
Es ist gar nicht abzustreiten:
Wer über Atomwaffen verfügt und die notwendigen Trägersysteme dazu, treibt den Preis für einen potentiellen Feind in die Höhe. Als Beleg dafür mag dienen, dass bisher weltweit und seit Beginn der Aufzeichnungen überhaupt nur zwei Atombomben explodieren durften.
Die Idee, sich aus Atombomben einen Schutzschirm basteln zu können, der, zum Beispiel über Frankreich aufgespannt, sämtliche russischen Angriffe abprallen ließe wie Tischtennisbälle von der Tischtennisplatte, entstammt falschen Prämissen und einem darauf aufsetzenden logischen Fehlschluss.
Es wird ein Bild gezeichnet, das an eine Waffentechnik erinnert, wie sie seit der Antike und bis ins hohe Mittelalter genutzt wurde, wo es auf der einen Seite die Gefahr durch Speer, Pfeil und Schwert gab, während auf der anderen Seite der völlig ungefährliche Schild die Gefahren auf sich ziehen und abwenden sollte.
Ein Heer, das ausschließlich mit Schilden bewaffnet in den Kampf hätte ziehen wollen, wäre besser gleich zuhause geblieben.
Damit dürfte die Magie, die mit der Bezeichnung „Schild“ verbunden wird, in Bezug auf Atomwaffen ihren Zauber verloren haben.
Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen,
schreckliche Massenvernichtungswaffen.
Sie dienen seit dem 9. August 1945 ausschließlich der Abschreckung. Dennoch ist seit dem Abwurf der Atombombe über Nagasaki kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht irgendwo Krieg auf dieser Welt gegeben hat. Nur eine kleine Auswahl:
Obwohl zweifelfsfrei feststand, dass die USA über Atombomben verfügen, haben Nordkorea und China von 1950 bis 1953 gegen die USA und Südkorea Krieg geführt, obwohl bald darauf zweifelsfrei feststand, dass die Sowjetunion über Atomwaffen verfügt, gab es von 1979 bis 1989 zehn Jahre Krieg zwischen den Sowjets und den afghanischen Mudschaheddin, danach wurde aus Rider Twix, aus den Mudschaheddin wurden die Taliban und die kämpften von 2001 bis 2021 gegen die Atommacht USA und deren Verbündete. Es sieht nicht einmal so aus, dass die Atomwaffenarsenale der großen Player auf der Weltbühne nicht nur den Ausbruch der Kampfhandlungen nicht verhindern konnten, sondern auch so, dass Atomwaffen nicht geeignet waren, die Atommächte zum Sieg zu führen.
Auch in der Ukraine sind es nicht die Atomwaffen Russlands, die sich als kriegsentscheidend erweisen. Auch das ist ein Krieg, der mit so genannten konventionellen Waffen geführt und letztlich auch entschieden und beendet werden wird.
Da stellt sich doch die Frage, ob überhaupt ein einziger Krieg, der seit 1945 geführt wurde, anders verlaufen wäre, wenn es keine Atomwaffen gegeben hätte. Ich neige dazu, zu sagen: Nein. Die Existenz von Atomwaffen hat für die Kriege der letzten 80 Jahre allem Anschein nach keine Rolle gespielt.
Das ist natürlich keine Garantie dafür, dass dies für alle Zeiten so bleiben wird, doch bevor wir hier auf die Wahrscheinlichkeiten eingehen, soll noch das Verhalten der Atommächte untereinander betrachtet werden.
Die haben sich nämlich gehütet, überhaupt direkt gegeneinander anzutreten. Die beiden atomaren Großmächte wären zwar seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Lage gewesen, ihre Länder vollständig in Schutt und Asche zu legen, und haben das nicht getan, obwohl es zwischenzeitlich Zeitfenster gab, in denen die Strategen überzeugt waren, einen Atomkrieg gegen die andere Supermacht gewinnen zu können, also unbeschädigt oder nur mit geringen Schäden daraus hervorzugehen. Hier muss davon ausgegangen werden, dass letztlich beide Seiten für sich zu dem Schluss gekommen sein müssen, dass es – selbst wenn es risikolos möglich wäre – keinen Vorteil bringen würde, weite Teile der Erdoberfläche – jeweils weit vom eigenen Territorium entfernt – zu verwüsten und die dort lebenden Menschen auszulöschen.
Wie groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass Russland versuchen könnte, Westeuropa mit Atomwaffen anzugreifen, die dicht besiedelten Gebiete zu verwüsten und die dort lebenden Menschen auszulöschen? Die Wahrscheinlichkeit dafür ist primär abhängig vom Nutzen, den sich jemand davon verspricht. Tendiert der mögliche Nutzen gegen null, tendiert auch die Wahrscheinlichkeit für ein solches Manöver gegen null. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass der Nutzen aus einem Sieg in einem mit konventionellen Waffen geführten Krieg weitaus höher anzusetzen ist. Das Gebiet bleibt im Wesentlichen nutzbar, es bleiben nutzbare Teile der Infrastruktur und der Wirtschaft, und es bleibt eine aus-„nutzbare“ Bevölkerung.
Erst bei einem kalkulierbaren Nutzen wird das Risiko eines Angriffs entscheidungsrelevant. Die Entwicklung des Ukraine-Krieges beweist, dass das Risiko eines rein konventionell geführten Krieges sehr hoch ist und der angestrebte Nutzen vermutlich nicht im vollen Umfang erreicht werden kann. Russland dürfte etwa 500.000 Soldaten als Gefallene und Verwundete verloren haben, dazu an die 10.000 Panzer, 20.000 andere (gepanzerte) Fahrzeuge, einige hundert Flugzeuge, auch einige Schiffe der Schwarzmeerflotte. Dazu unzählige Geschütze, Unmengen an Munition, und, und, und …
Ob die besetzten Gebiete bei Russland bleiben, ob die Ukraine nicht doch noch in die NATO oder in eine EU-Verteidigungsorganisation aufgenommen wird, ob der Versuch, die ukrainische Führung auch nur im Ansatz zu entnazifizieren gelingen wird – alles erklärte Kriegsziele Russlands – steht nach wie vor in den Sternen und wird letztlich in Verhandlungen mit den USA entschieden werden.
Die vielfach vorgetragene Behauptung, Russland würde nicht aufhören, sondern als nächstes im Baltikum und in Polen einmarschieren, zeugt eher von blühender Fantasie, denn von Sachkenntnis und Realismus. Das mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Risko hoher Verluste an Menschen und Material, dass sich mit jedem Kilometer, den ein Angriff weiter nach Westen vorgetragen würde, nur vergrößert, übersteigt den zu erwartenden Nutzen bei Weitem. Es ist sinnvoller, vollkommen risikolos gemeinsam mit den Chinesen Eisenbahnen quer durch Asien zu bauen und den Handel auszuweiten als die im Niedergang befindlichen, westeuropäischen Staaten erobern zu wollen.
Was soll also der EU-Atomschirm?
Um diese Frage zu beanworten, ist es notwendig, sich auch außerhalb des eurasischen Kontinents umzusehen und die verschärften Spannungen zwischen USA und China ins Gesichtsfeld zu nehmen. Da droht man sich inzwischen gegenseitig mit Krieg, und zwar über den Handels- und Zollkrieg hinausgehend.
Die chinesische Botschaft in Washington erklärte auf X: „Wenn die USA Krieg wollen, sei es ein Zollkrieg, ein Handelskrieg oder irgendeine andere Art von Krieg, sind wir bereit, bis zum Ende zu kämpfen.“
Der neue US-Verteidigungsminister sagte bei Fox-News, die USA seien bereit, gegen China in den Krieg zu ziehen.
Diesen aktuellen Statements liegt aber auch die Einstellung der USA zugrunde, wegen eines möglichen Kriegs mit China und der notwendigen Vorbereitungen darauf, die Auseinandersetzung mit Russland den Europäern zu überlassen. Wahrscheinlich mit dem Hintergedanken, je intensiver die Europäer Russland „beschäftigen“, desto weniger Unterstützung können die Chinesen von Russland erwarten.
Russland hat seine Atomwaffendoktrin Ende letzten Jahres fortgeschrieben. Jetzt heißt es dort:
Russland behält sich das Recht vor, mit Nuklearwaffen auf die Aggression eines Staates zu reagieren, selbst wenn dieser keine eigenen Atomwaffen besitzt, aber von einer Atommacht unterstützt wird. In einem solchen Fall wird selbst ein konventioneller Angriff auf Russland als gemeinsamer Schlag betrachtet und könne ggfs. atomar beantwortet werden.
Sollten also EU-NATO-Staaten – noch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg oder unabhängig davon – aggressiv gegen Russland vorgehen, wird auch den Letten, Esten, Litauern und Polen ein abschreckendes Signal gesetzt, da sie ja – selbst wenn die USA die NATO verlassen sollten – immer noch mit der Atommacht Frankreich, eventuell auch mit den Briten, verbündet sind.
Nun verfügen die Franzosen nach allgemeiner Annahme über knapp dreihundert Atomwaffen. Wer es genauer wissen will, und auch, mit welchen Trägersystemen welcher Reichweiten die Franzosen arbeiten, kann das hier bei Wikipedia nachlesen.
Festzuhalten bleibt zunächst, dass sich die Force de frappe sowohl quantitativ als auch qualitativ neben dem russischen Arsenal recht bescheiden ausnimmt. Dies wäre nicht weiter schlimm, stünde nicht eine ganz andere Frage im Raum: „Wie viele der französichen Atomsprenköpfe mögen wohl tatsächlich einsatzbereit sein?“
Atomwaffen altern bei der Lagerung, nicht nur das spaltbare Material muss hin und wieder ausgetauscht werden. Auch Kunststoffe zerbröseln und was der Malaisen mehr sind. Wie die Amerikanier mit dem Problem umgehen, ist hier nachzulesen. Ob die Franzosen in der Vergangenheit Geld, Zeit und Lust hatten, der Zerfall zu heilen, steht in den Sternen.
Womöglich wären auch sie gezwungen, wie die Amerikaner, ganz neue, länger haltbare Systeme zu entwickeln und in Stellung zu bringen, wollten sie die Abschreckung gegenüber Russland aufrechterhalten.
Das kostet jedoch Geld, das Macron nicht hat, bzw. nicht beschaffen will.
Was also liegt näher als die Deutschen zu bitten, die Rechnung zu bezahlen und dafür mit unter den Schutzschirm schlüpfen zu dürfen und vielleicht sogar einen Platz am Roten Knopf zu bekommen. Wer noch mag, ist gerne eingeladen. Ungarn und Tschechien nur mit Vorbehalt.
Auf die EU-innenpolitischen Wirkungen einer solchen Strategie will ich an dieser Stelle nicht eingehen. Der Artikel ist sowieso schon viel länger geworden als beabsichtigt.
Nur noch dies:
Atomwaffen sind Weltuntergangswaffen.
Ihr Einsatz im Erstschlag zieht erbarmungslos die Vergeltung im Zweitschlag nach sich. Zudem stehen sie als letztes, quasi suizidales Vergeltungsmittel in einem Konflikt zur Verfügung, wenn die Existenz des Staates nicht mehr gewährleistet ist und der Aggressor mit in den Tod gerissen werden soll.
Die EU braucht keine Atomwaffen.
Außer, sie will einen Atomkrieg riskieren.
Ein erster Schritt auf einem guten Weg zu dieser Einsicht bestünde darin, erst einmal alle ungedienten Verteidigungspolitiker auf andere Positionen zu verfrachten.