
Meinungsumfragen haben nur bedingte Aussagekraft. Die dem Normalsterblichen unbekannten Korrekturfaktoren der Institute und die immer noch erhebliche Streubreite der Ergebnisse, tragen nicht dazu bei, den am Ende veröffentlichten Zustimmungszahlen volles Vertrauen zu schenken.
ABER: Mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt sind die über die Zeit feststellenbaren Trends in der Wählergunst.
Für die Partei, mit der Eigenbezeichnung „Sozialdemokratische Partei Deutschlands – SPD“ sieht es mit dem Trend alles andere als gut aus. Vergessen wir die Zeiten, in denen es der SPD noch gelungen ist, bei Bundestagswahlen Ergebnisse von über 40 Prozent einzufahren. Erinnern wir uns an den Wahlsieger Olaf Scholz, der 2021 noch 25,7 Prozent holte. Mit den vorgezogenen Neuwahlen 2025 gelang es der SPD erstmals, sich mit 16.4 Prozent unter der 20-%-Marke zu positionieren. Wenige Monate später berichten die Demoskopen, dass die Zustimmungswerte der SPD bundesweit auf 13 Prozent gesunken seien.
Wie das?
Ich wage dazu eine eigenständige Erklärung.
Es beginnt mit der unterschiedlichen Motivation der Wähler, sich für eine bestimmte Partei zu entscheiden. Was einst im Vordergrund gestanden hat oder hätte stehen sollen, nämlich eine Partei zu wählen, weil das Personal „ankommt“ und das Programm verwirklicht werden soll, ist heute weit zurückgetreten und nach meiner Einschätzung nur noch bei der AfD das ganz überwiegende Motiv, sie zu wählen. Daneben ist die Strategie des „Kleineren Übels“ sehr stark geworden. Wer sich so entscheidet, erwartet von der Politik grundsätzlich nichts Gutes, wählt also jene, von denen noch am wenigsten Veränderung erwartet wird. Ein drittes Motiv besteht darin, andere Parteien zu schwächen oder – was auf das Gleiche hinausläuft – ihnen einen Denkzettel zu verpassen.
Bei der SPD würde ich davon ausgehen, dass sich die Motive der SPD-Wähler ungefähr so verteilen:
etwa 3 bis 5 Prozentpunkte SPD Programm / Personen
etwa 6 bis 7 Prozentpunkte Kleineres Übel
etwa 2 bis 4 Prozentpunkte Union schwächen
Behalten Sie diese Einschätzung bitte im Hinterkopf, es gibt einen weiteren Erklärungsansatz, der im Personal der SPD zu finden ist.
Die SPD tut sich seit jeher schwer mit ihren Führungsfiguren. Da sitzt die aus der Klassenfeindschaft geschöpfte Ablehnung der Autorität, auch wenn sie auf noch so viel Kompetenz gegründet ist, viel zu tief, um sich damit abzufinden, dass charismatische Personen wie Brandt, Schmidt und Schröder sich anmaßen, den Kurs der Partei bestimmen zu wollen.
Mit dem kleinen Kanzler Scholz und der ihm zur Seite gestellten, volksnah-sozialistischen Vorsitzenden Esken war die Partei da schon eher zufrieden.
Diese beiden waren weiß Gott kein Traumpaar, aber in den Augen der Partei und vieler ihrer Wähler wohl die einzige mit dem vorhanden Personal noch darstellbare Lösung. Weil dem so war, ist eine Aufarbeitung der dreijährigen Kanzlerschaft, des Scheiterns der Koalition und des massiven Stimmenverlustes bei den Neuwahlen in der SPD ausgeblieben. Stattdessen hat die SPD mit Bärbel Bas eine – nun ja – „weichgespülte“ Version von Saskia Esken mit 95 Prozent zur Vorsitzenden gewählt und damit eine gewisse Kontinuität gesichert.
Dass es Lars Klingbeil schon vorher geschafft hat, aus den Koalitionsverhandlungen als Finanzminister und Vizekanzler hervorzugehen, hat ihm die Partei nicht verziehen und ihn bei der Wahl zum Vorstand mit beschämenden 65 Prozent abgestraft. Dass Lars Klingbeil bei Licht betrachtet der Mann ist, der seit der Vereidigung der Regierung die Richtlinienkompetenz ausübt, dass er ein geschickter Taktierer ist und es schafft, wie ein Schleppkahnkapitän die sehr viel größere Union zentimetergenau dahin zu manövrieren, wo er sie haben will, wird von den Genossen nicht gewürdigt. Es macht ihn verdächtig. Man traut ihm alles zu. Selbst konspirative Verabredungen zu Lasten der Mühseligen und Beladenen.
Verstärkt wird dieses Misstrauen dadurch, dass der mitregierende Lars sich weder um Wahlversprechen schert, was noch verziehen werden könnte, noch um die Festlegungen im Koaltionsvertrag. Da scheint doch hinter dem freundlich lächelnden Gesicht schon wieder ein Macher durch, und das geht gar nicht.
Der Blick der 1312 von Infratest dimap repräsentativ ausgewählten Befragten auf die SPD unterscheidet sich allerdings von der Bauchnabelschau der SPD insofern, als deren Motive, wie oben ausgeführt, nur zum Teil auf die Durchsetzung des Parteiprogramms ausgerichtet sind. Haben sich zuletzt nur 170 Befragte für die SPD ausgesprochen, müssten es (hoch- und umgerechnet) bei der Bundestagswahl aus diesem Kreis noch 215 gewesen sein. 45 Wähler, bzw. 21 Prozent sind – nach einem Vierteljahr der neuerlichen Regierungsbeteiligung als Junior-Partner – von der roten Fahne gegangen.
Wie sah es vermutlich bei der Bundestagswahl, aufgeteilt nach den Wahlmotiven aus, und wie hat sich dies bis zur letzten Umfrage verändert, wenn der Schwund über alle Motivkategorien gleich ausgefallen wäre?
Alles bezogen auf 1312 Befragte | Bundestagswahl | Infratest dimap aktuell | Veränderung |
Motiv Programmatik | 62 | 49 | – 13 |
Motiv Kleineres Übel | 108 | 85 | – 23 |
Motiv Union schwächen | 45 | 36 | – 9 |
Wie wahrscheinlich ist es aber tatsächlich, dass eingefleischte SPD-Wähler schon nach ein paar Wochen Regierungszeit von der Fahne gehen? Ich halte das für nahezu ausgeschlossen. Vielleicht einer, vielleicht zwei, aber mehr ganz bestimmt nicht.
Die gleiche Frage tut sich auf beim Motiv „Union schwächen“. Welcher der Befragten sähe denn unter den gegenwärtigen Umständen eine andere Wahlmöglichkeit, um die Union zu schwächen, als die SPD? Kaum einer.
Daraus ergibt sich die Annahme:
Das kleiner Übel ist größer geworden.
Der Abstand zum für diese Befragten wählbaren größten Übel ist noch einmal ein Stück weit geschrumpft. Dazu beigetragen haben m.E. vor allem die Kriegsrhetorik des Herrn Pistorius, die von der SPD nicht verhinderten verschärften Grenzkontrollen des Herrn Dobrindt, das nicht umgesetzte Wahlversprechen der Entlastung bei den Strompreisen, der nicht auf 15 Euro angehobene Mindestlohn, etc.
Wohin die Wähler gewandert sind, ist nicht so leicht herauszufinden, doch die Ergebnisse von Infratest dimap lassen die Vermutung zu, dass
- etwa ein Prozent den Weg zu den LINKEn gefunden hat,
- vielleicht ein halbes Prozent zu den Splitterparteien (<5%) gewechselt ist,
- etwa zwei Prozent ins Lager der Nichtwähler gewandert sein müssen,
- niemand AfD statt SPD wählen wollte.
Der letzte Punkt verdient in Bezug auf die Zukunft der SPD besondere Beachtung. Jene 13 Prozent, die der SPD noch verblieben sind, haben sich vollständig hinter der Brandmauer verschanzt und werden in vollständiger ideologischer Verblendung auch die vernünftigsten Vorschläge der AfD zurückweisen.
Dem steht die überraschende, aber eigentlich zwangsläufige Entwicklung gegenüber, dass nämlich zwischen AfD und BSW inzwischen Sondierungsgespräche, nicht nur in Thüringen, sondern auch auf Bundesebene im Gange sind. Man wolle versuchen, von beiden für vernünftig erachtete Projekte gemeinsam voranzubringen. Hier entsteht eine Machtoption, die noch dazu so austariert ist, dass damit weder extrem rechte noch extrem linke Vorhaben durchgesetzt werden können, wohl aber das was in der Überschneidungsfläche der Interessen aufzufinden ist – und das ist nicht wenig.
Diese Machtoption werden wohl auch noch einige SPD-Wähler erkennen und ihre Hoffnung darauf setzen, dass linke Wagenknechtpositionen plötzlich und unerwartet in die Nähe der Umsetzbarkeit rücken. Das dürfte der SPD, obwohl an der Regierung, das Genick brechen und die Umfrageergebnisse perspektivisch unter 10 % abstürzen lassen. Die Gegenreaktion der SPD, nämlich laute Aufmüpfigkeit in der Koalition, könnte dann noch einmal vor Ablauf der vier Jahre zum Koalitionsbruch führen.
Ich muss sagen, ich freue mich darauf und hoffe, dass es gelingt.