Der Bundestag und die einbeinige Amsel

Soveräne in der Zirkuskuppel - ratlos

Seit ungefähr zwei Wochen beobachte ich an unserem Futterhäuschen eine Amsel, die sich offenbar das rechte Bein verletzt hat. Zuerst war dieses Bein noch zu sehen. Es hing in absonderlichem Winkel wackelig neben dem linken Bein herum. Manchmal sah es so aus, als würde die Amsel über ihr nichtsnutziges rechtes Bein stolpern. Inzwischen ist es weg.

 

Ob es einfach abgestorben und abgefallen ist, oder ob es sich die Amsel selbst abgerissen hat, um das störende Anhängsel loszuwerden,  werde ich wohl nie mehr  herausfinden.

Wenn ich nicht wüsste, dass der Amsel ein Bein fehlt, müsste ich mich über das ungewöhnliche Verhalten des Vogels wundern.

Am auffälligsten dabei ist die Tatsache, dass die einbeinige Amsel das Futterhäuschen, das auf einem Pfahl, ungefähr 1,30 Meter über dem Boden zu finden ist, nicht mehr besucht. Vorher flog sie das Häuschen direkt an, landete mitten auf dem Haufen von Sonnenblumenkernchen, blieb dort zufrieden sitzen, pickte hier nach einem Körnchen, pickte dort nach einem Körnchen, und verscheuchte, während sie bis zu einer Viertelstunde dort sitzen blieb, alle kleineren Vögel, die sich gerne ein Körnchen geholt hätten. Seit sie kein rechtes Bein mehr  hat, sitzt sie unter dem Häuschen auf dem Boden, wo sich eine dicke Schicht von Sonnenblumenschalen angesammelt hat und sucht darin nach heruntergefallenen ganzen Samen, von denen es auch noch ein paar gibt.

Kleinere Vögel, vor allem Finken und Wintergoldhähnchen, die von Natur aus lieber am Boden nach Futter suchen, lässt sie nah an sich herankommen, ohne sich noch die  Mühe zu machen, sie zu verjagen.

Wer Amseln beobachtet hat, weiß, dass die gerne ein Stück weit rennen, zum Beispiel weil sie einen unvorsichtigen Wurm entdeckt haben, den es  aus der Erde zu ziehen gilt. Sie rennen aber auch, um kleine Vögel zu verscheuchen, die ihnen zu nahe kommen. Die Einbeinige  kann nicht mehr rennen. Sie kann nur noch einbeinig hüpfen, und das  sieht lange nicht mehr so flott aus, wie das zweibeinige Rennen. Vermutlich strengt es auch mehr an.

Da ist dann aber noch etwas, was auffällt.  Wenn die Amsel vergisst, dass sie nur noch das linke Bein hat, und im Hüpfen die Richtung ändern will, insbesondere, wenn sie von geradeaus nach rechts abbiegen will, kippt der ganze Vogel nach links weg. Sie fällt nicht vollständig um, sondern fährt den Flügel aus, um sich damit abzustützen, und es sieht nicht so aus, als ob ihr das besonderen Spaß macht.  So ähnlich  sieht es manchmal auch aus, wenn sie auf dem Boden landet.

Wenn ich dann mit dem Eimer mit Sonnenblumenkernen anmarschiere, um die Futterstelle wieder aufzufüllen, ist sie die letzte, die die Flucht ergreift. Und auch das ist sonderbar. Fliegt so eine Amsel normalerweise in einem ziemlich steilen Winkel nach oben, schafft es die Einbeinige mit ihrem linken Bein alleine nicht mehr, sich so vom Boden abzustoßen, dass ein steiler Abflug gelingen könnte. Sie kommt höchstens noch fünfzehn, zwanzig Zentimeter über den Boden, steuert auf den abfallenden Hang zu und holt im  Sturzflug den Schwung, um dann „normal“ weiterfliegen zu können.

Die Frage, die mich dabei bewegt, ist die, ob sich die Amsel  ihres Defekts eigentlich bewusst ist, so wie ein beinamputierter Mensch sich dieses Defekts bewusst ist, oder ob sie das gar nicht so wahrnimmt, wie Menschen das wahrnehmen, sondern einfach die fehlenden Funktionen so kompensiert, wie ihr es möglich ist.

Ich bin mir nicht ganz sicher, meine aber, dass es sich bei der Amsel um ein Amselweibchen handelt. Ich nehme an, dass sie für den Rest des Winters bei uns genug Futter finden wird,  um einbeinig zu überleben, und einen Schlafbaum, auf dem sie einigermaßen sicher die Nacht verbringen kann, hat sie wohl auch gefunden.

Was aber wird im Frühjahr sein? Wird sie sich von einem Amselmännchen begatten lassen? Ich fürchte, ja. Denn wahrscheinlich wird es ihr nicht gelingen, ein Nest zu bauen. Schon das Sammeln des Baumaterials dürfte ihr einige Schwierigkeiten bereiten. Das Herumturnen im Geäst, wo das Nest entstehen soll, ist mit dem einen Bein auch nicht mehr ihr Ding. Wohin dann aber mit den Eiern? Wie diese bebrüten?

Es wird nicht mehr gelingen. Die unvollständige Amsel wird als Einzeltier wahrscheinlich noch einige Zeit überleben können. Am Fortbestehen der Art ist sie aber nicht mehr  beteiligt, obwohl noch alles da ist, worauf es ankäme, bis auf dieses rechte Bein, das  eben nicht nur zum Rennen, Hüpfen, Starten und Landen gebraucht wird, sodern auch zur Aufzucht der Jungen.

 

Seit einigen Jahren beobachte ich im Reichstag in Berlin ein Parlament, dem es offenbar an einem rechten Standbein fehlt. Zuerst war dieses rechte Standbein zwar noch zu sehen. Es hing jedoch bereits in absonderlichem Winkel wackelig und kraftlos neben dem linken Bein herum. Manchmal sah es so aus, als würde die Ampel über ihr nichtsnutziges rechtes Bein stolpern. Nach allem, was man hört, ist dieses Parlament inzwischen wild entschlossen, sich des störenden Beines zu entledigen. Nachdem es nicht einfach abgestorben und abgefallen ist, sondern sich zu einer stetig wachsenden Behinderung entwickelt hat, soll es nun dem Verfassungsgericht zur Amputation vorgelegt werden.

Wenn ich nicht wüsste, dass diesem Parlament etwas fehlt, könnte ich mich über das ungewöhnliche Verhalten nur wundern.

Am auffälligsten dabei ist die Tatsache, dass dieses Parlament sich nicht mehr in die Höhen staatsphilosophischer Debatten aufschwingt, ja nicht einmal mehr Lust hat, sein Haushaltsrecht ordentlich auszuüben.  Früher flogen da die Argumente pro und contra munter hin und her, man griff  sich hier einen Vorschlag und da ein Argument heraus, entwickelte daraus Strategien für Deutschlands Zukunft und wehrte Verrücktheiten von den äußersten Rändern mühelos ab. Seit das rechte Standbein lahmt,  bleibt das Parlament in den Niederungen von Haushaltslöchern, guten Irgendwas-Gesetzen und Verschärfungen von Grundrechtseinschränkungen ganz unten hängen, da, wo die Demokratie begraben liegt, während den Wünschen linkester Mehrheitsbeschaffer bedenkenlos nachgegeben wird.

Wer gesunde Parlamente beobachtet hat, weiß, dass die gerne ein Stück weit vorpreschen, und die Regierung unter Druck setzen, wenn es irgendwo einen Vorteil für Volk und Land wahrzunehmen gilt, oder wenn es darauf ankommt, einem Unsinn Einhalt zu gebieten. Das einseitige Parlament kann diesen Elan nicht mehr aufbringen. Es kann nur noch einseitig hüpfen und nichts mehr anstoßen, wozu es eines starken rechten Standbeins bedürfte. Und nur mit links ist das einfach zu anstrengend, auch noch den rechten Part zu übernehmen.

Da ist dann aber noch etwas, was auffällt.  Wenn die Ampel vergessen hat, dass sie sich nur noch auf links abstützen kann, aber dennoch die Richtung ändern will, insbesondere wenn es ein Stück weit nach rechts gehen soll, kippt – wegen Schwerpunktverlagerung und Zentrifugalkraft – der ganze Vogel – wumms! -nach links weg. Um nicht ganz umzufallen, wird dann der linke Flügel zum Abstützen ausgefahren. Es sieht nicht so aus, als ob das allen Abgeordneten besonderen Spaß macht.

Wenn die Kritiker dann mit ihren Argumenten anmarschieren, um dem schwer linkslastigen Parlament neues Nachdenkfutter zu geben, ist keine Regung festzustellen. Keine Diskussion, keine Argumente, am Ende allenfalls ein ausweichendes Davonschleichen. Und auch das ist sonderbar: Hat so ein Parlament normalerweise einen ziemlich steilen Argumentationswinkel, gelingt es dem einseitig linken nicht mehr, sich so vom Boden des eigenen Dünkels abzustoßen, dass eine hochkarätige Diskussion entstehen könnte. Da bleibt man lieber in den alten Plattheiten und hofft, dass die Masse der Wähler den Unterschied gar nicht bemerken wird.

Die Frage, die mich dabei bewegt, ist die, ob sich sich dieses Parlament seines Defekts eigentlich bewusst ist, so wie ein beinamputierter Mensch sich dieses Defekts bewusst ist, und nichts sehnlicher wünscht, als das zweite Bein wiederzugewinnen, und sei es durch eine jener High-Tech-Prothesen, die das Fehlen des eigenen Beines fast vergessen lassen, oder ob es das gar nicht so wahrnimmt, sondern einfach mit dem was noch da ist versucht, die fehlenden Funktionen zu simulieren oder einfach wegzulassen.

Nach den Wahlen wird ein neues Parlament zusammentreten, und wenn das rechte Bein nicht schon vorher abgeschlagen werden sollte, wird es dieses wieder  hinter der Brandmauer verstecken wollen, und behaupten, mit einem dick-geschwollenen linken Bein könne man viel ruhiger und gelassener die Geschicke Deutschlands lenken als mit zwei gesunden Beinen, die immer nur bewegt werden wollen, um nicht einzurosten.

Mag sein, dass aus den USA im Frühjahr viele fruchtbare Impulse in Richtung Reichstag  gesendet werden, doch sieht es nicht so aus, als sei man im Hohen Hause noch Willens und  in der Lage, DEM DEUTSCHEN VOLKE Gelegenheit zu geben, diese Impulse aufzunehmen, ihnen ein Nest und eine Heimat und sich damit eine neue Chance zum Aufwachsen zu geben.