Ausgerechnet 1984 – Grönemeyer: „Männer“

Wer mag, darf diesen Aufsatz gerne auch als Satire auffassen.

Es war der 11. Mai  im Jahre des George Orwell, als Herbert Grönemeyer, bis dahin eher bekannt aus seiner Rolle als der Kriegsberichterstatter Leutnant Werner im U-Boot-Epos des Lothar Günther Buchheim, weit in die Zukunft vorausgriff und sich und sein Publikum  vor die Frage stellte: „Wann ist ein Mann ein Mann?“, und damit den Durchbruch seiner Karriere als, nun ja, „Sänger“ schaffte.

Vierzig Jahre später ist die Antwort endlich gerichtsfest gefunden.

Es gibt keine äußerlich erkennbaren Merkmale.  Starke Muskeln (Grönemeyer: Männer sind unheimlich stark), Bartwuchs, tiefe Stimme: Alles  Kokolores, sagt nichts über das Geschlecht aus. Ein Mann ist dann ein Mann, und nur dann, wenn er sich selbst als Mann identifiziert und als solcher „gelesen“ werden will.

Wer sich nicht als Mann identifiziert und nicht als Mann gelesen werden will, ist keiner. Da kann ein noch so prächtiges Gemächt zwischen den Beinen baumeln, da kann das Testosteron die Schwellkörper noch so hart anschwellen lassen – dass ändert an der Nichtmännlichkeit nichts, und anderes zu behaupten ist ein schwerer und strafbarer Verstoß gegen die unantastbare Würde.

Es hilft auch nichts, darüber zu klagen, welch unbarmherzigem Bedeutungswandel die „Würde“ dabei unterzogen wurde. Es gilt: Neusprech ist Wahrheit. Krieg ist Frieden. Unwissenheit ist Stärke. Peinlichkeit ist Würde. Freiheit ist Sklaverei.

Natürlich ist das alles nicht schlimm. Es ist Gesetz, und Gesetze – das ist in demokratischen Gesellschaften so geregelt – entsprechen dem mehrheitlichen Willen des Volkes. Schließlich haben wir, das Volk, uns schon viele wunderbare Gesetze gegeben. Dass über manche davon nicht alle darunter zu leben Habenden auch glücklich sind, lässt sich nicht ändern. Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst die niemand kann.

Nur manchmal lässt sich einfach nicht mehr herausfinden, wo denn diese demokratische Mehrheit hergekommen sein soll, wer ihr denn wohl alles angehören mag, wenn die Anzahl der vom Selbstbestimmungsgesetz ausgelösten Änderungen der Geschlechtseintragung ehemaliger Männer in nunmalige Frauen oder Diverse und ehemaligen Frauen in nunmalige Männer oder Diverse, gemessen an den Wahlberechtigten ungefähr bei 0,002 Prozent liegt.

20 von einer Million.

Da habe ich mich gefragt, wie es kommen mag, dass 20 gegenüber 999.980 in diesem unseren Lande in der Mehrheit sein können. Vielleicht ist damals etwas schiefgegangen, als man begonnen hat,  Erstklässler mit der Mengenlehre zu traktieren. Wer weiß.

Beim ernsthafteren Nachdenken bin ich dann darauf gekommen, dass uns mit dem Grundgesetz die Parlamentarische Demokratie verordnet wurde, in der genau 598 Abgeordnete (2 pro Wahlkreis) das ganze deutsche Volk repräsentieren sollen. Dass es deutlich mehr geworden sind, mag übrigens auch auf die Mengenlehre zurückzuführen sein.

Wenn man das jetzt wiederum ins Verhältnis setzt, dann kommt heraus, dass auf die 0,002 Prozent der Geschlechtswandler in der Bevölkerung rechnerisch 0,012 real existierende Bundestagsabgeordnete, bzw. ungefähr 1200 bis 1300 Gramm Lebendgewicht entfallen, die deren Interessen vertreten. Das könnte natürlich genau das Hirn eines Abgeordneten sein, und weil mit anderen Körperteilen weniger gedacht und argumentiert wird, hätten wir das Verhältnis schon deutlich auf 1 von 598 verbessert. Von Mehrheit kann aber noch immer keine Rede sein.

Beim noch intensiveren Nachdenken bin ich darauf gekommen, dass es solche und solche Bundestagsabgeordneten gibt. Da gibt es eine riesige Bandbreite, die vom äußersten Hinterbänkler bis zum Fraktionsvorsitzenden reicht, und so ein Fraktionsvorsitzender, der zufällig der Meinung ist, dass so ein Selbstbestimmungsgesetz, wie wir es jetzt bekommen haben, genau das Richtige ist, für Deutschland, der hat ja nicht nur diese 0,012 Stimmen, der hat auch nicht nur seine eigene 1250-Gramm-Stimme, der kann gleich alle Stimmen seiner ganzen Fraktion erzwingen. Deswegen nennt man das „Fraktionszwang“.

Freudig, die Lösung gefunden zu haben, habe ich mir die Sache näher betrachtet und bin zu meinem Leidwesen zu der Erkenntnis gekommen, dass es im real existierenden Bundestag keine einzige Fraktion gibt, die für sich alleine eine Mehrheit hätte, mit der ein solches Gesetz verabschiedet werden könnte.

Aber meine Verwunderung währte nicht lange.

Heureka! Die bilden doch Koalitionen!

Im Zuge der Bildung so einer Koalition sagen alle erst einmal, was sie gerne hätten. Das nennen sie „sondieren“. Dann stellen sie fest, dass nicht alles, was alle wollen, auch gemacht werden kann. Da wo es klare Widersprüche gibt, also wenn zum Beispiel eine Fraktion die Renten kürzen will, während eine andere die Renten erhöhen will, da sucht man einen Kompromiss. Natürlich nicht so, dass man sich einfach in der Mitte trifft und die Renten so lässt, wie sie sind, sondern anders, weil es zum Rüstzeug der Abgeordneten gehört, zu wissen, dass die einfachen Lösungen einfach nicht funktionieren. Stattdessen wird gehandelt, um Zugeständnisse und Kompensationen gerungen, wobei keine Position jemals vollständig aufgegeben werden darf, weil man die selbe Karte schließlich immer wieder ausspielen kann. Das geht zum Beispiel so, dass die einen anbieten: „Also wenn ihr bei unserer Rentenerhöhung mitmacht, dann unterstützen wir euch bei eurem Selbstbestimmungsgesetz.“

(Da kann man leicht zustimmen, weil so ein Selbstbestimmungsgesetz ja praktisch nichts kostet.)

Nun sagen die mit dem Selbstbestimmungsgesetz: „O.k., einverstanden, aber es werden nicht alle Renten erhöht, sondern nur die unter 800 Euro Zahlbetrag. Sonst wird das zu teuer.“

Da sagen die anderen: „Dann gibt es den Geschlechtswechsel aber nur alle fünf Jahre. Sonst gibt das das größte Durcheinander.“

„Nee, nee, nee“, sagt die Geschlechtswandlerfraktion, „jährlich. Jährlich ist sowieso schon viel zu knapp. Das wird nichts. Nicht mit uns!“

Da merken die Rentenerhöher, dass sie ein Stück zu weit gegangen sind und fragen: „Wie wäre es denn mit jährlichem Geschlechtswechsel und der Erhöhung aller Renten unter 1000 Euro um fünf Prozent?“

Das war vielleicht noch nicht das Ende dieser beispielhaften Verhandlung, aber irgendwie wird man sich schon einig, und dann steht eben irgendwo im Koalitonsvertrag der Passus, der besagt, dass eine Mehrheit der nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus Gewissensgründen dem Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes des Fraktionsvorsitzenden einer Fraktion ohne eigene Mehrheit im Bundestag zustimmen wird.

Wieder ein Rätsel gelöst.

Und, einmal ganz ehrlich, es ist doch ein wunderbarer Kompromiss! Ein Deal, der eben nicht nur rund 2.000 Geschlechtswandlern einen Vorteil verschafft, sondern auch Millionen von Rentnern. Da stimmen die Mehrheitsverhältnisse auf einmal wieder!

Und, ganz erlich: Wer nimmt wohl nicht gerne ein paar Euro Rente mehr, wenn er dafür nur drauf aufpassen muss, dass er bloß niemals jemanden mit einem ehemaligen Vornamen oder Pronomen anspricht. Die meisten von uns werden einer solchen Risiko-Person doch niemals im ganzen Leben begegnen.

20 von einer Million!

Wer kommt im Leben schon dazu, 50.000 Leute anzusprechen, unter denen vielleicht ein Exemplar zu finden ist, das beschlossen hat, anders zu sein als zu scheinen? Da wird das Risiko im Falle des Misgenderns 10.000 Euro Strafe zahlen zu müssen, doch so verschwindend gering, dass die Assekuranzbranche einen preiswerten Versicherungstarif zur Absicherung im Schadensfall anbieten könnte, wenn das denn zweifelsfrei erlaubt wäre (explizit verboten ist es nicht).

Wer trotzdem darauf herumhackt, Menschen nach äußerlichen Merkmalen oder Chromosomensätzen in Männer und Frauen einzuteilen, wie der ansonsten von mir sehr geschätzte Julian Reichelt, der übt sich doch nur in sinnloser Prinzipienreiterei in einer Epoche, in der Prinzipien nicht nur selten geworden sind, sondern darüberhaus auch keinen sittlich-moralischen Wert mehr verkörpern. Da habe ich kein Mitleid, dass das Landgericht Frankfurt da jetzt strengere Seiten aufgezogen hat.

Stellen Sie sich vor, Reichelt hätte Recht bekommen!

Was wäre denn dann mit unseren Renten?!