Die Erinnerungen an das Leben und Wirken der Bürger von Schilda entschwinden allmählich aus dem kollektiven Gedächtnis. Wenn es hoch kommt, erinnert sich noch jemand daran, dass die „Lalen“, so nannten sich die Bürger von Schilda selbst, sich einst ein neues Rathaus bauten und dabei aus vielerlei Gründen, insbesondere wegen einer Flut von immer neuen Bauvorschriften, darauf verzichteten, in den Außenmauern Fensteröffnungen vorzusehen, so dass der Rat schon bei der Einweihungsfeier ganz fürchterlich im Finstern tappte. Doch die Lalen waren klug und wussten Rat. Mit großen Säcken gingen sie hinaus in den Tag, ließen die Sonne in die Säcke scheinen, fingen so das Licht ein, dass es draußen im Überfluss gab, und trugen es hinein in ihr Rathaus, wo sie es wieder aus den Säcken entließen.
Dass die Lalen einst hochintelligente, fleißige und zuverlässige Leute waren, das weiß schon kaum noch jemand. Dass ihre Dummheiten einem genialen Plan folgten, erinnert erst recht niemand mehr. Es war das Wehklagen der Lalen-Frauen, die Tag um Tag alleine zuhause sitzen mussten, weil Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten ihrer Männer in aller Welt hochgeschätzt waren, so dass sie in aller Welt herumreisen mussten und in den fernsten Ländern schwierigste Aufgaben zu erledigen hatten, aber eben auch keine Zeit mehr, sich zuhause ihren Frauen zuzuwenden.
Intelligent, wie sie waren, erkannten die Lalen, dass es so nicht weitergehen könne, und beschlossen, sich fortan so dumm zu stellen, dass niemand mehr auf die Idee kommen werde, sie zur Erledigung irgendeiner Aufgabe noch heranzuziehen.
Das hat geklappt.
Nun ist es aber so, dass Schilda ja nur eine ganz kleine Stadt in einem großen Land war, dessen Bürger sich von denen Schildas kaum unterschieden. Fleißige Leute waren das schon immer, große Erfinder und Baumeister, Künstler und Wissenschaftler waren unter ihnen, auch nicht wenige Dichter und Denker, so dass der Ruhm des ganzen Landes jenem der Lalen aus Schilda in nichts nachstand. Ihre Arbeit nahm kein Ende und was sie herstellten, war in der ganzen Welt so begehrt, dass ihre Frauen gar nicht auf die Idee kamen, sich über die Männer zu beschweren, die nie zuhause waren, weil auch die Frauen selbst so in die Arbeit eingespannt und ebenfalls nie zuhause waren, dass sie das Ausbleiben ihrer Männer gar nicht feststellten. Auf mittlere Sicht blieben dann allerdings auch die Kinder aus, was es am Ende allen Frauen ermöglichte, sich in die Produktion einzubringen.
Damit beginnt die Geschichte von Groß-Schilda.
Kapitel 1
Wie die Schildbürger merkten, dass sie auf dem Holzweg waren
Zuerst war es nur so ein dumpfes Gefühl. Es war ja noch alles gut. Groß-Schilda war unangefochten Exportweltmeister, denn was sie herstellten, war gut, sogar sehr gut, und es war zumindest preiswert, wenn nicht gar vergleichsweise billig, weil sie fleißig automatisiert und rationalisiert hatten, so dass immer mehr von ihnen nicht mehr gebraucht wurden. Die bekamen dann Geld für das Nichtstun.
Das war zwar nichts Neues, Arbeitslosengeld hatte es schon immer gegeben, wenn jemand seinen Job verloren und nicht gleich wieder einen neuen gefunden hatte. Neu war, dass es plötzlich Millionen waren, die von ihren Arbeitgebern nicht mehr gebraucht wurden und die auch kein anderer Arbeitgeber mehr haben wollte. Wissenschaftler, noch voll im alten Geiste stehend, rechneten aus, dass es sehr teuer war, Millionen von Mitbürgern Geld dafür zu geben, dass sie nicht arbeiteten. Sie rechneten weiter und kamen zu dem Ergebnis, dass dieses Geld, würde man es nicht ausgeben müssen, genutzt werden könnte, um die Preise zu senken, was dann dazu führen würde, dass die Bestellungen aus dem Ausland wieder wachsen, so dass man am Ende dadurch auch wieder mehr Arbeiter bräuchte, um die Produktion hochzufahren. Man könne sich auf diese Weise quasi von selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.
Also beschloss man ein Programm, um jene, die keine Arbeit mehr fanden, in Arbeit zu zwingen. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“, tönte es. Es gab weniger Geld und allerlei Schikanen, man sang das hohe Lied vom Fordern und vom Fördern, sparte tatsächlich einiges an Geld ein, weil man den Arbeitslosen einfach weniger in die Hand drückte, aber der Aufschwung war damit nicht aus seiner Höhle zu locken.
Da hieß es nun, man habe zwar Schritte in die richtige Richtung unternommen, sei aber nicht weit genug gegangen, man habe zwar Einschnitte durchgesetzt, aber eben noch nicht tief genug geschnitten, man dürfe jetzt nicht aufgeben und müsse den Weg nur konsequent fortsetzen. Also jagten die Bürger von Groß-Schilda ihren Chef, der auch gar keine Lust mehr hatte, in die russische Wüste und erwählten sich erstmals in der Geschichte Groß-Schildas eine Frau zur Anführerin.
Es dauerte nicht lange, und das ganze Volk nannte sie liebevoll „Mutti“, und Mutti wusste genau, wie man ganz Groß-Schilda nach dem Vorbild der Lalen umgestalten muss, um endlich wieder Ruhe und Frieden an einem Platz am stillen Rande der Welt und dort eine neue Work-Life-Balance zu finden.
Ihr genialer Plan, voller absichtsvoller Dummheiten, würde funktionieren, da war sie sich ganz sicher. Sagen konnte sie das so aber nicht. Es hätte ihr doch niemand geglaubt, dass am Ende ihres vielfach verschlungenen Weges der Eingang zum Paradies auftauchen würde. Also verschwieg sie ihren Plan. Stattdessen machte sie ihre vielsagende Raute und flüsterte zuversichtlich: „Wir schaffen das.“
Die Groß-Schildaer, immer noch zutiefst von ihren alten Werten durchdrungen und sich fest an ihre Sekundärtugenden klammernd, saßen wie der Frosch im Kochtopf und merkelten nichts. Für die große Transformation braucht es einen langen Atem. Den hatte Mutti. Volle sechzehn Jahre lang leitete sie die Geschicke Groß-Schildas und dabei alles ein, was die alten Lalen mit dem fensterlosen Rathaus in ehrfürchtiges Staunen versetzt hätte, hätten sie es denn noch erleben können.
Wie Mutti ganz Groß-Schilda in den Kampf gegen die fürchterlichste Kraft auf Erden führte, erfahren Sie in Kürze in Kapitel 2.