Wenn das vor 10 Jahren passiert wäre, hätte ich mich noch aufgeregt.
Jetzt regt mich nur noch auf, dass die Russen auf RT melden, dass da in Herdecke wer niedergestochen wurde. Was geht das die Russen an? Deutschland ist ein freies Land. Bei uns herrschen Recht und Gesetz. Da wird nicht einfach jemand niedergestochen, wie die uns weismachen wollen. Da wird man jetzt viel zu tun haben, um die Hintergründe aufzuklären. Einfach so passiert so was nicht, und wo es doch passiert, wird es schon noch Erklärungen geben.
Mich interessieren allerdings auch die Erklärungen nicht mehr. Sicherlich, die Frau tut mir leid. Aber das geht nicht tief. Ich kenne sie ja nicht und hätte sie höchstwahrscheinlich auch Zeit meines Lebens nicht kennengelernt. Eine Fremde. In Herdecke war ich auch noch nie und werde vermutlich auch nie mehr dorthin kommen. Hätte genausogut in Rovaniemi passieren können.
Früher, also noch vor zehn Jahren, da waren wir noch nicht so weit. Da waren Morde und Mordversuche, Vergewaltigungen, auch und gerade Gruppenvergewaltigungen jedes Mal noch eine Sensation. Als die Nitribitt ermordet wurde, 1957, lang ist’s her, aber ich erinnere mich noch daran, da war was los. Da war was los, weil so selten so was los war. Oder die Sache mit der Vera Brühne, 1962, immerhin fünf Jahre später, die am Ende ja doch wegen Mordes verurteilt wurde, da war auch was los, weil MORD damals so etwas Ungeheuerliches war. Heute? Alle naslang! Musst halt aufpassen, dass es dich nicht selbst erwischt. Musst halt die Waffenverbotszonen meiden, da ist schon viel gewonnen.
Inzwischen ist das so wie mit den Wölfen und den Schafen. Hundert Jahre lang hat in Deutschland kein Wolf ein Schaf gerissen, weil es einfach keinen Wolf mehr gab, seit der Tiger von Sabrodt im Februar 1904 erlegt worden war. Danach war die Aufregung – ganz ohne Wolf – schon groß, wenn sich einmal ein wildernder Hund an die Schafherde heranmachte. Jetzt, wo die Wölfe wieder da sind, da sein dürfen und da sein sollen, in unserer Demokratie, ist das auch nicht mehr so schlimm. Nun sind sie halt mal da. Und wo ein Schaf gerissen wird, gibt es eine Entschädigung. Fertig.
Und überhaupt, auch wenn die Zeiten sich ändern, eines bleibt sinngemäß gleich, so wie es Gerhart Polt in seinem Sketch „Oktoberfest“ zum Schädelbasisbruch eines Bierzeltbesuchers auf den Punkt gebracht hat:
Wenn oano so g’schtudiert is,
dann muss er doch so viel Hirn ham,
dass er wissen muss,
dass ma mit am Kopf,
der überhaupt nix aushalt,
net aufs Oktoberfest geht.
Andere sagen es etwas dezenter: „Geliefert, wie bestellt!“, und meinen doch das Gleiche.
Verstehen Sie meine bis hierher geschriebenen Sätze bitte nicht als Verhöhnung des Opfers, nicht als Gleichgültigkeit oder Gefühllosigkeit. Es ist der Zorn, der mich zum Sarkasmus zwingt. Da zerlege ich gerne auch noch das „Geliefert, wie bestellt!“ in seine Bestandteile.
Ich habe das nicht bestellt!
Ich habe es nicht bestellt. Sie haben es nicht bestellt. Dennoch wird uns das Grauen jeden Tag geliefert, frisch auf den Tisch, und wir müssen dafür bezahlen. 29.000 Messerangriffe in Deutschland 2024 – 80 pro Tag. 13.000 Mal kam es zu Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen.
Mein Zorn darüber hat auch in einer winzigen Miniatur in meinem Buch „Spätlese“ einen Platz gefunden:
Zwei im Park
Er war von hinten gekommen. Wer denkt denn an so was. Am helllichten Tag.
Seine linke Hand hielt ihren Mund fest verschlossen, mit der rechten, die Finger schmerzhaft in ihren rechten Unterarm gepresst, zog er sie hastig vom Weg. Nur ein paar Meter. Suchte auch kein Gebüsch oder anderen Sichtschutz, sondern drückte sie einfach mit festem Griff zu Boden.
Er wusste, dass niemand sich daran stören würde, wenn da im Gras in eindeutiger Position …, und sie wusste, dass er es wusste.
„Lieber Gott, lass es schnell vorbei sein!“, dachte sie noch.
Da hatte er ihr schon mit einem einzigen geübten Griff das Genick gebrochen.
Schreien würde sie nämlich. Da war er sich sicher. Aber konnte man von ihm denn verlangen, ihr immerzu den Mund zuzuhalten? Er hatte kurz versucht, sich das vorzustellen und war dabei zu dem Schluss gekommen: „So funktioniert das nicht.“
Ein paar Minuten später erfreute er sich schon wieder am wunderbaren Tragekomfort seiner neuen Joggingschuhe. Ein Gefühl, wie barfuß auf Moos.
Sie trugen ihn schnell weg, diese festen, federnd weichen Schuhe, seine Füße, seine Beine, sein Wille.
Als sie, Stunden später, im Zinksarg in die Anatomie geschafft wurde, hatte er sie schon vollständig vergessen. Das ist menschlich. Es ist menschlich, dass die Routine uns alle Nebensächlichkeiten unmittelbar vergessen lässt. Da müsste schon etwas Außergewöhnliches passieren, sonst merkt man sich das doch nicht.
Menschlich und human erweisen sich gelegentlich als Gegensätze.