
Die Geschichte könnte von Münchhausen stammen, auch von Karl May, oder gleich eine Erzählung über die Schildbürger sein. Aber so etwas steht als Nachricht in der Zeitung, und auch die Tagesschau berichtet ordnungs- und wahrheitsgemäß, so dass es wohl so gewesen sein muss.
Die Geschichte spricht allem Hohn, was uns vor allem mittels billig erworbener US-Krimis jahrzehntelang im Kino und vor allem im Fernsehen eingetrichtert wurde, dass man nämlich gut und gerne jemanden ermorden und dabei immer noch Hoffnung auf ein faires Verfahren haben kann, aber nie und nimmer einen Polizisten angreifen sollte, weil der Rechtsstaat, und hier vor allem die Kollegen des Geschädigten, schon zur Abschreckung und zum eigenen künftigen Selbstschutz, in solchen Fällen die Samthandschuhe ausziehen.
Da war ja gerade während einer Demonstration wegen irgendwas in Nahost ein Polizist von der Menge fast totgetrampelt worden.
Der Tagesspiegel notiert dazu:
„Dabei ist er gezielt angegriffen und zu Boden gebracht worden. Dann wurde auf ihn eingetreten“, sagte Polizeisprecher Florian Nath. Der Mob sei dann auf ihn draufgesprungen. Andere Beamte retteten ihren Kollegen und mussten dafür massive Gewalt einsetzen. Am Rande der Demo brach der Polizist ohnmächtig zusammen. Nun, der Polizist lebt noch, und die weiteren zehn verletzten Beamten werden früher oder später auch wieder dienstfähig sein. Immerhin ist es zu 56 Festnahmen gekommen. 54 Verdächtige gelangten gleich darauf wieder auf freien Fuß, zwei wurden in Unterbindungsgewahrsam genommen, damit sie bei der nächsten Demo nicht gleich wieder mitmischen können. Aber niemand ist in Untersuchungshaft. Zu untersuchen gibt es wohl nichts, denn so, wie dies von den Medien (eben nicht) beschrieben wird, hat man niemanden gefasst, den man für die schwere Körperverletzung anklagen könnte. |
Am nächsten Tag begab es sich, dass ein höchstwahrscheinlich aktenkundig unbescholtener junger Mann von 28 Jahren voller Zutrauen zum Rechtsstaat und zur Polizei eine Polizeiwache aufsuchte, um eine Anzeige aufzugeben.
Sein Zutrauen zum Rechtsstaat und zur Polizei wurde anscheinend dadurch schwer erschüttert, dass man ihn bitten mussten, sich einen Augenblick zu gedulden. Wir alle wissen vom Personal der Notaufnahmen unserer Krankenhäuser, dass es immer öfter gar keinen guten Eindruck macht, wenn man Menschen, die voller Vertrauen auf Hilfe erscheinen, sagt, sie müssten sich einen Augenblick gedulden. Das hätten die Polizisten dieser Wache auch wissen können und sich des Anliegens dieses Mannes sofort und mit besonderem Eifer annehmen sollen.
Haben sie aber nicht, und das war der ausschlaggebende Fehler, wie sich im Fortgang der Ereignisse noch zeigen wird.
Es spricht für die gute Erziehung und einen gewissen Integrationserfolg, dass der Mann seiner Enttäuschung nicht unmittelbar in der Polizeiwache Luft machte, sondern den Ort seiner Schmach verlassen hat, um dann draußen auf der Straße, eines abgestellten Polizeiautos ansichtig, damit zu beginnen, die strafrechtlich doch wirklich längst völlig irrelevante Gewalt gegen Sachen, konkret: gegen das Polizeiauto, auszuüben. Er hat es ja noch nicht einmal angezündet …!
Man hätte ihn gewähren lassen können. Mehr als ein paar zerstochene Reifen und ein abgebrochene Spiegel war da kaum zu erwarten, und dann wäre er – abgeregt und völlig relaxed – wieder in der Wache erschienen, um sein Anliegen erneut vorzutragen.
Haben sie aber nicht, und das war der zweite massive Fehler der Polizisten, wie sich im Fortgang noch erweisen wird.
Ein Polizist ohne Furcht und Tadel trat – ob aus Eigeninitiative oder auf Befehl, ist nicht bekannt – hinaus auf die Straße und forderte den Mann auf, doch vom Polizeiauto abzulassen. Vielleicht ein bisschen zu gebieterisch, vielleicht auch nur den Handlungsdrang des Mannes empfindlich störend, und lag dann urplötzlich stark blutend mit einer Stichwunde im Hals auf der Straße.
Die Kollegen eilten zu Hilfe, ein Krankenwagen konnte ungehindert eintreffen und auch wieder wegfahren, denn es handelte sich eben hier nicht um eine Gruppe, sondern um einen Mann, der noch dazu von den Kollegen ohne große Gegenwehr festgenommen werden konnte. Der lebensgefährlich verletzte Polizist konnte per Notoperation gerettet werden und befindet sich nicht mehr in Lebensgefahr.
Der Mann hingegen wurde bald darauf auf freien Fuß gesetzt.
Ordnungsgemäß, per entsprechender Weisung der Staatsanwaltschaft. Er habe den Polizisten schließlich „ungezielt“ getroffen, weshalb keine Mordabsicht bestanden haben könne.
Wer ungezielt den Hals eines Polizeibeamten trifft, hätte, ebenso ungezielt, das Herz, den Bauch oder eine Beinschlagader treffen können. Gezielt wäre es etwas anderes, aber wenn er sagt, dass er nicht gezielt hat …
Der Polizist hat überlebt. Der Mann ist ungefährlich und darf freigelassen werden. Ob er noch zu finden sein wird, falls vielleicht doch noch Anklage erhoben werden sollte? Nun, wer ungezielt zusticht, dürfte auch sonst nicht der Hellste sein. Die Polizei hat bestimmt seine Handy-Nummer notiert. Der findet sich schon wieder.
Es erhebt sich für den naiven Simplicius Simplicissimus die spannende Frage, was die Staatsanwaltschaft bewogen haben könnte, den Mann auf freien Fuß zu setzen. Man kommt da wohl nicht darum herum, zwei und zwei zusammen zu zählen.
Nun, ich kenne den Staatswalt nicht und habe nicht die geringste Ahnung, von welchen Grundsätzen er sich hat leiten lassen. Vom Ergebnis her gedacht, könnte ich mir aber vorstellen, dass das ungefähr so gelaufen sein könnte:
Beim Staatsanwalt muss es ich um einen unbescholtenen Mann mit einem lupenreinen Führungszeugnis gehandelt haben, dessen ihm wesenseigene und beamtenrechtlich lobenswerte Staatstreue ihn noch viele Stufen der Karriereleiter hinauf führen würde. Vielleicht bis an eines unserer höchsten Gerichte.
Selbstverständlich hat dieser zutiefst loyale Staatsdiener sich stets auf dem Laufenden gehalten über alles, was geeignet wäre, sein Fortkommen zu behindern. Folglich war ihm auch das Gutachten des Verfassungsschutzes mit den umfassenden lehrreichen Aussagen über die Indizien und Erkennungszeichen einer gesichert rechtsextremistischen Bestrebung, bzw. Gesinnung, respektive Alternative bekannt. Eine Vielzahl von Beispielen für Worte und Parolen, die eindeutig rechtsextremistisch konnotiert sind, muss ihm noch frisch im Gedächtnis gewesen sein. „Messermann“ darf man nicht verwenden, fiel es ihm sofort ein. „Messerstecher“ geht schon gar nicht, „Messerverbotszone“ lächerlich zu finden, geht auch nicht. Selbst „Messer“ für sich, selbst wenn nur Brechts Moritat über Mackie Messer zitiert werden sollte, muss dies einen gesichert hammerharten und felsenfest begründeten Anfangsverdacht auslösen.
Es ist doch nur zu verständlich, dass es in dieser Angelegenheit der dritte schwere Fehler gewesen wäre, hätte der Staatsanwalt Untersuchungshaft gegen einen „Messerstecher“ verhängt. Auch: „Der Mann stach mit einem Messer auf den Polizisten ein“, muss unserem Staatsanwalt schon als sehr gefährlich erschienen sein. Er mag sich lange Minuten qualvoll an seinem Schreibtisch gewunden und die Tatsache verflucht haben, dass es ausgerechnet „ein Mann“ war, der bei ihm auf dem Tisch gelandet war. Hätte es nicht irgendein Hans-Otto aus Chemnitz gewesen sein können? Und ausgerechnet mit einem Messer. Hätte es nicht ein Baseballschläger auch getan? Dann wäre die Sache klar gewesen. Versuchter Mord, kein Zweifel, niedrige Motive. Haftrichter, U-Haft, Strafprozess, 15 Jahre, und ein fetter Pluspunkt in der Akte des Staatsanwalts.
So aber saß der Staatsanwalt in der Falle. Wollte er den Mann wegen seiner Tat dem Haftrichter zuführen, und würde der Haftrichter lesen, er, der Staatsanwalt, habe sich in seiner Anklage mit den Begriffen „Messer“ und „gestochen“ gesichert rechtsextremistischer Vokabeln bedient, wäre es das gewesen mit seiner Karriere. Würde er ihm aber den Haftrichter zuführen, ohne die Tat des Mannes einigermaßen klar zu beschreiben – so zum Beispiel: „Hat irgendwie was mit einem Auto und einem Polizisten gemacht, was dann nicht ganz so gut war …“ – dann wäre es dies ebenfalls gewesen, mit seiner Karriere.
Es war also das einzig Richtige, alle diese Klippen zu umschiffen und den Mann laufen zu lassen. Es fällt kein Schatten eines Verdachts auf die weiße Weste des Staatsanwalts, wie auch der Rechtsstaat ohne Schaden zu nehmen aus der Angelegenheit hervorgeht, weil er sich gar nicht erst hat hineinziehen lassen. Und, außerdem: So ein ungezielter Stich, das hätte schließlich jedem passieren können.
Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.