Es geht um eine Erscheinung.
Eine Neu-Erscheinung.
Teer Sandmann ist der Autor. Das Buch heißt „Raffen Sterben Trance“.
Ich hätte dieses Buch wahrscheinlich nie in Händen halten können, hätte ich nicht einem früheren Werk Sandmanns als verlegerische Hebamme ans Licht geholfen.
Das war „Golo spaziert“ und so ganz nach meinem Geschmack. Ein Spiel, ein Spiel mit den Perspektiven, Spiegelungen, bissig und schmeichelnd zugleich, Trostlosigkeit im Witz und Witz in der Trostlosigkeit. Ich habe mich damals beim ersten Lesen festgelesen und kann auch heute nur noch mit Begeisterung von diesem Buch erzählen.
Wie schon den Golo, wollte auch diesmal keiner der seriösen Verlage das neue Buch ins Programm nehmen. Nicht einmal BoD in Norderstedt, ein Unternehmen, das eigentlich nur druckt, und nur bei Bedarf, und nur das, was fest bestellt ist, hat den Titel im vorauseilenden Gehorsam abgelehnt.
Ob ich dieses Buch, wenn ich noch Verleger wäre, angenommen hätte, kann ich nicht sagen. Im Grunde handelt es sich um eine literarische Katastrophe.
Der Stil, die Sprache, die mäandernden Gedanken, das alles gleicht dem Golo immer noch aufs Haar, ist faszinierend und für sich betrachtet ein Genuss.
Die Katastrophe liegt auf einer anderen Ebene.
Für das Lektorat des seriösen Verlags beginnt die Katastrophe schon an der Oberfläche, nämlich damit, dass das Werk sich der Einordnung in vorgegebene Kategorien und Genres vollständig entzieht. Halb Sachbuch in Andeutungen, halb Belletristik ohne Plot und ohne Protagonisten? Weder Roman noch Lyrik, auch kein in epische Breite gewuchertes Essay. Es ist einfach nur dieses Buch – und so, wie es ist, sprengt es die vorgegebenen Ordnungsrahmen. Das will niemand lesen. Das kann man nicht verlegen.
Die wahre Katastrophe liegt jedoch viel tiefer. Sie beginnt da, wo selbst wohlmeinende Freunde des Autors sich vor den Kopf gestoßen fühlen könnten, weil „der Sandmann“ die gewohnheitsmäßig an ihn gerichteten Erwartungen nicht mehr erfüllt.
Sandmann hat aufgehört zu spielen. Die Leichtigkeit ist weg. Der Leser wird nicht mehr durch ein Wechselbad von Gefühlen und Stimmungen erst hinunter und dann wieder in die Höhe gezogen. Wer in dieses Buch einsteigt, wird vom Autor eiskalt und ohne die Gnade einer schwarzen Augenbinde an die Wand gestellt, eher festgenagelt sogar, mit dem Rücken zur Wand, ohne die geringste Chance zur Verteidigung.
Dann kommen sie, die Einschläge. Erbarmungslos. Der Leser spürt es am Klang jeder Silbe: Das ist kein Spaß mehr. Das ist blutiger Ernst und, mehr als um das eigene Leben bangend, so an der Wand stehend, sorgt man sich um den Autor, der Ungeheuerliches – Monströses, wie er es immer wieder bezeichnet – aufgeschrieben hat, und die Namen dazu, die wir täglich ganz anderes konnotiert in der Zeitung lesen. Zwischen so viel Abrechnung und Zuschreibung, was allemal ausreichen würde für eine verschärfte Hausdurchsuchung im Grauen des Morgens, findet der Leser auch jene Zusammenhänge, die der Autor weggelassen hat, um im Stakkato der Angriffe und Anklagen keinen Augenblick minderer Dichte zuzulassen.
Dass es keine Anklage ist, sondern ein trauerndes Klagen, dass es weniger um die Täter geht, sondern eher um die Tatenlosigkeit der Opfer, dass da einer den Verlust des Menschen beklagt, der einst die Welt bevölkerte, sich aber aufgegeben, wehrlos ergeben hat und sich zum Objekt hat machen lassen, dass die Frage: „Warum tust du nichts?“, eingekleidet ist in die Entschuldigung: „Was hättest du auch tun sollen?“, spürt man immer dann, wenn Sandmann einen längst in Raum und Zeit verlorenen Komponisten mit den Bruchstücken seiner überlieferten Vita vorstellt und versucht, die von ihm gebliebene Musik mit Worten zu vermitteln.
Ja. Der Mensch war für Großes geschaffen – und wie jämmerlich hat er sich unters Joch nehmen lassen. Viele Aspekte dieser Kritik sind am Corona-Geschehen der letzten Jahre festgemacht, aber „Raffen Sterben Trance“ ist alles andere als ein Corona-Buch.
Sandmann versucht den Geist zu fassen, der, zwischen Herrscher und Untertan stehend, beide Seiten auf diabolische Weise anleitet, um sie gegeneinander auszuspielen und endlich gemeinsam ins Verderben zu führen.
Kennen Sie den „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“?
Nein, nein.
Nicht das, was Stockhausen darin zu hören glaubte! Ich meine die Story aus dem Alten Testament (Daniel 3):
Schadrach, Meschach und Abed-Nego, Daniels Freunde, die sich weigerten, ein von Nebukadnezar errichtetes Götzenbild anzubeten, wurden zur Strafe in den extra heißen Feuerofen geworfen. Doch eine vierte Figur, ein Engel, gesellte sich zu ihnen und behütete sie, so dass ihnen nicht ein Haar versengt wurde.
Teer Sandmann ist beim Schreiben in diesen Feuerofen hineingegangen, als verletzlicher Mensch, hat uns die Flammen, die Hitze, dass verzehrende Feuer sehen und spüren lassen, hat das eigene Verbrennen im Vorbeihuschen eines auf 200 Seiten dokumentierten Augenblicks schon fast als Realität akzeptiert, um ganz zum Schluss den Engel zu erkennen und den Weg zur Erlösung zu finden.
Ein starkes Buch, für Menschen geschrieben,
die noch nicht aufgegeben haben.