Der Aufzug der Anständigen

Mit der Namensgebung „die Anständigen“ ist den Anständigen ein merkwürdiges Framing gelungen. Schon lange verstaubte der „Anstand“ in den tieferen Schichten der Alltagssprache, ziemlich genau da, wo auch das dem Anstand nah verwandte, jedoch aus der Mode gekommene „Benehmen“ seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Der semantische Rest des Anstands im Sprachempfinden geht über eine mäßig positive Einschätzung des Begriffs kaum mehr hinaus. Das Begriffspaar „Anstand und Sitte“ ist gar vollständig verschwunden,  so dass heute „Anstand“ auch ohne Sitte  gedacht werden kann, was den Umgang damit doch ganz erheblich erleichtert.

Aus großer Distanz betrachtet entpuppen sich diese Anständigen auf eine dümmlich-ignorante Weise als konservativ. Dümmlich-ignorant, weil ihr Konservatismus sich nicht auf das Gute, Nützliche und Bewährte bezieht, was bewahrt werden soll, sondern einzig auf ideologische Dogmen, an denen umso fester festgehalten wird, je untauglicher sie sich im Labor der Realität erweisen.

Das Mantra, mit dem die bösen Geister des Versagens den eigenen Hirnwindungen ferngehalten werden, tritt in immer neuen Variationen seiner Urform auf, die da lautet:

„Das war doch noch nicht der richtige Kommunismus.“

Damit wird die Trennung zwischen Marx, Lenin, Stalin, Pol Pot, Mao, Castro, etc. – und dem trotz der gemachten Erfahrungen weiter hochgehaltenen Ideal so chirurgisch sauber vollzogen, dass alle Kritik am menschenverachtenden Totalversagen lächelnd ignoriert werden und der nächste Anlauf davon unbelastet in Angriff genommen werden kann.

Die gleichen Schritte der Abtrennung der hehren Ideologie von der sich gegensätzlich darstellenden Realität werden uns tagtäglich auch in den folgenden „Beweisführungen“ untergejubelt.

  • Dass sich Deutschland mit seiner Vorreiterrolle in der Dekarbonisierung und Energiewende immer tiefer in eine Wirtschaftskrise stürzt, hat nur damit zu tun, dass wir zu spät damit begonnen haben und der momentane Zustand eben noch lange nicht die richtige Energiewende ist, die durch den Widerstand der Kritiker nur noch immer weiter hinausgezögert wird.
  • In der Corona-Krise war wegen der Impfverweigerer die richtige Herdenimmunität noch nicht erreicht, weshalb man bei der nächsten Pandemie, die unausweichlich über die Menschheit hereinbrechen wird, die Impfpflicht wirklich durchsetzen muss.
  • Es geht weiter mit der EU, die eben noch nicht das richtige Europa ist, und
  • mit der Migration, die noch nicht das richtige Multikulti ist, und
  • auch die dritte Toilette, das Selbstbestimmungsrecht und die frühkindliche Sexualisierung sind eben noch nicht das richtige Sodom und Gomorra.

Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Anständigen in dieser Charakterisierung wiederfinden können, habe aber keine Idee, wie sie sich sonst selbst beschreiben wollten, wenn sie denn dazu in der Lage wären. Sie sind es aber – bauartbedingt – nicht.

Sie sind vollständig unreflektiert mit dem Gattungsbegriff „Anständige“ zufrieden. In dem Topf ist für viele und für alles Platz – und wo untereinander Toleranz herrscht muss man gar nicht erst anfangen zu differenzieren, es ist doch so einfach:

  • LGBTSQxy ist gut für Multikulti,
  • gutes Multikulti ist gut fürs Klima,
  • gutes Klima ist gut für Migration,
  • gute Migration ist gut fürs Bürgergeld,
  • gutes Bürgergeld ist gut für die Neuverschuldung,
  • gute Neuverschuldung ist gut für den Konsum,
  • guter Konsum ist gut für die Sozialsysteme,
  • gute Sozialsysteme sind gut für den Machterhalt,
  • guter Machterhalt ist gut für die EU,
  • eine gute EU ist gut für die westlichen Werte und
  • gute westliche Werte sind gut für LGBTSQxy.

Alles hängt mit allem zusammen. Alles zusammen ist anständig. Alle zusammen sind die Anständigen.

160.000 Anständige sollen am Sonntag in Berlin im hellen Schein ihrer Taschenlampen-Apps durch Berlin gezogen sein, um Friedrich Merz zu zeigen, dass er seinen Platz in den Reihen der Anständigen endgültig verspielt hat.

Früher, aber das ist einfach zu lange her, sind die Anständigen zu Hause geblieben. Das hat mir meine Mutter erzählt, und auch, dass das mutiger war als sich in den Aufmarsch einzureihen. Später war es, da wo man jetzt von den Neuen Ländern spricht, noch einmal das Gleiche. Mit der Masse mittun war auch da der einfachste, ungefährlichste Weg.

Wenn aber die Anständigen selbst die Masse bilden, wenn sie, die Anständigen, Straßen und Plätze füllen, wenn die Anständigen ihre eigenen Abweichler und Ketzer hervorbringen, warum sind  die Anständigen mit ihrer massenhaften Anständigkeit nicht zufrieden? Warum fehlt ihnen der Anstand, andere Meinungen zuzulassen?

Warum ist es heute so, dass die Unanständigen, also die Rechten, die Nazis, die Faschisten, eher dazu neigen, zuhause zu bleiben? Es sei denn, sie müssen, weil gesetzlich vorgeschrieben, einen Parteitag abhalten, was die Anständigen mit so viel Abscheu und Ekel erfüllt, dass sie alles tun, um die Zusammenkunft zu verhindern.

Wenn schon andere Ziele und Meinungen nicht akzeptiert werden, warum können sie, ausgerechnet von den Anständigen, nicht wenigstens toleriert werden?

Die eigene Ideologie sturheil hochzuhalten und jeden zu bekämpfen, der sie nicht teilen will … Wird vielleicht genau das, was man früher Fanatismus und Verblendung nannte, heute als Anstand deklariert?

Oder ist da gar keine Ideologie, keine Überzeugung? Ist da einfach nur Angst und sonst nichts?

Wo es keinen Mut braucht, zu Zehntausenden aufzumarschieren, könnte es doch einfach nur Angst sein. Eine Angst vor der Wahrheit, vor der Realität, vor der eigenen Dummheit, vor der Notwendigkeit, Veränderungen in Angriff zu nehmen, vielleicht auch eine Angst vor dem Verlust von Privilegien, was – nach den Umständen zu urteilen – jedoch eine Angst ist, die man ohne Angst vor Nachteilen auf die Straße bringen kann, weil jene, die der Wahrheit und der Realität ins Auge blicken und die Notwendigkeit von Änderungen erkennen und offen aussprechen, eben nicht versuchen, ihre Ideen gewaltsam durchzusetzen, sondern mit Argumenten zu überzeugen?

Der Aufzug der Anständigen ist in sich ungefähr so stimmig wie der Versuch der Schildbürger, Licht in Säcken einzufangen, um damit ihr eigenhändig fensterlos errichtetes Rathaus zu erhellen, und zugleich alle, die für Fenster plädieren, mit Schimpf und Schande aus der Stadt zu jagen.

Und außerdem: Was sind schon 160.000 in Berlin und vielleicht noch einmal 160.000 anderswo?

Das ist doch keine Mehrheit, da fehlen sogar an der 5-Prozent-Hürde noch 4,5 Prozent!

Ein Satz noch zum Wahlkampf in der ARD gestern Abend:

Alice Weidel hat gezeigt, wofür sie steht,
Caren Miosga nur, wofür sie bezahlt wird.