Eskalation der Reichweiten

Von „Langstreckenwaffen“ zu sprechen, wie es viele der hiesigen Medien tun, ist bei den in Frage stehenden ATACMS-Raketen ein Witz, und zwar ein schlechter. Einmal googeln – und die Antwort ist:

Es sind Kurzsstrecken-Raketen.

Mit einer Reichweite von bis zu 300 km bleiben die ATACMS hinter den Reichweiten der britisch-französichen Storm Shadow und der deutschen Taurus Marschflugköper, die Entfernungen von etwas mehr als 500 Kilometern überwinden, deutlich zurück.

Auf den Punkt gebracht:

Mit Storm Shadow, bzw. Taurus,
kann Moskau von der Ukraine aus erreicht werden,
mit ATACMS nicht.

Wenn auch die Vermutung nahe liegt, dass Joe Biden die Bemühungen Trumps, den Ukraine-Krieg schnell zu beenden, in den letzten Tagen seiner Amtszeit noch torpedieren möchte, die Erlaubnis, beliebige Ziele in Russland anzugreifen, ist das – alleine wegen der begrenzten Reichweite – noch nicht. Wenn sich deutsche Partei- und Wahlkampfstrategen auf diese Entscheidung berufen und nun noch lauter fordern, endlich! auch den Taurus zu liefern und seinen Einsatz gegen Russland freizugeben, ist das durch die jüngste Entscheidung der USA nicht zu begründen.

Welche kriegsentscheidende Wirkung das Abfeuern aller 600 deutschen Taurus auf Ziele in Moskau haben würde, unterstellt, dass alle 300 einsatzfähigen ungehindert von der russischen Luftabwehr ihre Ziele erreichen, habe ich kürzlich dargelegt. Ungefähr ein Zehntel Prozent der Fläche Moskaus könnte damit demoliert werden. Und dann …?

Ein kleiner Rückgriff auf die Faktenlage:

Es ist klar, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Die dazu vorgetragenen Begründungen und Rechtfertigungen sind bekannt. Es ist ebenso klar, dass weder der direkte Kriegsgegner, noch dessen Verbündeten, Unterstützer und Trittbrettfahrer dazu gezwungen werden können, sich dieser Argumentation anzuschließen. Das hätten sie vorher aus freien Stücken tun können, um den Krieg zu vermeiden, haben es aber nicht getan. Warum sie es ausgerechnet jetzt tun sollten, ist nicht zu ergründen.

Es ist weiterhin klar, dass Russland sich zwar auf den Standpunkt stellen kann, sein Vorgehen sei eine begrenzte militärische Sonderaktion, die nach russischen Vorstellungen über das Territorium der Ukraine nicht hinausgehen solle und werde, doch es ist ebenso klar, dass diese Festlegung zwar für die russischen Streitkräfte bindend sein kann, jedoch niemals für den Gegner. Die Ukraine kann und darf ihren Anteil am Krieg so führen, und dort führen, wo sie es im Sinne militärischer Logik für richtig und zielführend hält. Selbstverständlich haben auch die Verbündeten und Unterstützer der Ukraine, soweit sie ihre Mittel zur Verfügung stellen, jedes Recht, ihre Unterstützung beliebig auszuweiten. Es ist schließlich Krieg und keine Golfpartie, bei der die Stärkeren nur mit einem – Chancengleichheit herstellenden – Handicap antreten dürfen.

Von daher  ist es lächerlich, wenn umgekehrt die Verbündeten und Unterstützer der Ukraine davon ausgehen, das Recht, den Krieg so und dort zu führen, wie sie es für richtig und zielführend halten, sei wiederum nur auf ihrer Seite.

Natürlich wird Russland die Eskalation mitgehen.

Und das wird,

lieber Herr Hofreiter,  liebe Frau Strack Zimmermann, lieber Herr Habeck, liebe Frau Baerbock, lieber Herr Merz, lieber Herr Kiesewetter, und Sie, liebe aus Platzgründen Ungenannten, die Sie auch für den Einsatz des Taurus plädieren,

keine Slapstick-Tortenschlacht aus der Stummfilm-Ära. Heute bedauern Sie, teils in echter Anteilnahme, teil aus Kalkül, die kriegsgeplagten Menschen in der Ukraine. Werden Sie morgen noch Worte des Bedauerns für die kriegsgeplagten Deutschen finden, oder werden Sie dann auf Durchhalteparolen und Kriegspropaganda umschalten?

Es wäre meines Erachtens wichtig, gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Neuwahlen, dass Sie Ihren deutschen Wählern erklären, wie Sie sich die die militärische Lage Deutschlands vorstellen, sollte Russland auf den Einschlag von Taurus Marschflugkörpern in Moskau mit einem Angriff von Kinshal-Raketen auf Berlin reagieren, und, sollten Sie das für ausgeschlossen halten, woher Sie diese Sicherheit beziehen.

Russland wird wegen der Freigabe  der ATACMS Kurzstreckenraketen nicht mit Angriffen auf Washington reagieren. Vielleicht auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr, vielleicht aber auch gar nicht. Deshalb werden sich die USA auch nicht veranlasst sehen, einen russischen Angriff auf Berlin, der als Vergeltung für einen Taurus-Angriff auf Moskau erfolgt, als den Auslöser des NATO-Bündnisfalles einzustufen. Wieso sollten sie auch?

Was machen Sie dann,  Herr Pistorius, sollten Sie noch Verteidigungsminister sein?
Wo sind die Soldaten, wo sind die Waffen, mit denen die Bundeswehr einen Krieg gegen Russland überstehen soll?

Das sind die Antworten, die wir heute brauchen.

Je länger diese Antworten ausbleiben, desto fadenscheiniger wird die gesamte Ukraine-Rhetorik.

Das Spiel mit dem großen Feindbild, mit dem Wähler verängstigt und hinter den Fahnen zusammengetrieben werden können, ist nur so lange gefahrlos zu spielen, wie da nur ein zweckdienlicher Popanz aufgeblasen wird.

Wenn es ernst wird, und es wird jetzt wirklich ernst, darf es bei realistischer Einschätzung der eigenen Stärke nicht mehr fortgesetzt werden.