Liebeserklärung an die Bahn

Weil die Bahn von so vielen so krass kritisiert wird

 

Über Jahrzehnte bin ich der Bahn untreu gewesen. Als Jüngling, hauptsächlich so in den Jahren 1960 bis 1970, war ich mit der Bahn noch auf du und du. Rund Hunderttausend Kilometer habe ich mich in dieser Zeit auf Schienen fortbewegen lassen. In den beiden letzten Jahren dieser Zeit waren es die wöchentlichen Fahrten von der Kaserne nach Hause und wieder zurück. Immer pünktlich, bei jedem Wetter. 

Dann kam das erste Auto und vorbei war es mit der Bahn. Wenn man erst einmal ein Auto hat, fährt man auch damit. Egal, dass das Selberfahren ermüdet, egal, dass man ziemlich viel Geld  in den Tank steckt. Egal, dass du das Auto selber sauberhalten musst. Die Investition muss sich rentieren, und so wird halt chauffiert, chauffiert, chauffiert.

Nun, ich bin älter geworden, und als ich eingeladen wurde, nach Berlin zu kommen, bin ich nach längerem Überlegen zum Schluss gekommen, es diesmal doch wieder mit der Bahn zu versuchen.

Ich bin älter geworden. Die Bahn, durfte ich feststellen, ist jünger geworden: Spontaner, unkonventioneller, lockerer, fortschrittlicher und deutsch-digitaler.

Man muss da nicht mehr zum Schalter am Bahnhof, um einem Bahnbeamten dabei zuzusehen, wie er schwitzend eine komplizierte Verbindung aus dem Kursbuch heraussucht, dann von Hand ein Fahrkärtchen beschriftet und den Fahrpreis kassiert. 

Das macht man heute online alles selber. Ich habe das rund fünf Wochen vor Reiseantritt gemacht. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, denn während ich noch die Verbindung für die Rückfahrt heraussuchte, bin ich wie von Zauberhand von der Bahn weggeflutscht und bei Ameropa gelandet, wo man mich fragte, ob ich schon wüsste, wo ich übernachte. Dann schlug man mir eine Reihe von Hotels vor, von denen ich eines auswählte und mich auch darum nicht mehr gesondert kümmern musste. Ich bekam nicht nur die Fahrscheine elektronisch nach Hause übermittelt, sondern auch die kompletten Fahrpläne, ausführlich, mit allen Umsteigestationen, und dazu die Buchungsbestätigung fürs Hotel, und der Gesamtpreis der Reise wurde auch abgebucht, ohne dass ich dafür noch extra einen Finger rühren musste.

Das nenne ich Komfort! Noch keinen Meter gefahren und schon so verwöhnt.

Aber es wird ja noch schöner.

Am Tag vor der Abreise habe ich mir die Reiseunterlagen noch einmal genauer angesehen und zu meiner Freude festgestellt, dass mir für die Rückreise in beiden Zügen (Berlin-Nürnberg und Nürnberg-Ingolstadt) Sitzplätze reserviert worden waren. Zudem fand ich im umfangreichen Anschreiben von Ameropa auch noch den Hinweis, dass ich selbstverständlich immer noch Sitzplatzreservierungen hinzubuchen könne. Das erschien mir verlockend. Man hört ja immer wieder Gerüchte von übervollen Zügen und Reisenden, die stundenlang auf ihren Koffern auf dem Gang sitzen. Das wollte ich nicht.

Schnell war es mir wieder gelungen, die gebuchte Verbindung zu finden, an die ich mittels Zugbindung gebunden war, und stellte zu meiner Freude zweierlei fest:

  1. Ich konnte noch Reservierungen für die Hinfahrt vornehmen und habe das auch getan. 6,90 Euro, da kann man nicht klagen.
  2. Ich erfuhr auf diese Weise, dass ich meine Reise nicht um 8.18 Uhr in Abensberg mit dem Regionalzug nach Ingolstadt beginnen würde, sondern schon um 8.00 Uhr per Schienenersatzverkehr (also Omnibus), ebenfalls ab Abensberg bis Neustadt an der Donau, wo dann ein Zug zur Weiterfahrt nach Ingolstadt bereitstehen würde.

Ich nehme an, erfahrene Bahnreisende machen das grundsätzlich so, dass sie unter Beachtung der kommunikativen Holschuld vor Reiseantritt schnell noch einen Sitzplatz reservieren, um dabei gegebenenfalls darauf hingewiesen zu werden, was sich an den per Zugbindung gebundenen Zugverbindungen geändert hat. Gilt ja nur für den Fahrgast, die Zugbindung. Da war ich richtig stolz auf mich, dass ich von selbst darauf gekommen war, und dass mir die moderne, junggebliebene und so flexibel gewordene Bahn den Hinweis geben konnte, dass ich zwanzig Minuten früher am Bahnhof in Abensberg sein sollte, wenn ich meine reservierten Sitzplätze auch besetzen wolle. Da kann man nicht meckern. Das funktioniert alles zuverlässig wie ein Uhrwerk, da greift ein Rädchen ins andere.  Faszinierend.

Der Busfahrer muss früher Rallye gefahren sein. Schon in der ersten Kurve, als ich fast aus dem Sitz gekippt wäre, beschloss ich, mich bis zum Ende der Fahrt eisern festzukrallen. Glücklicherweise habe ich keinen empfindlichen Magen. Jedenfalls war der Bus – und das nur aufgrund des besonderen Fahrstils unseres begnadeten Chauffeurs – so pünktlich in Neustadt an der Donau, dass das Umsteigen in jenen Zug, der es an diesem Tag vorgezogen hatte, nicht in Abensberg zu halten, auch ohne Spurteinlage möglich war. Kaum die kleine Einstiegstreppe in den Regionalexpress überwunden, leuchtete mir ein strahlend weißer Zettel entgegen, auf dem geschrieben stand: „WC defekt – Wir bitten um Entschuldigung“.

Ich dachte mir: „Das kann ja mal passieren, und wirklich müssen muss ich auch nicht.“

In Ingolstadt, an Gleis 4, auf den ICE 882 wartend, hörte ich dann gut verständliche Lautsprecheransagen. Kein Vergleich zu früher, damals verstand man die Ansagen der Bahnhofslautsprecher meistens überhaupt nicht. Man wusste allerdings aus Erfahrung sowieso, was angesagt wurde. Es war ja immer das Gleiche: „Auf Gleis 5 fährt ein der Eilzug nach Coburg über Nürnberg, Bamberg, Lichtenfels, planmäßige Ankunft 14. 43 Uhr“, oder eben, „Achtung auf Gleis 1, bitte einsteigen  und Türen schließen, der Zug fährt ab.“ Man brauchte nur einen Blick auf die Bahnhofsuhr zu werfen, um zu wissen, was als nächstes angesagt werden würde.

Aber es ist gut, dass hier Verbesserungen durchgeführt wurden, denn heute hat man wohl auch mehr und Abwechslungsreicheres zu sagen. Ich hörte nur halb hin, dann aber heraus, es habe Vandalismus gegeben, so dass der Anschlusszug, der ICE 800, von Nürnberg aus nicht schnurstracks mit schrillem Schrei nach Norden über Bamberg, Coburg, Erfurt fahren könne, sondern erst einmal scharf links nach Würzburg, wo er sogar halten würde, was sicherlich viele Würzburger erfreut hat, denen damit spontan eine zusätzliche Reisemöglichkeit nach Berlin angeboten wurde.

Erst wieder zu Hause, habe ich mir den Fall von Vandalismus  ergoogelt. Bei Hirschaid hat es in einer Unterführung im Bahnhof gebrannt.  Die über der Unterführung befindlichen Gleise hätten dadurch in einem Maße in Mitleidenschaft gezogen worden sein können, dass vor Einholung des Gutachtens eines staatlich vereidigten Sachverständigen kein Zug mehr darüber rollen durfte. Und natürlich hat sich die Bahn daran gehalten. Wer hat so etwas von Fürsorglichkeit schon einmal anderswo erlebt? Mir ist mein Leben lieb, und die Bahn hat gezeigt, dass ihr auch das Leben ihrer Passagiere lieb ist. Das wärmt das Herz.

Aber damit nicht genug. Wegen dieser Unannehmlichkeiten hat die Bahn ihren Fahrgästen ein paar zusätzliche Meilen ohne Aufpreis spendiert, und so manch einer wäre sonst nie in den Genuss gekommen, Würzburg vom Bahnhof her zu sehen.

Die zusätzlichen Meilen waren allerdings auch mit zusätzlicher Zeit verbunden. Zu Beginn genoss ich im Großraumwagen den lange vermissten Sound des Großraumbüros. Leise klappernde Tastaturen von gefühlten hunderte Laptops, dazwischen gedämpfte Stimmen der unermüdlichen Smartphone-Telefonierer – man fühlte sich auch als Rentner wieder mittendrin im vollen Leben. Ein wunderschönes, geradezu nostalgisch-romantisches Erlebnis. Falls jemand dringend Fachkräfte sucht: Setzen Sie sich in den ICE. Da sitzen die alle drin. Garantiert.

Weil mir klargeworden war, dass ich so spät in Berlin ankommen würde, dass es für den geplanten Besuch in einem Straßencafé  (Ich wollte unbedingt mal wieder eine Berliner Weiße mit Waldmeister.) nicht mehr reichen würde, wollte ich noch rechtzeitig zur Abendveranstaltung kommen, machte ich mich auf ins Bordrestaurant. „Hähnchen Tikka Masala mit Basmatireis“ war im Angebot. Warum dieses Gericht so schmeckte, wie es schmeckte, konnte ich nicht ergründen. Meine erste Idee war, man wollte möglichst viele Fahrgäste vom Besuch im Bordrestaurant nachhaltig abschrecken, um endlich das Problem der Überfüllung der Bordrestaurants und das damit verbundene ewige Ausverkauftsein aus der Welt zu schaffen. Dann aber dachte ich mir, dass die Bahn ja nichts dafür kann, was der Caterer da anliefert, und dass man dort in den Chefetagen, wo die Verträge mit der Bahn ausgehandelt werden, natürlich auch nicht weiß, was die Köche da anrühren. Wahrscheinlich hatte einfach ich das Pech, genau jene letzte Portion zu erhalten, die sich aus dem Bodensatz bitterer und leicht angebrannter Gewürze und einigen totgekochten Hähnchenbrocken noch aus der Kippbratpfanne herauskratzen ließ. Aber das entspricht ja schließlich dem Nachhaltigkeitsprinzip: Nur nichts verkommen lassen! Da will ich nicht meckern.

Weil ich dann doch ungefähr die Hälfte in der Schüssel gelassen habe, gelang es mir immer noch, meinen Einzelplatz am Fenster in Fahrtrichtung links wieder einzunehmen, ohne den Bauch übermäßig einziehen zu müssen. Eng ist das schon, heutzutage in der Bahn. Früher, in den 6er-Abteilen mit Tür zum Gang, war nach meiner Erinnerung mehr Platz. Ich saß auch schon in Economy-Sitzen in Flugzeugen, wo es weniger eng zuging. Aber auch die Enge kommt schließlich nur den Bahnkunden zugute. Mehr Platz für einen hieße schließlich weniger Plätze für alle, und viele freuen sich doch, überhaupt einen Platz zu bekommen. Außerdem predigt auch der Bundespräsident ständig vom Zusammenhalten und Zusammenrücken und Unterhaken und so. Die Bahn zeigt dir auf subtile Weise dass das geht, und vor allem, dass es gar nicht so schlimm ist. Bahn ist nicht wie U- oder S-Bahn. Die Fahrgäste riechen nicht, und wenn, dann ganz dezent nach Rasierwasser oder Parfum. Das kann durchaus auf die Preispolitik der Bahn zurückzuführen sein, mit der eine Art natürlicher Schranke zwischen den Welten aufgerichtet wurde. Durchaus angenehm. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob nicht durch Wegfall der Subventionen und eine gewinnorientierte Preisgestaltung auch im Öffentlichen Personennahverkehr eine Verbesserung der Hygienesituation erreicht werden könnte. Was einem halt so durch den Kopf geht, in der Bahn.

Statt fahrplanmäßig um 14.22 erreichte ich Berlin gegen 16.15 Uhr. Im Taxi, das sich mühsam durch den Berliner Straßenverkehr kämpfte, wurde mir erst so recht bewusst, wie schön Bahnfahren ist. Man hat einen Fahrplan. Im Taxi hat man keinen. Man lästert über die Bahn, weil sie nicht ganz pünktlich ist, aber man lästert nicht übers Taxi, weil da von vornherein vollkommen offen bleibt, wie lange die Fahrt dauern wird. Bei der Bahn ist auch bei zwei Stunden zusätzlicher, also quasi geschenkter Fahrzeit, kein zusätzlicher Fahrpreis fällig, beim Taxi zahlt man für jeden Kilometer und jede Minute, auch für jede Minute Stillstand.

Das von Ameropa empfohlene Hotel mit seinen vier Sternen will ich nicht weiter besprechen. Hier geht es heute schließlich um meine neue Liebe zur Bahn. Nur auf eine Besonderheit will ich hinweisen. Ich hatte nicht die Zeit, das Bett auseinander zu bauen und die ihm innewohnende geheime Mechanik zu ergründen. Was von außen wie ein normales Bett aussah, verwandelte sich nämlich beim Hineinlegen augenblicklich in eine Hängematte. Kopf und Füße in etwa auf gleicher Höhe, die Körpermitte um gefühlt vierzig Zentimeter tiefer. Kaum ausgestiegen, war aber auch schon wieder die Anmutung eines Bettes vorhanden.

Ich war daher sehr früh wieder wach.

Auch hier bewundere ich das Zusammenwirken von Bahn und Ameropa. In einem anderen Hotel hätte ich womöglich bis halb neun geschlafen, gemütlich gefrühstückt, den Vormittag verbummelt, um dann um 13.34 in den ursprünglich geplanten Zug zu steigen, der aber – wegen Hirschaid – ebenfalls über Würzburg gefahren wäre, um mit mindestens 90 Minuten Verspätung in Nürnberg anzukommen, wo der gebuchte Anschlusszug natürlich längst weggewesen wäre.

So war ich immer noch sehr früh beim Hotelfrühstück, auch früh auf der Straße, schnell im Taxi, bald auch am Hauptbahnhof und bei einer DB-Servicestelle, wo ich einer freundlichen Angestellten mein Ticket unter die Nase hielt und fragte: „Geht das auch früher? Kann ich umbuchen, trotz Zugbindung? Was kostet das?“

Nach weniger als 10 Minuten wusste ich, dass die Zugbindung wegen des Vandalismus-Problems in Hirschaid aufgehoben sei, dass ich also kostenlos jeden anderen Zug benutzen könne, und dass ich schon in einer knappen Stunde, um 10.38 in den ICE nach Göttingen steigen könne, wo ich dann um 12.50 Uhr ankäme und am gleichen Gleis um 13.02 mit dem ICE 537 direkt bis Ingolstadt durchfahren könne, um dann mit dem Regionalzug und dem Schienenersatzverkehr um 16.47 in Abensberg anzukommen.

„Ja“, sagte ich, „das mache ich so“. Ich bekam zwei Stempel und eine Unterschrift, sowie vier Blatt DIN A4 mit meiner neuen Zugverbindung und fragte dann, was mit meiner Sitzplatzreservierung sei, ob die auch übertragen werden könne. 

„Ja, das geht“, meinte die überaus freundliche und kompetente Mitarbeiterin des DB Reisezentrums im Hauptbahnhof Berlin. Es ging dann allerdings wirklich erst ab Göttingen, aber damit war ich dann auch zufrieden. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Die Fahrt von Berlin nach Göttingen blieb weitgehend ereignislos, zog sich aber irgendwie unwirklich dahin. Die Anzeigetafel an der Wagendecke zeigte immer neue Ankunftszeiten für Göttingen an. Ich fürchtete schon, zum Anschlusszug sprinten zu müssen. Aber noch war Hoffnung. Es gab dann auch noch einen medizinischen Notfall im Zug, im Wagen 6, aber das kann nicht zur Verspätung beigetragen haben. Am nächsten Bahnhof wartete schon der Krankenwagen und – ich habe es gesehen – der Notfall war ganz schnell draußen.

Ach ja, einen „Zwischenfall“ gab es doch noch. Da war wohl eine Gleisbaustelle und nur eingleisiger Betrieb. Natürlich kann das niemand vorhersehen. So eine Gleisbaustelle ist so etwas wie eine urplötzlich hereinbrechende höhere Gewalt. Was nicht vorhergesehen werden kann, kann auch nicht eingeplant werden. Von daher liegt da keine Schuld bei der Bahn, sondern ausschließlich bei der Gleisbaustelle. Wir warteten also, statt mit 200 Sachen durch die niedersächsische Prärie zu rauschen, insgesamt drei Gegenzüge ab. Das war nicht schlimm, denn der Zugführer hatte sich für diese Pause ein schönes, schattiges Plätzchen im Grünen ausgesucht, wo es sich gut aushalten ließ.

Langer Rede kurzer Sinn: Als der Zug in Göttingen einfuhr, hatte sich der als Anschlusszug gebuchte ICE 537 bereits aus dem Staub gemacht. Einfach weg. Samt meinem reservierten Sitzplatz. Da wäre mir doch für einen Augenblick fast die Lust am Bahnfahren vergangen. Aber das war voreilig, wie sich schnell herausstellte.

In einer Traube von Menschen stand, dank Uniform als Bahnmitarbeiter erkennbar, ein Mann in Göttingen auf dem Bahnsteig wie ein Fels in der Brandung. Es gelang mir, bis zu ihm vorzudringen und ihn zu fragen, wie ich denn jetzt wohl nach Ingolstadt käme. Da entspannte sich sein Gesicht. Das wusst er. Für einen Augeblick sah er überglücklich aus, als er mir mitteilen konnte, schon in einer knappen Stunde könnte ich in den planmäßigen ICE 789 steigen, wenn der nicht wegen einer technischen Störung nicht fahren werde. Stattdessen sei aber der ICE 2949 als Ersatzzug zusammengestellt worden, leider fehlten dem im Vergleich zum 789 einige Sitzplätze, aber ich käme damit auf alle Fälle direkt nach Ingolstadt.

Proppevoll war er, der Ersatzzug, und mein reservierter Sitzplatz war mir längst unbesetzt vorausgeeilt. Doch zu meiner Überraschung stand ich auf meiner Wanderung durch den Zug plötzlich bei vier (in Ziffern: 4) freien Sitzplätzen nebeneinander, die offenbar von allen anderen Bahnreisenden aus unerklärlichen Gründen verschmäht wurden. Es war auch keine Reservierung angezeigt (wie denn auch, beim frisch zusammengebauten Ersatzzug?) und als ausreichend viele Mitreisende an mir und den freien Sitzplätzen vorbeigezogen waren und der Zug sich in Bewegung setzte, saß ich da dann auf einem davon.

An der Rückenlehne des Vordersitzes entdeckte ich dann das Geheimnis. Diese Plätze waren dauerreserviert, für Leute mit BahnBonus-Status-Level „Gold“ oder „Platin“. „Bahnbonusstatuslevel“, das muss sich erst mal einer ausdenken! Ob ich, durch die Inbesitznahme eines dieser Plätze autmatisch den Status „Gold“ erhalten habe, oder ob ich ihn vorher irgendwie hätte erwerben müssen, konnte ich nicht mehr klären.

Kurz vor Ingolstadt kam dann noch ein Fahrscheinkontrolleur des Wegs, den ich fragen konnte, wie es denn von Ingolstadt aus weitergehen würde. Kein Problem meinte der, griff zu seinem mobilen digitalen Anzeigegerät, um nach etwa zwei Minuten zu erklären, in diesem Zug sei das WLAN wieder einmal ein WLAHM, weshalb er jetzt auf LTE umschalte, es sei ja nicht sein Geld. Tatsächlich hatte er nun blitzschnell die Fahrpläne vor Augen, sagte mir Ankunfts- und Abfahrzeiten durch und bot mir an, dies alles auf mein Handy zu übertragen. Als ich ihm erklärte, dass ich seit drei Jahren kein Handy mehr mit mir führe, weil ich gar keines mehr habe, weil ich es einfach nicht brauche, belehrte er mich zunächst mit freundlichem Lächeln, ich würde schon bald merken, dass auch ich nicht mehr drumherum komme, und druckte mir, dem Neandertaler ohne Smartphone, aus einem kleinen Kästchen einen schmalen Zinkoxidpapierstreifen mit allen meinen Anschlüssen aus.

Da war ich wieder voll bei meiner neu entdeckten Liebe für die Bahn. Was die nicht alles können! Wie lauter freundliche Menschen gerne und strahlend Auskünfte erteilen. Das ist ein Service. Auch, dass man einen Kaffee und ein Croissant an den Platz geliefert bekommt, was ich zweimal in Anspruch genommen habe, denn auf Tikki Masala hatte ich keine Lust mehr, habe ich als außerordentlich komfortabel empfunden.

Am Ende war ich um 18.05 in Abensberg dem Omnibus des Schienenersatzverkehrs entstiegen. Und hier offenbarte sich nun das große Wunder. Obwohl ich länger unterwegs war als geplant, weil der Anschlusszug in Göttingen nicht gewartet hatte, war ich schneller wieder zuhause, als mit dem Zug, den ich ursprünglich geplant hatte. 18.05 Uhr statt 19.35 Uhr. Habe also die Zeit, die ich auf der Hinreise verloren habe, auf dem Rückweg wieder dazugewonnen. Einfach fantastisch. Erinnert irgendwie an die Reise um die Welt in 80 Tagen. Da war Phileas Fogg auch wundersamer Weise einen Tag früher wieder zuhause als angenommen.

Mein Passat stand noch treu und brav, ein bisschen traurig vielleicht, ansonsten aber wohlbehalten auf dem kostenlosen Bahnhofsparkplatz.

Als ich dann eingestiegen war, das Fenster geöffnet hatte und mir den Fahrtwind um die Nase wehen ließ, dauerte es keine Minute, bis ich mir geschworen habe: Das nächste Mal fahre ich wieder mit dem Auto.

Rational begründen kann ich das nach all diesen wunderbaren Erlebnissen mit der Bahn allerdings nicht.

Es muss mit diesem Gefühl des Ausgeliefert-Seins zu tun haben, das mich schon beschlichen hat als ich feststellte, dass die erste Verbindung nicht fahrplanmäßig um 8.18 Uhr startet, sondern fast 20 Minuten früher. Mein Gott, hätte ich dumm geguckt, wenn ich nicht zufällig darauf gestoßen wäre.

Ein Gefühl, das auch durch noch so viel freundlichen Service und alle Ersatzzüge im Schienennetz nicht aus der Welt zu schaffen ist.