elsendorf. Oft dauert es aber auch deutlich länger. Auf alle Fälle kommen in einem durchschnittlichen Monat 3.000 Kilometer Fahrstrecke zusammen, die auch bei sparsamer Fahrweise alleine an Sprit fast 400 Euro kosten. Der Versuch, zwischen München und Elsendorf mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu pendeln ist ein Abenteuer, das auf den Fahrplan-Seiten der Bahn so aussieht:

Wieweit sich die hier angegebenen Preise für die einfache Fahrt durch spezielle Pendlerangebote der Bahn reduzieren lassen, habe ich nicht geprüft, mir reichen die angegebenen Fahrzeiten.

Im Augenblick ist bei mir eine kleine möblierte Wohnung mit 45 Quadratmetern Wohnfläche frei geworden. Ich habe sie über eines der großen Portale angeboten, und habe, nach 13 Jahren,  in denen ich diese Wohnung schon fünf Mal angeboten habe,

erstmals Anfragen von Menschen erhalten, die in München arbeiten.

Das waren aber nicht eine oder zwei Anfragen, es war ein rundes Dutzend. Darunter auch zwei Auszubildende, allesamt mit Nettolöhnen unter 2000 Euro.

Hier laufen zwei Trends – mit verheerenden Folgen – vollkommen auseinander.

Die bayerische Metropole zieht Menschen aus ganz Deutschland und weit darüber hinaus an, weil es hier nicht nur gut bezahlte Jobs gibt, sondern auch, weil die Lebensqualität in München immer noch ziemlich hoch eingeschätzt wird. Übers Wochenende an den Garda-See, im Winter zum Skifahren nach Tirol, und in der Stadt jede Menge Kultur, von der Live-Musik in der Kellerkneipe bis zum Auftritt der ganz Großen in der Olympia-Halle, von der Kleinkunstbühne in Schwabing bis zur Staatsoper: Alles geboten. Eine Ärztedichte, von der am Land niemand zu träumen wagt, und, und, und.

Diese Menschen, die sich München leisten können, verlassen sich darauf, dass ihnen die Stadt alle erwünschten Dienstleistungen anbietet und schaffen damit einen „zweiten Arbeitsmarkt“, der überwiegend aus Billigjobs besteht, die vom Paketboten bis zum Streifenpolizisten,  vom Regaleinräumer im Supermarkt bis zu den Reinigungskolonnen reichen, die nächtens durch die Büroetagen ziehen. Für diese Menschen ist in München allerdings nach getaner Arbeit kein Platz mehr.

Sie sind weiter vom Leben in der Stadt weg als es die Arbeiter in Metropolis waren.

Es gibt damit auch kein „soziales Gefüge“ mehr, das noch tragfähig wäre. Was München zusammenhält, das ist alleine die Tatsache, dass es dort eben diese Jobs gibt, die es ermöglichen, einen bescheidenen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Doch wie lange und wie weit kann sich das noch fortsetzen?

Wenn mir in diesen Tagen Menschen begegnet sind, die in Elsendorf wohnen wollen, weil sie in München arbeiten müssen, dort aber keine Wohnung finden, die sie bezahlen können, und für den Unterschied in der Miete täglich rund drei Stunden Fahrzeit mit dem eigenen Pkw in Kauf nehmen wollen, dann erachte ich dies als einen absolut ungesunden Zustand.

In den jungen Jahren der Republik fühlten sich viele Arbeitgeber dafür verantwortlich, den Wohnraum für ihre Beschäftigten selbst zu schaffen. Seit den 1990 Jahren hat sich dies gewandelt. Betriebswohnungen wurden in Eigentumswohnungen umgewandelt und hauptsächlich an „Investoren“ verkauft. Zur Jahrtausendwende wurden zum Beispiel 114.000 Wohnungen aus dem Bestand der Deutschen Bahn für 7,1 Milliarden DM (Durchschnitt 62.300 DM/Wohnung, etwa 1000 DM/Quadratmeter) verkauft, alleine 64.000 an die Deutsche Annington, hinter der die  japanische Finanzgruppe Nomura International steht. Wer erinnert sich noch daran, dass alleine SIEMENS in München Anfang der 50er Jahre, nahe dem Standort Hofmannstraße, eine „Siemens-Siedlung“ mit 528 Wohneinheiten errichete, die 2009, zusammen mit dem gesamten übrigen Wohnungsbestand der SIEMENS AG verkauft wurden? 

Diese und noch viele Wohnungen mehr, waren längst vollständig bezahlt. Laufende Kosten entstanden lediglich noch für den Unterhalt und notwendige Sanierungen und Renovierungen. Sie hätten von den ehemaligen Eigentümern mit guter Rendite weiterhin als preiswerte Wohnungen vermietet werden können, doch es erschien lukrativer, die Stillen Reserven, die in diesen Immobilien steckten, zu heben und den neuen Eigentümern zu ermöglichen, mit deren Geschäftsmodellen neue Renditen zu generieren.

Auch dies war ein Stück Abschied von der Sozialen Marktwirtschaft, der sich parallel zum Einstieg in die Globalisierung vollzogen hat.

Ich füge hier ein Zitat ein, das – auch wenn es sich auf die Corona-Zeiten in diesem, unserem Lande bezieht – eine erschreckend zeitlose Dystopie transportiert:

Jacques Derrida hat bereits in den frühen 90ern von einem subtilen Totalitarismus gesprochen, was die westlichen Gesellschaften betrifft. Aber wenn nicht Corona, was überhaupt noch könnte die Menschen aus dem digital-toxischen Delirieren aufscheuchen? Mehr an Einsperren und Untertanenbekundungen geht kaum.
Bei Schiller, der Wilhelm Tell den Kniefall vor Gesslers Hut verweigern lässt, ist noch klar, dass es dabei nicht einfach um ein motorisches Programm geht, sondern dass die menschliche Würde auf dem Spiel steht.
Heute ziehen die Gebildeten die Maske über, als handelte sich um die Endgeste einer Zivilisation, die nicht nur alles andere überragt, sondern darüber hinaus zu sich gefunden hätte. Hat sie in der Tat, Kinder. Ganz zu sich und zu nichts anderem.

Das Zitat stammt von Teer Sandmann, dessen Buch „Golo spaziert“ ich zu verlegen die Ehre hatte. Es stammt aus seinem neuen Buch „Raffen Sterben Trance“ das er mir dieser Tage angekündigt hat. Wer den Golo gern gelesen hat, wird auch an diesem Buch seine Freude haben. Es kann direkt bei tredition.com bestellt werden. Eine ausführliche Rezension von mir folgt, sobald ich das Buch gelesen habe.

Es ist die menschliche Würde, die allerorten auf dem Spiel steht.

Nicht nur in der Verweigerung der Menschenrechte, wie zu Corona-Zeiten, sondern auch auf vielen anderen Feldern, wie zum Beispiel eben auch in der Wohnungspolitik, die mit provoziertem, massivem Zuzug in den deutschen Wohnungsbestand, bei unzureichendem Neubau, mit zudem den Bau extrem verteuernden Vorschriften, eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft schafft, zwischen der es immer weniger menschliche Berührungspunkte gibt, weil der Abstand zwischen Unten und Oben nicht mehr nur am Einkommen zu erkennen ist, sondern auch an der territorialen Distanz, die zwischen den Klassen Kilometer um Kilometer vergrößert wird.

Der unterirdische Teil von Metropolis gewinnt Gestalt.